Faszination Cyborg

Eine Rezension des schwergewichtigen CYBORG Handbook

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Sind wir alle Cyborgs? Wer sich für die Faszination an den Cyborgs interessiert, der sollte sich dieses umfassende Buch besorgen, auch wenn unser Rezensent Richard Barbrook der Meinung ist, daß der Sammelband vor allem die amerikanische Sicht darstellt und die Diskussion daher ziemlich einseitig ist.

Das Cyborg-Handbuch ist eine umfangreiche Sammlung von Aufsätzen, die zu eruieren suchen, wie neue militärische und medizinische Fortschritte die Bedeutung dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein, transformieren.

Die Weltraumfahrt fordert die Menschheit nicht nur technisch, sondern auch geistig insofern heraus, als sie ihn dazu auffordert, eine aktive Rolle in seiner eigenen biologischen Evolution zu spielen ... Die Aufgabe, den menschlichen Körper jeder Umwelt anzupassen, für die der Mensch sich entscheidet, wird durch das wachsende Wissen über homöostatische Prozesse leichter, also über jene kybernetischen Aspekte, die wir gerade erst zu verstehen und zu untersuchen beginnen. Die Evolution in der Vergangenheit brachte die Veränderung von Körperfunktionen zur Anpassung an unterschiedliche Umwelten mit sich. Ab jetzt wird es möglich werden, dies zu einem gewissen Maß ohne Veränderung der Erbanlagen durch geeignete biochemische, physiologische und elektronische Modifikationen des bestehenden modus vivendi des Menschen zu realisieren.

Manfred Clynes und Nathan Kline

1960 wurde das Wort Cyborg - kybernetischer Organismus - geprägt, um das Verschmelzen zwischen Technik und menschlichem Körper zu beschrieben. Die australischen Wissenschaftler Manfred Clynes und Nathan Kline verwendeten in ihrem Artikel Cyborgs and Space als erste diesen Begriff, um die technologische Aufrüstung des Körpers für die Weltraumfahrt zu beschreiben. Von der NASA dazu beauftragt, schlugen diese beiden Wissenschaftler vor, daß die Menschen durch eine Kombination aus Drogen und chirurgischen Eingriffen in der ungastlichen Umwelt des Weltraums überleben können. Obwohl niemals verwirklicht, beschreiben weitere Artikel, wie ihre Vision von den Expertensystemen der US Air Force teilweise verwirklicht wurde, welche die Reaktionszeiten von Piloten, die mit Überschallgeschwindigkeiten fliegen, verbesserten. Anhand des Golfkrieges zeigen verschiedene Beiträge, daß die amerikanische militärische Überlegenheit bereits teilweise auf dem Einsatz dieser Cyborgkrieger basiert. Der Cyborg ist aber nicht nicht nur ein militärisches Phänomen. Die Aufsätze von van Citters, Hori und Friedman, die Implantationstechniken künstlicher Organe und die Benutzung von Reproduktionstechniken vorstellen, weisen darauf hin, daß man Cyborgs unter seinen besten Freunden haben oder sogar selbst einer werden kann.

Ich denke darüber nach, wie nahezu alle in urbanen Gesellschaften als Low-Tech-Cyborgs verstanden werden können, da sie einen Großteils des Tages mit Maschinen wie Autos, Telefonen, Computern und natürlich Fernsehgeräten verbunden sind.

David Hess

Das "Cyborg-Handbuch" ist, trotz dieser einführenden Artikel, wesentlich mehr am Cyborg als einem Gegenstand der Science-Fiction denn als Objekt der Wissenschaft interessiert. Es geht vom Ansatz der "Cultural Studies" aus und ist keine wissenschaftliche Abhandlung über Möglichkeiten zur technologischen Verbesserung des menschlichen Körpers. In Essays über Comic-Charaktere, Schwarzenegger-Filme, das Marketing von Mind-Machines und ähnlichen Themen zeigen verschiedene Autoren auf, wie der Cyborg zu einer kulturellen Ikone unseres Jahrhunderts wurde. Indem sie sich auf die Pionierarbeit von Donna Haraway beziehen, versuchen akademisch gebildete Intellektuelle, den Cyborg dem militärisch-industriellen Komplex wieder zu entreißen. Die Verschmelzung von Technologie und Körpern beim Cyborg kann nun ihren Platz Seite an Seite mit Transsexualität, Tätowierung, Piercing und anderen Körpermodifikationen einnehmen, die von der zeigenössischen Populärkultur gefeiert werden. Anstatt ein High-Tech Killer zu sein, können Mensch-Maschinen an der Regenbogenkoalition von Lesben&Schwulen, Farbigen, Frauen und anderen marginalisierten Gruppen teilhaben, die den kulturellen Konformismus des Mittelklasse-Amerika ablehnen. Der Cyborg ist ein postmoderner kultureller Rebell geworden.

