Estland: Weniger Steuern, weniger Russisch
Bei den Wahlen gewannen die Konservativ-Liberalen und Rechten
Ganz entgegen den Prognosen konnte sich die "Reformpartei" (Eesti Reformierakond) mit rund 29 Prozent als stärkste Kraft durchsetzen. Die 41-jährige Kaja Kallas, die Chefin der konservativ-liberalen Partei, hatte zudem als Kandidatin das mit Abstand beste Ergebnis eingefahren. Die Mitte-Links-Partei "Zentrum" (Keskerakond) und ewige Konkurrentin der Reformpartei, wurde unter Premierminister Jüri Ratas mit 22 Prozent abgestraft und gilt als Verlierer der Wahl. Sie führte progressive Steuern ein und vertritt moderat die Rechte der Russischstämmigen, welche mehr als ein Viertel der Bevölkerung ausmachen, die jedoch nicht alle wahlberechtigt sind.
Die Reformpartei setzt auf Investitionen in den Bildungssektor, Digitalisierung, niedrige Steuern und eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit estnischer Firmen im Ausland und ein aggressiveres Durchsetzen der estnischen Sprache, auch in der Schulpolitik. In einer Analyse des estnischen staatlichen Fernsehens gewann die Reformpartei durch bessere Kampagnen, in denen sie erfolgreich vor einem wirtschaftlichen Abschwung warnten und die "russische Karte" in der Schulpolitik spielten, wo es Streit um bilinguale Schulen gab. Dort wurde in russischsprachigen Gebieten die Kompetenz von Lehrern für die estnische Sprache durch eine Inspektion kurz vor der Wahl bemängelt.
Kallas, Tochter des weiterhin einflussreichen Partei-Urgesteins Siim Kallas, erklärte zwar am Montag, auch mit der Zentrumspartei über eine Zusammenarbeit verhandeln zu wollen. Doch vermutlich wird sie mit den bisherigen Koalitionspartnern des Zentrums, den Sozialdemokraten und der konservativen Partei "Vaterland" eine Regierung bilden. Die Juristin hatte kurz vor der Wahl Ratas vorgeworfen, keine Entscheidung zu treffen, keine Kompetenzen zu haben und keine Fragen zu beantworten.
Ratas kam erst 2016 nach einem Misstrauensvotum gegen den damaligen Premierminister der Reformpartei Taavi Rooivas an die Macht (Politische Wende im Baltikum).
Dem Vierzigjährigen, der nach eigenen Angaben nur rudimentär russisch spricht, ist es wohl nicht gelungen, die Russischstämmigen ebenso wie die estnischen Wähler zu überzeugen. Erstere verschreckte Ratas mit der Verurteilung der Krim-Annexion sowie der deutlichen Befürwortung der NATO-Mitgliedschaft. Für die estnischen Wähler galten interne Korruptionsskandale in Narva, wo sich eine Gruppe von der Partei abspaltete, und die Affäre um die Wäsche von russischen Geldern durch Danske Bank und die Swedbank sowie die mangelhafte Bankenaufsicht als ein Minus für die Zentrumspartei.
Rechtspopulistische Partei im Aufwind
Als Gegenpol zur Profillosigkeit des Zentrums erwies sich die drittstärkste Kraft, die Estnische Konservative Volkspartei (EKRE). Die Partei, die unter dem 69-jährigen Historiker und ehemaligen Diplomaten Mart Helme 17 Prozent erhielt, wird von dem Politologen Tonis Saarts mit der deutschen AfD und der Front National in Frankreich verglichen. Die Reformpartei hat im Vorfeld eine Koalition mit den Populisten grundlegend abgelehnt, jedoch erst nach einem internen Streit.
In der Außenwahrnehmung gilt Estland als Musterland der östlichen EU-Mitglieder, als Start-up-Paradies, das bei seiner EU-Ratspräsidentschaft 2017 den anderen Ländern Beine in Sachen Digitalisierung machte. In dem Land mit gerade mal 1,3 Millionen Einwohnern wurde Skype kreiert, das Wachstum des Bruttoinlandsprodukts lag 2018 bei 4,2 Prozent, die Arbeitslosigkeit liegt aktuell bei 4,4 Prozent.
Doch einem Teil der Bevölkerung scheint die Entwicklung zu schnell zu gehen oder sie nimmt nicht alle mit. Der "Aufschwung auf dem Land ist leeres Gerede", meint der 69-jährige Populistenchef. Helmes Partei beklagt "undemokratische Zentralisierung der Staatsführung, Monopolisierung der Medien, selbsternannte Amtsdemokratie, korrupte Kartellpolitik, Rezession". Die Partei wendet sich zudem gegen die Aufnahme von Migranten, die gleichgeschlechtliche Partnerschaft und gegen zuviel Einfluss aus Brüssel.
Als Grund für den Zuwachs der Rechten gilt auch, dass der passionierte Kremlkritiker die Partei nun auch für die große Minderheit im Land geöffnet hat. Helme wirkte lange als passionierter Kreml-Kritiker und vertrat sein Land auch als Botschafter in Moskau. Kallas, deren Reformpartei traditionell gegenüber der russischen Minderheit eine harte Linie fährt, muss nun zudem mit den selbsbewussteren Unzufriedenen der Populistenpartei zurecht kommen, die bereits vor einer Woche mit einem Fackelmarsch in der Hauptstadt ihre Macht demonstrierten.