Faszination am Gigantomanen
Der Reader bignes? befasst sich kritisch mit Facetten aktueller Stadtplanung
Ist größer wirklich besser?
Man plant wieder im Groben: nach den kurzen Jahren der "behutsamen Stadterneuerung" ist es inzwischen ein Attribut architektonischer Avantgarde, Stadtteile, Städte, Flussdeltas und ganze Landesteile mit Masterplänen zu überziehen. Aus der Moderne grüßt Le Corbusier. Doch was den einen "Chance zu einer Neuordnung des gesellschaftlichen Lebens", ist anderen nur Mittel, um Baulücken, vorhandene oder zu schaffende, im computergestützten Raster schnell zu füllen: Als aktuelles Beispiel mag der Potsdamer Platz in Berlin gelten. BIGNES?, ein soeben in derselben Stadt im Verlag b_books erschienener lesenswerter Reader zur "Kritik der unternehmerischen Stadt", befasst sich mit den verschiedenen Facetten der Stadtplanung im neuen Jahrtausend; beginnend mit der Faszination am Gigantomanen, jedoch mit besonderem Gewicht auf Kritik und Gegenstrategien.
BIGNES? nimmt dabei qua Titel auf eine der derzeit wichtigsten Figuren in Architektur und Stadtplanung Bezug. Bigness als Begriff einer Sprache der Architekturavantgarde - dafür steht besonders Rem Koolhaas, und mit ihm das O.M.A. (Office for Metropolitan Architecture). BIGNES? nahm KoolhaasŽsche Theorie schon zum Anlass, als es noch kein Reader, sondern ein Sonderprogramm der Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen 1999 war, kuratiert von Madeleine Bernstorff und Jochen Becker. Becker, der nun als Herausgeber des gleichnamigen Bandes die Auswahl der Texte stark erweitert hat, setzt sich in seiner Einleitung mit dem vom Architekten und Theoretiker Koolhaas propagierten "Regime der Komplexität" auseinander.
Koolhaas prägte den Begriff Bigness in seinem voluminösen Buch "S, M, L, XL" und ordnet dort dem Schlagwort massive Attribute zu: die "geballte Intelligenz der Architektur" werde durch diese Theorie mobilisiert. Bigness sei "nicht mehr Teil eines wie auch immer definierten urbanen Zusammenhangs. (...) Ihr Subtext lautet: Scheiß auf Kontext!" Koolhaas, fasziniert von Stadtagglomerationen gigantischen Ausmaßes, wie beispielsweise im chinesischen Pearl River Delta, sieht in der Bigness die einzige Architektur, die "den mittlerweile globalen Zustand der Tabula Rasa überleben, ja sogar nutzen kann". Wenn es nach ihm geht, finden sich durch die Unmöglichkeit einer vollständigen Planbarkeit innerhalb dieser großen Strukturen immer Nischen der "Freiheit und maximaler Differenz". Man denkt unwillkürlich an die Unterseite von "Dark City", der Stadt im All.
Becker beweifelt jedoch, dass Bigness in irgendeiner Form eine konstruktive Antwort auf die existentiellen Fragen der "von der Boom-Ökonomie Überrannten", die denn doch den Grossteil der Bewohner dieser Siedlungen ausmachen, geben kann und konstatiert Koolhaas mangelnden Blick für die soziale Dimension der Stadtentwicklung. Ist dessen Verdienst auch unbestritten, die euro- und USA-zentrierten Blicke auf Asien und Afrika gelenkt zu haben, so harrt doch seine Theorie noch des Beweises, dass sie mehr bieten kann als einen Kommentar zur scheinbar auswegslos wirtschaftsliberalen Weltsituation. "Euralille", ein Komplex von Bürogebäuden, Supermarkt und Mehrzweckhalle, made by O.M.A., der noch seiner Fertigstellung harrt, ist dieser Beweis jedenfalls nicht. Eine komplexe Kritik des dennoch vielleicht wichtigsten Planers der letzten Dekade steht vielleicht bald an - BIGNES?, der Reader, will das jedoch (noch) nicht sein.
