Faster, Pussycat! Play! Play!
Streaming-Dienste und moderne Hörgewohnheiten verändern die Struktur von Pop-Songs: Sie werden immer schneller, zeigt eine neue Studie
"Don‘t bore us - get to the Chorus!", heißt das Greatest-Hits-Album der schwedischen Popgruppe Roxette aus dem Jahr 1995. Und der Titel scheint inzwischen das Mantra der Musikindustrie zu sein: Denn das Streaming von Musik verändert die Struktur von Pop-Hits. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Musikwissenschaftlers Hubert Léveillé Gauvin von der Ohio State University.
Gauvinhat 303 Top-10-Songs der US-amerikanischen Charts von 1986 bis 2015 untersucht. Ergebnis: Die Songs wurden im besagten Zeitraum schneller, hatten kürzere Titel und kommen vor allem schneller zur Sache: Die Geschwindigkeit der Songs ist um 8 Prozent gestiegen, Ein-Wort-Titel sind deutlich angesagter und das gesanglose Intro dauert durchschnittlich nicht mehr 23 Sekunden wie noch 1986. Im Jahr 2015 setzt die Stimme bereits nach durchschnittlich 5 Sekunden ein.
Es ist wie beim "survival of the fittest": Lieder, die es schaffen, die Aufmerksamkeit des Hörers zu gewinnen und aufrechtzuerhalten, werden gespielt und die anderen werden übersprungen. Wenn die Hörer ganz einfach und kostenlos den Song wechseln können und die Umgebung derart wettbewerbsorientiert ist, dann muss man etwas tun, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen. Wir wissen, dass die Stimme eine der wichtigsten Aspekte in der Musik ist, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit zu bekommen.
Hubert Léveillé Gauvin
Gauvin glaubt, dass vor allem Streaming-Dienste wie Spotify zu beschleunigten Pop-Songs führen, weil die Hörer nicht mehr passiv wie zu klassischen Radio-Zeiten der Musik lauschen oder wie zu klassischen Schallplatten-Zeiten einfach geduldiger sind. Eine andere Studie bestätigt diesen Trend und kommt zu dem Ergebnis, dass 24 Prozent der Nutzer von Spotify nach nur 5 Sekunden eines angespielten Songs auf "Skip" drücken und zum nächsten Lied wechseln. Innerhalb der ersten 30 Sekunden eines Songs steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Hörer den Song abbrechen, auf 35 Prozent. Die Hörer drücken damit durchschnittlich 14,65 Mal pro Stunde auf "Skip", wobei auf mobilen Endgeräten um 10 Prozent mehr gewechselt wird als auf Desktop-Rechnern. Die "Skip"-Rate von Teenagern liegt bei über 50 Prozent, in der Altersgruppe von 30 bis 40 Jahren fällt die Rate auf knapp unter 40 Prozent.
Insbesondere bei der jüngeren Generation sinkt die Aufmerksamkeitsspanne, während die Ungeduld im digitalen Raum steigt. Laut einer weiteren, ein wenig bizarren Studie haben Menschen in westlichen Industriestaaten angeblich inzwischen eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne als ein Goldfisch (Goldfische haben bereits eine längere Aufmerksamkeitsspanne als Menschen). Die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne sei - vor allem aufgrund von Smartphones und hektischem Hin- und Hergeklicke im Internet - von 12 Sekunden im Jahr 2002 auf 8 Sekunden im Jahr 2013 gefallen; das sei eine Sekunde kürzer als die Spanne eines Goldfischs.
Gauvin sieht die Musikerinnen und Musiker in einer Aufmerksamkeitsökonomie gefangen, indem sie ihre Kunst mehr und mehr dem Markt anpassen: "Musik hat zwei Gesichter: Musik ist schon immer ein kulturelles Produkt gewesen, aber ich denke, dass immer mehr Songs bloß Werbung für die Künstler sind."
Wenn Sie bis hierher gelesen haben, ist Ihre Aufmerksamkeitsspanne auf jeden Fall größer als die des Goldfischs. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Patrick Spät lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Die Freiheit nehm ich dir. 11 Kehrseiten des Kapitalismus" im Rotpunktverlag.