Faule Äpfel in Berlin
Geständnis eines Gentrifizierers
Vor dem Hauptbahnhof wehen die Fahnen in Schwarz, Rot, Gelb, dazwischen einige in Schwarz, Weiß, Rot. Jemand hält ein Plakat in die Luft mit der Aufschrift 'Ich bin stolz ein Sachse zu sein!'.
Auf Initiative der Organisation 'Wir für Deutschland‘ haben sich vor dem Hauptbahnhof etwa 1500 Menschen versammelt. Am Tag der deutschen Einheit wollen sie gemeinsam gegen den Rest der Gesellschaft demonstrieren: gegen die Linksverräter und die Islamisten.
Aus dem Bahnhof drücken sich Reisende auf den Europaplatz hinaus. Die Rollkoffer im Schlepptau bestaunen sie mit großen Augen den Auflauf. Doch die Absperrungen und Polizisten verdecken ihnen die Sicht. Fast keiner der Demonstranten ist zu erkennen. Nur die wehenden Fahnen sprechen Bände.
Ich höre jemanden fragen: "Oh, is there a football match today?" Ich muss schmunzeln und gehe weiter. Weg von hier, vom Hauptbahnhof, wo ich seit Jahren mit einem Bombenanschlag rechne. Ja, auch ich bin empfänglich für Paranoia. Doch deshalb glaube ich noch nicht an den Untergang des Abendlandes.
Der Zug der Menschen für Deutschland setzt sich in Bewegung. Vom Hauptbahnhof Richtung Mitte.
Gruppen von überwiegend jungen Leuten in schwarzer Kleidung wuseln durch die Gegend. Sie kommunizieren in Zeichensprache, auf der Suche nach Lücken in der Absperrung. Doch die Polizei hat alles im Griff. Zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten befinden sich mindestens zwanzig Meter Abstand. Jeder ist vor dem anderen geschützt.
Ich habe genug gesehen und will nachhause. Doch die Polizisten lassen mich nicht durch. Ich habe das Pech ausgerechnet in diesem abgesperrten Quadrat zu wohnen. Seine Seiten bilden die Chausseestraße, Invalidenstraße, Torstraße und Brunnenstraße. "Jetzt kommt hier niemand rein!", ruft der Polizist mit dem 'ST‘ auf der Jacke. Ein Mann mit Kindern fragt, was das ST bedeute. Der Polizist antwortet: "Sachsen-Anhalt. SA wäre ja ein bisschen komisch, oder?"
Ja, die Stimmung ist heute sehr politisch. Trotzdem ist noch alles entspannt. Von der Torstraße her sind die Rufe der Gegendemonstranten zu hören. Etwa sechzig, siebzig Menschen haben sich dort versammelt. Viele Jugendliche, von der Atmosphäre ist es beinahe wie auf einem Festival.
Hier auf der Chausseestraße ist es ruhiger. Keine zwanzig Leute warten darauf in ihre Wohnungen zu kommen. Auch ich bin einer von ihnen. Die acht Polizisten mit Helmen und dicken Schutzwesten stehen hinter dem Stahlgitter. Sie haben alles unter Kontrolle. Bis eine Frau Mitte Dreißig auftaucht. Sie nähert sich dem Gitter aus Stahl. Aufgebracht gibt sie der Staatsgewalt zu verstehen, dass sie im abgesperrten Quadrat wohne. Ihre Mutter und ihre Kinder würden sich dort befinden. Kaum ausgesprochen nähert sich von der anderen Seite eine ältere Dame mit zwei Kindern. Nun wird es hektisch.
Der schwarze Block aus sechzig Linksautonomen ist ein Witz gegen die Mutter zweier Kinder. Sie will unbedingt auf die andere Seite des Gitters.
"Wollen Sie jetzt etwa diskutieren?!", fragt der Polizist verärgert. Die Mutter geht auf das Gitter zu. Sie sieht die Lücke zwischen den Stangen. "Was machen Sie denn, wenn ich jetzt durchgehe?" Sie scheint fest entschlossen zu sein, legt ihre Hand auf eine Stange.
"Dann muss ich Sie aufhalten!", schallt es ihr von dem Polizisten entgegen. Offensichtlich würde es ihm keinen Spaß bereiten, eine Mutter vor den Augen ihrer Kinder körperlich zu attackieren. Aber Befehl ist Befehl.
Die Mutter scheint aufzugeben und zieht sich schmollend zurück. Aus dem Hintergrund ruft ein älterer Herr: "So eine Schande! Ihr schützt die scheiß Nazis und wir können nicht in unsere Wohnungen!"
Ergänzend wollte ich hinzufügen, dass auch solche Leute das Recht auf eine Demonstration hätten. Doch ich ließ es sein. Wie immer befand ich mich zwischen den Fronten. Eine Straße weiter zwischen den Rechten und den Linken. Hier zwischen der autoritären Polizeigewalt und Gentrifizierern, die Demonstrationen als lästigen Eingriff in ihre teuer bezahlte Privatsphäre empfinden. Ich weiß, wovon ich spreche, denn ich selbst bin einer von ihnen. 850 Euro Warmmiete für 60 Quadratmeter. Wer braucht schon Luxus, wenn das Wohnen an sich schon Luxus ist?
