Europäer sollen biometrisch erfasst werden

EU-Kommission arbeitet an der Einführung biometrischer VISA und Reisepässe

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Antonio Vitorino muss sich dieser Tage in verschiedenen Aufgabenbereichen mit dem Thema Biometrie befassen. Der für Justiz und Inneres zuständige EU-Kommissar aus Portugal hat dabei ein Interessensgeflecht von verschiedensten nationalen, europäischen und internationalen Akteuren zu berücksichtigen. Vitorino und seinem Mitarbeiterstab wurden vom europäischen Rat aufgefordert, ein gemeinsames VISA-Informations-System (VIS) aus dem Boden zu stampfen, dessen Aufgabe es unter anderem sein soll, die mehrfache Erteilung von VISA an eine Person in verschiedenen europäischen Ländern, sogenanntes "VISA-Shopping" zu verunmöglichen. Die Funktionalität des VIS hängt maßgeblich von der Einführung biometrischer VISA ab, die die Verknüpfung und Abgleichbarkeit nationaler VISA-Datenbanken mit einer europäischen Datenbank ermöglichen sollen.

Eine unlängst abgeschlossene vertrauliche Machbarkeitsstudie der Kommission schlägt Fingerabdrücke als zu favorisierendes biometrisches Merkmal vor und spricht sich zudem optional für eine Verbindung des VIS mit dem neuen Schengener Informationssystem (SIS II) aus. Kostenpunkt des Systems je nach Ausrichtung 130 Mio bis 200 Mio Euro.

Unter Druck gesetzt wird Vitorino auch durch die Pläne der USA, die von den 29 Mitgliedsstaaten des VISA-Waiver-Programms, das derzeit für Europäer eine VISA-freie Einreise in die USA ermöglicht, bis Oktober 2004 die Einführung biometrischer Reisepässe einfordern, andernfalls solle die VISA-Pflicht wieder in Kraft treten. In den USA zweifeln zwar nach Angaben der Financial Times mittlerweile selbst hochrangige "Homeland-Security"-Beamte an der zeitplangemäßen Durchführbarkeit der Pläne, die drohende VISA-Pflicht für Reisende aus Europa ist aber nichts desto trotz bisher noch nicht gekippt worden. Welche biometrische Merkmale die USA in den EU-Reisepässen wünschen, ist bis dato auch noch nicht näher spezifiziert worden.

Vor Einführung biometrischer VISA und Reisedokumente in Europa oder anderswo gilt es, auf internationaler Ebene abzustimmen, welche biometrischen Merkmale in welcher Art und Weise Eingang in maschinenlesbare Dokumente finden sollen, da die Sicherheitsphilosophie biometrischer Reisedokumente maßgeblich mit der internationalen Les- und Austauschbarkeit der Daten verknüpft ist. In diesem Feld gibt es mehrere mehr oder weniger gut vernetzte Akteure, die sich um die internationale Standardisierung und Entscheidungsfindung bemühen.

Technischer Standard soll Weg für globale Lösungen frei machen

Zu nennen ist beispielsweise die UN-Behörde "International Civil Aviation Organization" (ICAO), die Anfang Juni einen neuen internationalen Standard für Reisedokumente abgesegnet hat, der vorrangig vor Fingerabdrücken die Integration von biometrischen Gesichtsmerkmalen in maschinenlesbare Dokumente vorsieht. Als Speichermedium werden "integrated circuit (IC) chips" vorgeschlagen. Damit sollen die 188 Mitgliedsstaaten der UN-Organisation bei der Einführung eines weltweiten, standardisierten Systems der Identitätsfeststellung unterstützt werden.

Der Beschluss der ICAO wird in das Dokument 9303 aufgenommen werden, das mit seinen technischen Vorgaben für viele Staaten bei der Planung neuer Ausweisdokumente eine Schlüsselrolle spielt. Der internationalen Einführung biometrischer Dokumente müssten allerdings von Seiten der ICAO noch nähere Spezifikationen hinsichtlich des Gesichtsbildes und der Chipkapazität vorausgehen.

G8-Staaten wollen sich als globale Trendsetter etablieren

Als neuer Akteur in Sachen Biometrie versuchen sich seit vergangenem Jahr nun auch die G8-Staaten zu etablieren. Anfang Mai durfte Vitorino an einem Treffen der G8-Innen- und Justizminister teilnehmen, die sich munter daran machten, weitergehende Pläne hinsichtlich der globalen Einführung biometrischer Reisedokumente zu diskutieren.