Unterteilt in drei Sektionen, betitelt "Size does matter", "Image/Politik" und "Städtisches Handeln", unternehmen stattdessen circa 30 AutorInnen und -kollektive den Versuch, die symbolischen und praktischen Auswirkungen urbanen Planens in Bignessdimensionen zu analysieren, zu bewerten und, in vielen Fällen, in "städtisches Handeln" umzuwandeln. Die Beiträge belassen es dabei zumeist nicht bei einer Beschreibung von scheinbar unabwendbaren Vorgängen, sondern drängen auf aktive Kritik und angewandtes Stadtbewusstsein. Am besten gleich um die Ecke: Ludger Basten nimmt, anlässlich des ursprünglichen Ortes der BIGNES?-Vorträge, die "Neue Mitte Oberhausen" zum Anlass um zu verdeutlichen, dass "Stadtentwicklungsprojekte nicht mehr einfach von ihrer Größe her an ihr jeweiliges Umfeld angepasst werden, sondern sich ihr Umfeld neu erschaffen". Die Feststellung, dass die "Neue Mitte", ein Unterhaltungs- und Einkaufskomplex von 100 rein privaten Hektar Größe, nicht mehr "organisch gewachsen" ist scheint allerdings fast naiv angesichts der anfangs diskutierten, weltweiten "Tabula Rasa".
Dennoch, noch ist nicht alles eine Aktiengesellschaft, auch wenn sich die Städte und Regionen laut Klaus Ronneberger gezwungen sehen, "unternehmerische Profile" zu entwickeln. Lebensqualität (wessen?) und Kultur sind dabei Kapitalanlagen und werden projeziert und beworben. Die Städte konkurieren dabei global und Teile ihrer Strategien sind Malls und Themenparks. Diese privaten Räume unterliegen der Kontrolle der jeweiligen Betreibergesellschaft, die willkürlich entscheidet, was noch erlaubt ist und was nicht: Wieder bietet sich der Potsdamer Platz als Beispiel an, wo einst sogar den dort Arbeitenden das Verteilen von Handzetteln untersagt wurde. Ronneberger betont indes, dass es ihm nicht um ein Verständniss des Sozialen als "Kultur der Probleme" geht, sondern als ein" Recht auf Stadt" und ein "Recht auf Abweichung".
BIGNES? behandelt unterschiedlichste Utopien: Ein wahrgenommenes Recht auf Abweichung beschreibt Simon Sheikh in seinem Überblick der Geschichte von Christiania, dem anarchischen Kleinstaat innerhalb Kopenhagens - und er unterlässt dabei auch nicht den Blick auf die "[Hierarchie] hinter dem Drogenhandel". Rolf Sachse analysiert in "Barocke Städte unter amerikanischer Stadt im All" die Medientransformationen, wie sie Architektur von Internetumgebungen über CAD Entwurfsprogramme bis zur medialen Durchsetzung in Prospekt, Buch und Film erfährt. "Als Modelle sind Computeranimationen der Renaissance und dem Barock verpflichtet - und [barocke Utopien] sind tyrannisch." Margit Czenki und Christoph Schäfer bieten in einem Drehbuchauszug einen Blick auf die Entwicklung von "Park Fiction"; einer Initiative aus dem Hamburger Hafenstraßenumfeld, die Stadt und Unternehmen erfolgreich ein Stück Land für einen "Park" abgetrotzt hat.