Fünf Minuten später. Im Gegensatz zu den linken Gegendemonstranten waren die Gentrifizierer erfolgreich. Sämtliche Anwohner dürfen zu ihren Wohnungen. Erfolg scheint tatsächlich in den Genen zu liegen. Oder wird er anders weitervererbt? Auch ich mogle mich durch die Absperrung, ohne meinen Ausweis zu zeigen. Obwohl nur Anwohner in das gesperrte Gebiet gelassen werden, habe ich den Verdacht, dass sich noch andere Leute hinein schummeln. Wo ist der schwarze Block? Er sucht immer noch eine Straße weiter nach Lücken, die er nicht finden wird.
Die Straße vor meinem Haus ist ruhig wie an einem Totensonntag. Außer mir spaziert nur ein älteres Paar über den Gehweg. Plötzlich springen die beiden in einen Hauseingang. Fünf Polizisten in schwarzen Kampfanzügen und Helmen laufen auf mich zu. Halten sie mich für einen linken Autonomen? Verwechseln sie das Nachtblau meines Mantels mit Schwarz?
Im Schutz des Hauseingangs versuche ich unschuldig auszusehen. Wie Soldaten aus einem Science-Fiction-Film laufen sie an mir vorbei. Ich schnaufe durch, doch die nächste Überraschung folgt sofort.
Ich höre einen Bass. Bumm, bumm, bumm. Das kann nicht sein. Ich muss träumen. Die 'Wir für Deutschland‘-Menschen kommen die Straße herunter und direkt auf mich zu. Die Demonstration wurde auf eine Nebenstraße umgeleitet. 1500 Leute, an deren Spitze ein Mann im elektrischen Rollstuhl fährt. An seinem Rolli steckt die Deutschlandfahne. Im Rhythmus eines typischen Hits vom Ballermann folgen ihm die restlichen 1499 Patrioten.
An der Nebenstraße stehen nun eher zufällig höchstens fünfzehn Menschen. Ich bin einer von ihnen und wir bilden die ungewollte Gegendemonstration. Gespannt starre ich auf diese Demonstranten, die uns als Linksverräter beschimpfen. Drei Jugendliche gesellen sich zu uns und rufen spontan 'scheiß Nazis!'
18 gegen 1500 - wir sind Helden! Nur fünf Meter Abstand zwischen Demonstranten und Gegendemonstranten, voneinander getrennt durch zehn Polizisten. Hinter mir liegen drei faule Äpfel auf dem Boden. Ich frage mich, wie diese ihren Weg hierher fanden. Denn es ist kein Baum in der Nähe. Eigentlich schade, dass die Linksautonomen nicht hinter die Absperrung gekommen sind. Nun ist niemand da, der die Äpfel werfen könnte. Ich fühle mich von diesem Ü-40-Faschingsumzug persönlich beleidigt.
Trotzdem traue ich mich nicht einen Apfel zu werfen.
Und so erreicht die Demonstration ihren absurden Höhepunkt, als fünf Gegendemonstranten 'Nazis raus!‘ rufen und zweihundert Demonstranten das 'Nazis raus!‘ erwidern. Auf unserer Seite ernst, auf der anderen Seite belächelt. Denn, wer heute den Hitlergruß zeigt, muss ja noch lange kein Nazi sein. Die Nazis, das sind die anderen, die Linksverräter, die Rot-Grün-Versifften, die Islamfreunde. Alles eine Frage der Perspektive.
Meine Demonstration beschränkt sich auf ein müdes Gähnen. Die Demonstranten filmen uns. Ich hoffe, sie werden sehen, wie ermüdend ihr Schaulaufen für mich war.
Die Ballermannmusik löst sich langsam auf, der Zug zieht weiter Richtung Hauptbahnhof, von wo er gekommen ist. Kopfschütteln bei uns Gentrifizierern. Na, die werden wir hier so schnell nicht mehr sehen. Wer von diesen Gestalten könnte sich hier schon eine Wohnung leisten?
Auf dem Weg nachhause komme ich an den faulen Äpfeln vorbei. Sie haben ihre ursprüngliche Bestimmung verloren. Die Sinnlosigkeit ihres Daseins deprimiert mich. Für mich gibt es an diesem Tag fast nur Gewinner: Die Rechten, die ihre Bühne genossen. Die Linken, die Courage zeigen konnten. Und auch die Polizei, die beide Gruppen von körperlichen Gewaltakten abhielt.
Im Café an der Ecke kaufe ich mir noch einen Edelkaffee für 3,80. Eine junge Frau telefoniert, das Notebook vor sich stehen: "Da war so eine Demo. Keine Ahnung, was die wollten." Ich muss an die faulen Äpfel denken. Jetzt würde ich sie gern werfen.