In ihrem Manifesto for Cyborgs (leider in diesem Buch nicht enthalten) behauptet Donna Haraway, daß wir alle Cyborgs seien. Nach ihrer Analyse können Leute mit Herzschrittmachern, Insulin einnehmende Diabetiker, ja sogar Clubber, die zur Erholung Designerdrogen nehmen, als lebende Beispiele der Fusion von Körpern und Technologie betrachtet werden. Gegenwärtig ist die Universalität dieser Vision eine Herausforderung für die veraltete postmoderne Orthodoxie, welche die amerikanischen Cultural Studies dominiert. In ihrem Artikel kritisiert Chela Sandoval Haraway, weil sie sich der Politik der Differenz nicht genügend annehmen würde, da diese die Unterschiedlichkeit der Elemente der Regenbogenkoalition betont. Wenn der gegenwärtige Zustand jedes einzelnen Menschen auf der einen oder anderen Ebene eine intime Beziehung mit Technologie beinhaltet, wie kann der Cyborg dann ein subversives Symbol für die marginalisierten Teile der Gesellschaft sein? Sandovals Artikel ist ein klassisches Beispiel dafür, wie postmoderne Ideologie soziale Analyse verhindert. Darauf abgestimmt, den Cyborg innerhalb der Grenzen des amerikanischen Liberalismus zu betrachten, ist sie, ebenso wie andere Autoren dieses Buches, unfähig anzuerkennen, daß der Mythos vom Cyborg nicht mehr ist, als die neueste Phase im menschlichen Traum von der Selbstverbesserung.

Das Cyborg-Bewußtsein kann als technologische Verkörperung einer bestimmten und spezifischen Form des oppositionellen Bewußtseins verstanden werden, das ich als 'US-amerikanischen Feminismus der Dritten Welt' beschrieben habe'.

Chela Sandovat

Seit mehr als 200 Jahren haben westliche Theoretiker die immanente Ankunft des "neuen Menschen" ausgerufen, der sich durch die Abschaffung unterdrückender sozialer Bedingungen verändert. Charles Fourier zum Beispiel, der französische Sozialist aus dem 19. Jahrhundert, glaubte, daß die Schaffung einer harmonischen Gesellschaft zum Aufkommen einer verbesserten Form des Menschen führen würde. Genauso wie heutige Cyborg-Theoretiker von High-Tech-Prothesen träumen, hoffte dieser frühe Modernist, daß uns eines Tages die Fähigkeit gegeben sein würde, uns Schwänze wachsen zu lassen.

Wegen der Engstirnigkeit der im Wesentlichen amerikanischen Autoren des Cyborg-Handbuchs wird dieses den europäischen Leser abwechselnd amüsieren oder zur Weißglut treiben. Dennoch ist es eine wichtige Publikation - und wenn das nur deshalb der Fall ist, weil es die Gung-Ho-Vision des Cyborg von Clynes und Kline mit postmodernem feministischen Gedankengut wie im Artikel von Sandoval zu mischen versteht. Wie in Filmen, Comics, Büchern und Videospielen evident, bleibt der Cyborg eines der stärksten Symbole unserer zeitgenössischen Befindlichkeit.

"The CYBORG Handbook" herausgegeben von Chris Hables Gray, zusammen mit Heidi J. Figueroa-Sarriera und Steven Mentor. Routledge, London 1995. Paperback $ 22,95. 540 p.

Dr. Richard Barbrook ist Mitglied des Hypermedia Research Centre der University of Westminster. Zusammen mit Cameron hat er die kalifornische Ideologie einer radikalen Kritik unterzogen.