Überhaupt spielen Film und Video - Anlass Oberhausen - eine gewichtige Rolle in dem Textband: Haroun Farocki äußert sich detailliert zu seinen zwei Projekten: " Die Schöpfer der Einkaufswelten", ein ein Film über Malls; sowie "Ich glaubte Gefangene zu sehen" - Letzteres eine Videoinstallation mit Bildern aus den Überwachungskameras eines kalifornischen Gefägnisses, die sogar den Tod eines Gefangenen durch die Kugeln der Aufpasser dokumentieren: Eine gewalttätige Gegenüberstellung von Kommerz und Knast angesichts der zunehmenden Industrialisierung der amerikanischen Gefängnisse, die inzwischen gewinnorientiert organisiert sind. Der französische Dokumentarfilmer Mogniss H. Abdallah schreibt über die "Politspektakel der Sprengung abgewirtschafteter cités"; neben Gunnar Ulbrichs Beitrag aus Saint-Denis zur Zeit der Fussball-WM der zweite Bericht aus Frankreich. Carsten Does unternimmt eine "geschichte der linken videoarbeit" und Axel Wieder beschreibt das an den Ideen einer unabhängigen Gegenöffentlichkeit orientierte Berliner Videoszenemagazinkollektiv AK Kraak.
Letztere sind schon Aspekt eines Handelns, wie es der letzte Teil des Buches avisiert: Als EinwohnerIn der Städte kann/soll/muss man auch aktiver Teil des Geschehens werden; wobei sich Franziska Roller darüber im Klaren ist, dass "wenn der Rückenwind der Geschichte fehlt (...) keine Massen auf die Straßen zu bringen [sind]" - stattdessen will sie mit der Kommunikationsguerilla die Zeichen und Bilder umcodieren. Die schreibt derweil unter dem weltweit genützten Pseudonym Sonja Brünzels eine subjektive Geschichte der "Reclaim the Streets"-Bewegung und des 18.Juni 1999; des "ersten internationalen antikapitalistischen Aktionstags", der besonders in London zu einiger Euphorie geführt hat: Effektiver, geplanter, und als solcher akzeptierter Party-Protest, der über die letzten Jahre dann aber auch mal als "Prada-Protest" diskreditiert wurde. Nicht ganz ohne mein Prada gingen auch die ansonsten sehr seriösen innen!stadt!aktionen 1997 in Berlin über die Bühne, hier dokumentiert in ihrer internationalen Zeitungsbeilage. Anlässlich dieser Aktionstage waren auch a-clip gegründet worden, die, ansonsten mit 1-minütigen 35mm-Spots im Kino präsent, in BIGNES? in einem Interview zu Wort kommen.
Beiträge von und über Die Mission/Hamburg, Freies Fach/Berlin, city.crime.control, futur_perfekt/Bremen und die surveillance camera players/NYC runden den Aktivismuspart ab, der damit zum größten (sic!) Teil des BIGNES? Readers avanciert. Nach dem etwas apokalyptischen Einstieg wirkt das beinahe beruhigend, dennoch müssen sich einige der verschiedenen, breit gelagerten Initiativen fragen lassen, wen sie adressieren und inwieweit sie mit ihren Aktionen ihre Adressaten erreichen. Doch es wird daran gearbeitet. BIGNES? ist nicht nur gut recherchierte Zusammenfassung, sondern bereits Teil einer Taktik, um diese Adressaten weiter informiert zu halten. Dabei ist der Brückenschlag zu Rem KoolhaasŽ aktiver, wenn auch zum Teil provokant brutalistischer Praxis - denn auch sein Schreiben scheint eher Praxis als Theorie; und ist nicht alle Architekturpraxis diesen Ausmasses brutal? - nicht nur Ansatzpunkt einer detaillierten Kritik neuerer Stadtplanung, sondern letzten Endes auch ein produktiver Verweis darauf, wie auch andere, noch kompromisslosere Praxen die Öffentlichkeit suchen und mit, nun ja, "innovativen" Vorschlägen zu überzeugen suchen müssen.
Jochen Becker (Hg.), BIGNES?
Size does matter. Image/Politik. Städtisches Handeln. Kritik der unternehmerischen Stadt
270 S., s/w illustr. DM 32.- / EUR 15.-, www.txt.de/b_books/verlag/bignes/index.html