Etappensieg für Berlin
Im Streit um sogenannte Corona-Bonds konnte sich das nördliche Zentrum gegen die südliche Peripherie der Eurozone durchsetzen - vorerst
Am Donnerstagabend konnte sich Europas Politelite doch noch auf einen Kompromiss in der Streitfrage einer europäischen Krisenpolitik einigen. Beim Tag zuvor kurzzeitig unterbrochenen Treffen der europäischen Finanzminister wurde gegen 22:30 die Einigung auf ein Paket von Krisenmaßnahmen verkündet, die insbesondere den von Pandemie und Wirtschaftseinbruch besonders hart getroffenen Ländern Südeuropas zugutekommen sollen.
Insgesamt sollen sich die vereinbarten Kredit- und Arbeitsmarktprogramme auf rund 500 Milliarden Euro summieren. Diese Krisenprogramme bestehen aus drei Komponenten: einem Kreditprogramm der Europäischen Investitionsbank für kleine und mittlere Unternehmen von rund 200 Milliarden Euro, Kreditlinien aus dem Euro-Rettungsschirm ESM, die sich auf rund 240 Milliarden belaufen sollen, sowie einem von der EU-Kommission angeregten Programm für Kurzarbeiter, das mit 100 Milliarden Euro ausgestattet wurde.
Die vor rund zwei Wochen von neun Eurostaaten unter Führung Frankreichs und der südeuropäischen Länder geforderten Corona-Bonds, eine Neuauflage der Eurobonds, werden in der Abschlusserklärung nicht mal mehr erwähnt. Die Forderung nach europäischen Anleihen, mit denen die Zinslast der südeuropäischen Eurosaaten abgesenkt würde, wird von Deutschland, den Niederlanden und Österreich vehement abgelehnt, da dies aufgrund eines für den Norden steigenden Zinsniveaus als "Vergemeinschaftung von Schulden" interpretiert wird. Diese Initiative zur Einführung von umbenannten Eurobonds war bei den Verhandlungen sehr früh vom Tisch.
Den wichtigsten Streitpunkt bildeten hingegen die Gelder des ESM, da insbesondere die Niederlande darauf beharrten, deren Kredite an strikte Reformauflagen - also an neoliberale Austeritätsmaßnahmen - zu koppeln. An eben dieser Forderung scheiterte das Treffen der Finanzminister am Mittwoch nach einem Verhandlungsmarathon von 16 Stunden vorübergehend. Die Videokonferenz musste ergebnislos abgebrochen werden.
Hiernach schalteten sich Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Macron direkt in die Verhandlungen ein, um in einem Dreiergespräch mit dem niederländischen Premier Mark Rutte einen Kompromiss zu erreichen. Die Kredite des ESM dürfen nun nur zur Bekämpfung der Folgen der Corona-Pandemie eingesetzt werden, wobei hierunter sowohl direkte wie indirekte Folgen subsumiert würden. Somit scheint den südlichen Eurosaaten der Weg offen, auch die ökonomischen Folgen der Pandemie mit den Mitteln des ESM zu bekämpfen.
Die Bundesrepublik scheint sich folglich mit ihrer Linie weitgehend durchgesetzt zu haben, die von Anfang an ernsthafte Stützungsmaßnahmen wie Eurobonds für den Süden verhindern wollte. Dennoch bleibt das Thema der Corona-Bonds auf der Tagesordnung der Eurozone. Paris konnte bei den Verhandlungen die Option eines Wiederaufbaufonds durchsetzen, mit dem der Währungsraum nach dem Ende der Pandemie ökonomisch stabilisiert werden soll. Hierzu könnten auch europäische Anleihen begeben werden.
Wirtschaftseinbruch in historische Dimensionen
Diese Frage soll bei künftigen Treffen - oder Videokonferenzen - der europäischen Funktionseliten weiter kontrovers diskutiert werden. Der Druck der südlichen Peripherie, gemeinsame Anleihen zu begeben, dürfte bei einer weiteren Vertiefung der Rezession ohnehin zunehmen. Nach Ansicht des IWF dürfe der kommende Wirtschaftseinbruch historische Dimensionen erreichen. Der Währungsfonds sieht die Weltwirtschaft vor einem ähnlichen Absturz wie in den 30er Jahre des 20. Jahrhunderts. Das Verhandlungsergebnis stellt somit nur einen Etappensieg Berlins dar - zumal der kommende Krisenschub die nationalen Differenzen und Spannungen in der Eurozone noch weiter verstärken wird.
Überdies sind diese europäischen Maßnahmen unterdimensioniert, um die von der Pandemie und dem Wirtschaftseinbruch besonders betroffenen Ländern ausreichend zu stabilisieren. Allein die Krisenmaßnahmen der Bundesrepublik sind höher als das gesamte europäische Rettungspaket.
Diese Lücke schließt bislang die EZB, die durch eine expansive Geldpolitik und Aufkaufprogramme für Anleihen die Zinsen in der Eurozone niedrig hält - und es so den südlichen Eurostaaten ermöglicht, entsprechende kreditfinanzierte Konjunkturprogramme aufzulegen. Spanien will etwa 200 Milliarden mobilisieren, um den wirtschaftlichen Fallout des jüngsten Krisenschubs wirksam begegnen zu können. In Italien wurde ein Konjunkturprogramm von 400 Milliarden angekündigt, das nur dank der Geldflut der EZB über niedrig verzinste Kredite finanziert werden kann.
Die europäische Krisenpolitik ist somit nur Ausdruck nationaler Machtpolitik, bei der die kapitalistischen Nationalstaaten bemüht sind, die beste Ausgangsposition für sich angesichts der Krisendynamik zu erkämpfen, wobei speziell das deutsche Zentrum bemüht ist, mit massiven Konjunkturstützen im Inland und einer konjunkturpolitischen Blockade auf europäischer Ebene den sozioökonomischen Abstand zum Rest der Eurozone zu vergrößern, der die Grundlage der Dominanz der Bundesrepublik im europäischen Währungsraum bildet.
Die EZB unter Lagarde versucht hingegen, mit ihrer expansiven Geldpolitik dem entgegenzuwirken. Inwiefern diese an die Eurokrise erinnernde Konstellation, bei der die deutsche Blockadehaltung bei Konjunkturmaßnahmen durch eine Geldflut der EZB konterkariert würde, sich tatsächlich in einem rasch erodierenden Europa wiederholen kann, wird nicht nur durch den konkreten Verlauf der kommenden Wirtschaftskrise bestimmt werden. In Karlsruhe steht bald die Entscheidung an, inwiefern das Vorgehen der EZB mit dem Grundgesetz vereinbar ist - das Urteil könnte eine Gelegenheit schaffen, diese Machtbalance innerhalb der Eurozone zu stören.