Facebook: Hohles Gericht

Seite 2: "The Voice" als Synonym für Meinungsfreiheit?

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Diese Stimme eines jeden Nutzers in ihrer Unverwechselbarkeit zu erhalten, schreibt Monika Bickert, heute Head of Global Policy Management, sei übergeordnetes Ziel von Facebooks neuem Wertesystem. Zum Schutze von Authentizität (im Sinne von Echtheit der User), Sicherheit, Privatsphäre und (Menschen-?)Würde, dürfe diese Stimme im Einzelfalle und nach Abwägung der betroffenen Güter eingeschränkt werden, heißt es. Und, diese Erwähnung ist eine Premiere: Man "schaue" ("we look to") bei dieser Entscheidungsfindung auf Völker- und menschenrechtliche Standards. Schauen allein, möchte man sagen, reicht nicht aus. Eine Bindung wird hier gerade nicht behauptet.

Die von Facebook nun "entdeckte" Abwägung von "the Voice" mit Belangen wie Sicherheit oder Würde ist ja nun ebenfalls nicht neu. Sie wird im internationalen und nationalen Recht weltweit tagtäglich angewandt, allerdings verfeinert durch die so genannte Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dazu findet man bei Facebook: nichts. Wäre es diesem Unternehmen ernst mit dem hohen Gut der Meinungsfreiheit, so würde es den Schulterschluss mit dem internationalen Recht suchen, anstatt sich sein eigenes billiges Facebook-Rechtssystem zusammenzuschustern.

Dass die Macht Facebooks durch die Erschaffung des Facebook Oversight Boards eingeschränkt würde, ist im Übrigen zumindest zweifelhaft. Wahrscheinlich wahr und unwahr zugleich, und wohlmöglich grade deshalb als Narrativ so erfolgreich. Man lügt am besten mit der Wahrheit, heißt es.

Wahr ist: Die persönliche Macht Mark Zuckerbergs wird eingeschränkt. Er kann dem Board nicht vorschreiben, wie es seine Arbeit zu machen hat. Er kann die Entscheidungen des Boards nicht anfechten und die Mitglieder des Boards nicht feuern. Tatsächlich hat man auch eine von Facebook Inc. finanziell unabhängige Unternehmens- und Finanzierungsstruktur für diesen Gerichtshof gefunden.

Aber: Die Person Zuckerberg ist nicht viel mehr als das Gesicht von Facebook, manche sagen: sein Guru. Wie viel Macht Zuckerberg persönlich in dem Konzern (noch) hat, ist für die Beurteilung der (Über-)Macht Facebooks zweitrangig. Wer allein auf den Machtverlust Zuckerbergs abstellt, ist auf den PR-Trick reingefallen.

Als ob man VW zum Kraftfahrtbundesamt ernennen würde

Bei Lichte betrachtet baut Facebook seine Macht durch die Errichtung des Oversight Boards wohl aus: Egal wie finanziell und organisatorisch unabhängig dieses "Gericht" konzipiert sein mag: Es entscheidet, und zwar im grundrechtssensibelsten Bereich der Menschenwürde, Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit, nach konzerneigenen Regeln, die keinerlei demokratische Legitimation aufweisen. Hier schwingt sich ein steinreicher Quasimonopolist, ein Teenager von nur sechzehn Jahren, dazu auf, im Bereich der Meinungsfreiheit traditionelle Aufgaben der Gesetzgebung und Rechtsprechung zugleich zu übernehmen - auf globalem Level. Dies ist ungefähr so sinnvoll, wie wenn man es dem Volkswagen-Konzern nach dem Abgasskandal erlauben würde, weltweit Emissionsschutzrichtlinien zu erlassen und zugleich Kraftfahrtbundesamt zu spielen.

Facebook gibt auch keine Informationen dazu heraus, nach welchen Kriterien es die Richter des Oversight-Boards ausgewählt hat. Fundamentale Kontrollmechanismen, wie sie das Prozessrecht vorsieht, gibt es mithin nicht: Das Recht auf den gesetzlichen - nämlich den unbefangenen, durch "Zufall" ausgewählten, im Geschäftsverteilungsplan vorherbestimmten - Richter. Oder das Recht, die Besetzung des Spruchkörpers zu rügen soweit Bedenken gegen die richterliche Unbefangenheit bestehen.

Und: Die Regeln, nach denen dieser Gerichtshof operiert, können jederzeit von Facebook geändert werden. Eine "Ewigkeitsklausel" wie sie das Grundgesetz für die Kernaussage unserer Verfassung vorsieht, Art. 79 Absatz 3 GG, das Widerstandsrecht, die Rechtsstaatlichkeit, sucht man - freilich - in diesen Unternehmensregeln vergeblich. Wenn die Regeln für das Grundrecht der Meinungsfreiheit im Staate Facebook aber so flüchtig sind: Was hilft es dann diesem Gerichtshof, dass er finanziell unabhängig ist?