Vitorinos Herausforderung als Mann der Praxis ist es, unter Berücksichtigung eines begrenzten Zeit- und Geldbudgets und angesichts der nach wie vor hinsichtlich der technischen Möglichkeiten biometrischer Identifikationssysteme bestehenden Zweifel (vgl. Gesichtserkennung auf dem Prüfstand) die vielfältigen politischen Willensbekundungen mit der praktischen Durchführbarkeit in Einklang zu bringen. In diesen Politiksphären kann irgendwann selbst einem hartgesottenen EU-Kommissar der Geduldsfaden reißen. So soll sich Vitorino nach Informationen des industrienahen Biometric Advocacy Report auf besagtem Treffen in Paris darüber entrüstet haben, dass voreilige Entschließungen der G8 die bereits in Arbeit befindlichen Kommissionspläne bezüglich biometrischer VISA und Reisedokumente unterminieren würden und daher von ihnen abgesehen werden solle.

Auf dem Pariser G8-Treffen wurde die Einsetzung einer weiteren, hochkarätigen Arbeitsgruppe beschlossen, die sich mit beteiligten Akteuren und Institutionen eng koordinieren und binnen Jahresfrist einen gemeinsamen, quasi "globalen" Vorstoß in Sachen Biometrie erarbeiten soll und dabei die Rolle der ICAO als Schnittstelle bei der internationalen Standardisierung berücksichtigt:

We underlined that the issues relating to application of this new technology should lead us to work on developing a common framework and standards within the competent international bodies. In this spirit, the G8 contributed to the International Civil Aviation Organisation's (ICAO) work in the form of a Declaration.

Die Arbeitsergebnisse der G8- Innen- und Justizminister und der Wille zu einer globalen Abstimmung vor Einführung biometrischer Dokumente wurde von den G8-Regierungschefs auf dem eben zuende gegangenen Gipfel in Evian noch einmal bekräftigt.

EU-Kommission fordert umgehende Klärung offener Fragen

Vitorino macht unterdessen angesichts des knappen Zeitplanes Nägel mit Köpfen. Er empfiehlt dem Rat, die bisher für Ende 2007 geplante Einführung biometrischer EU-VISA vorzuziehen, anderenfalls könne das VIS nicht rechtzeitig verwirklicht werden. Weiterhin unterstreicht er in einem dem Europäischen Parlament und dem Rat am 3. Juni zugestelltem Kommisionspapier in Hinblick auf den bevorstehenden EU-Gipfel in Thessaloniki die Notwendigkeit der zügigen globalen Standardisierung und Entscheidungsfindung:

(...) the biometrics issue also has an impact on passports given the new US regulations requiring further security features for passports of nationals benefiting from the US visa waiver programme. The Commission will present proposals on harmonised security features including biometrics in EU passports that would not only support their acceptance vis-à-vis third countries but also facilitate their controls by the authorities and make them less vulnerable to fraud. The Commission therefore underlines the urgency of having definitive international standards in this field in order to facilitate stakeholders' decisions on ongoing projects that envisage biometric identifiers given also the large investments they may represent.

Bereits im Juli will die Kommission hinsichtlich der technischen und praktischen Spezifikation des anfangs erwähnten VIS und der EU-VISA laut Arbeits-Agenda eine konkretisierte Regelung präsentieren, die den Mitgliedsstaaten eine harmonisierte Anwendung biometrischer Identifikatoren ermöglichen soll, etwas später ist ein entsprechender Akt bezüglich biometrischer EU-Reisepässe angedacht. Somit könnten binnen Jahresfrist vollendete Tatsachen geschaffen und der Weg für die Praktiker in den Mitgliedsstaaten geräumt werden, die diese Entscheidungen umzusetzen haben.

Damit rückt auch der von Bundesinnenminister Otto Schily sehnlichst herbeigewünschte Termin näher, an dem die BRD ihre Pläne zur Einführung biometrischer Ausweisdokumente, deren rechtliche Grundlagen bereits Ende 2001 mit dem Anti-Terror-Paket geschaffen wurden, nach der Bestätigung der Kommissionspläne zeitnah aus den Schubladen ziehen könnte.