Verbrieft ist nicht einmal die Anzahl der Mitglieder dieses "Gerichts".

In der Satzung des Oversight-Boards heißt es dazu:

Das Gremium wird aus mindestens elf Mitgliedern bestehen. Wenn es seine volle Besetzung erreicht hat, wird es voraussichtlich vierzig Mitglieder umfassen. Die Größe des Gremiums kann je nach Anforderungen nach oben oder unten variieren.

Satzung

"Mindestens"

"Voraussichtlich"

"Je nach Anforderungen"

Wolkige Formulierungen wie diese würden von jedem noch so zahnlosen Verfassungsgericht der Welt wegen unerträglicher Unbestimmtheit in der Luft zerrissen.

Der Versuch, einen Ozean mit einer Hand aufzuhalten

Ob dieses Gremium - voraussichtlich und je nach Anforderung (wer sieht hier voraus und wer definiert die Anforderungen?) - elf oder vierzig Mitglieder umfasst, macht einen fundamentalen Unterschied im Hinblick auf die Legitimation dieses "Gerichts". Selbst die derzeit - voraussichtlich und je nach Anforderung - angestrebte Maximalanzahl von vierzig Richtern wird es nicht vermögen, aus den Meinungsäußerungen von, Stand 30. April 2020, 1,9 Milliarden aktiven Facebook-Nutzern wichtige Präzedenzfälle auszusondern, die die weitere Ausrichtung der Social Media Governance des Quasi-Monopolisten prägen werden. Es handele sich um den aussichtslosen Versuch, "einen Ozean mit nur einer Hand aufzuhalten", befindet die leitende Redakteurin des Technologieblogs Recode, Kara Swisher, in der New York Times.

Auch das angebliche Bemühen um eine heterogene Zusammensetzung der Richterbank hält kritischer Überprüfung nicht stand: Zwei von vier Vorstandsmitgliedern (den so genannten "Chairs"), mithin 50 Prozent, stammen aus den USA. Fünf von zwanzig derzeit bekannten Mitgliedern des Oversight-Boards stammen aus den USA, also 25 Prozent.

China freut sich

Sechs der Top-10-Länder mit den meisten Facebook-Nutzern weltweit kommen aus Süd- oder Südostasien, mit allein 280 Millionen Facebook-Nutzern in Indien. Gleichwohl sind nur zehn Prozent der derzeitigen Mitglieder des Boards aus Süd- oder Südostasien, nämlich zwei: die Rechtsanwältin und Internet-Aktivistin Nighat Dad aus Pakistan und ein Journalist namens Endy Bayuni von der Jakarta Post.

Es hätte weitaus unbequemere Kandidaten gegeben. Kandidatinnen. Bezeichnend: Aus Taiwan, Japan, Südkorea - sie alle Hoffnungsschimmer der Demokratie in Zeiten, in denen sich das chinesische Modell von "Meinungsfreiheit" parallel zur Seidenstraßeninitiative über den Erdball ausbreitet - ist kein einziger "Richter" dabei. Ein wunderbares Einfallstor für die chinesische Propaganda. Wie eine Armada emsiger Bienchen arbeitet sie daran, die asiatische Welt von dem chinesischen Verständnis von "Meinungsfreiheit" zu überzeugen, von Weibo zum Beispiel, das an Konsens, Inklusion, Harmonie interessiert sei - eine Antithese zu der Lautstärke, dem Egozentrismus und der Arroganz, die China dem Westen zuschreibt.

Es sollte also nicht verwundern, wenn Asien dieses Board nicht akzeptiert. Dabei wird Regulierung grade in Asien besonders gebraucht. Kaum eine Region ist so heterogen in all jenen Bereichen, die für Sprengstoff in der Meinungsfreiheit sorgen: Weltanschauung, Ethnie, Religion, politische Systeme. In keiner Region sind Hass und Hoaxes, Bots und Trolle so ausgeprägt wie hier. In kaum einer anderen Region der Welt wird das Wort "Facebook" von so vielen Menschen als Synonym für das Wort Internet gebraucht.

Mark Zuckerberg darf stolz darauf sein, was er, grade einmal 36 Jahre alt, mit Facebook erreicht hat. Und mit Sicherheit hätte er all dies nicht erreicht, wenn er sich von den notorischen Bedenkenträgern hätte bremsen und das Unternehmen nicht mit der Leichtigkeit und Unbeschwertheit eines Start-ups geführt hätte. Es ist aber jetzt Zeit endlich erwachsen zu werden, und ein Projekt von wahrhaft historischer Bedeutung für unser Gemeinwesen anzustoßen: Die Regulierung des Internets und der sozialen Netzwerke durch das Menschen- und Völkerrecht. Das Geld, die Macht und Notwendigkeit für dieses Mammutprojekt sind da. Worauf warten Sie noch, lieber Mark Zuckerberg?

Christoph Grabitz, Volljurist und Journalist, leitet das Medienprogramm Asien mit Sitz in Singapur der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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