"Fehlende Balance"

Die geplante EU-Richtlinie über die Maßnahmen und Verfahren zum Schutz der Rechte des geistigen Eigentums ist trotz mancher Verbesserungen weiterhin höchst umstritten

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Die umstrittene EU-Richtlinie über die Maßnahmen und Verfahren zum Schutz der Rechte des geistigen Eigentums erfährt trotz ihrer möglichen fatalen Auswirkungen für die europäische Wirtschaft und die Rechte europäischer Bürger immer noch nicht die notwendige Bedeutung in den Medien (Richtlinie zum Schutz der Rechte an geistigem Eigentum auf Abwegen). Eine größere öffentliche Diskussion, fernab von Sitzungssälen, findet nicht statt, sondern, wie gewohnt, zwischen Abgeordneten und Politikern des Europäischen Parlamentes und des Rates bzw. der Kommission, Bürgerrechtlern verschiedenster Organisationen (z.B. IPJustice, privatkopie.net oder FFII) und Akademikern. Das vorerst letzte Treffen dieser Gruppen mit Mitgliedern des Europaparlaments fand am 11. Februar in Strassburg statt.

Im Laufe des Mitentscheidungsverfahrens wurden innerhalb des neuen Jahres die vermutlich endgültigen Positionen der einzelnen Akteure veröffentlicht und Änderungsanträge verfasst. Mitunter weichen allerdings schon die Positionen verhältnismäßig stark von der ursprünglichen Richtlinie ab. Sorgen machen sich einige Kritiker vor allem um den gesamten Geltungsbereich der Richtlinie:

So lautet Artikel 2 I der letzten konsolidierten Fassung des Rates vom 16. Februar folgendermaßen:

Without prejudice to the means which are or may be provided for in Community or national legislation, in so far as those means may be more favourable for right holders, the measures and procedures provided for by this Directive shall apply, in accordance with Article 3, to any infringement of intellctual property rights as provided for by Community law and/or by the national law of the Member State concerned.

Um die eigentliche Intention der Richtlinie auf Bekämpfung gewerblich handelnder, organisierter Krimineller zu beschränken, wird daher von Experten verschiedener Bürgerrechtsorganisationen gefordert, dass die Richtlinie Maßnahmen gegen vorsätzliche und gewerbliche Verstöße umfassen und eine Einschränkung auf bestimmte Rechte des "geistigen Eigentums" erfolgen sollte. Die Ausdehnung auf jegliche Immaterialgüterrechte sei nicht hinzunehmen, unter anderem weil in den einzelnen EU-Staaten mitunter der Begriff "geistiges Eigentum" als solcher unterschiedlich gehandhabt wird. Zudem ist es nicht generell in jedem Mitgliedsland rechtswidrig, sich zum Beispiel eine Privatkopie eines Musiktitels anzufertigen, weshalb eine Kriminalisierung von diesen nicht-gewerblichen Handlungen über das Ziel hinausschieße. Der derzeitige Artikel 2 hätte dies zur Folge.

Der Verein zur Förderung Freier Software (FFS) äußert sich hierzu folgendermaßen:

Indem der bisherigen, klaren Unterscheidbarkeit der einzelnen Immaterialgüterrechte (Urheber-, Patent-, Marken- und Musterrecht etc.) nicht gefolgt und nur diffus von "Geistigem Eigentum" gesprochen wird, untergräbt der RL-Entwurf das zentrale Fundament der Rechtssicherheit des europäischen Immaterialgüterrechts.

Des Weiteren ist vor allem die Einbeziehung von Softwarepatenten in dieser Richtlinie fragwürdig und wird von verschiedenen Seiten kritisiert. Insgesamt müsse man bereits an dieser Stelle klarstellen, dass es sich nicht um eine Richtlinie gegen jugendliche P2P-Nutzer, sondern gegen organisierte Kriminalität handelt. Ungeachtet dessen wäre es auch aus Wettbewerbssicht wünschenswert, dass Reverse Engineering explizit vom Geltungsbereich der Richtlinie ausgenommen wird. Sonst drohe die Gefahr, dass Rechteinhaber ihr Monopol schützen, indem sie klein- und mittelständische Unternehmen oder Entwickler freier Software, die nicht in der Lage sind, sich angemessen rechtlich zu schützen und zu wehren, gerichtlich davon abhalten, in verwandten oder gleichen Entwicklungsgebieten wie sie selbst tätig zu werden.

Die "Anton Pillar Order"

Artikel 8 und 10 der Richtlinie sorgten für weites Aufsehen, da in ihnen die sogenannte "Anton Pillar Order" bzw. auch die "Mareva injunctions", beide bis dato in fast allen Rechtssystemen der Mitgliedsstaaten unbekannte Verfahren der Beweissicherung, eingeführt werden soll. Nach diesen könne ein "zuständiges Gericht" Maßnahmen anordnen, die ähnlich wie in Razzien Beschlagnahmungen bei den Beschuldigten begründen, gegebenenfalls auch ohne Anhörung der Beschuldigten selbst vor der eigentlichen Verhandlung. Mithilfe einer Mareva-Verfügung können zum Beispiel Bankkonten von möglichen Schuldnern "eingefroren" werden, so dass der Besitzer selbst nicht mehr in der Lage ist über sein Konto zu verfügen.

Diese Maßnahmen können sich auch auf vermittelnde Dritte wie Internet Service Provider, Universitäten oder andere Organisationen beziehen, die ihren Kunden/Mitgliedern Zugang zum Internet bereitstellen. Da die Verfahren in erster Linie bei der Geltendmachung zivilrechtlicher Ansprüche genutzt werden, sind grundlegende Rechte wie das auf Privatsphäre gefährdet. Wenn Firmen Produktionsmittel oder Geldsummen ihrer kleineren Konkurrenten aufgrund eines möglichen Rechtsanspruchs beschlagnahmen lassen können, bis das Verfahren (z.B. Patentfeststellung) abgeschlossen ist, kann sich dies erheblich auf die Wettbewerbsfähigkeit des womöglich zu Unrecht Beschuldigten auswirken - bis hin zu dessen Konkurs.

In dem Zusammenhang wurde erst kürzlich die Durchsuchung auf Grundlage einer Anton Pillar Order gegen KaZaA in Australien, von der auch einige Telekommunikationsunternehmen betroffen waren, bekannt. Dies wird von den Bürgerrechtlern zum einen deshalb abgelehnt, weil solche Verfahren bisher in den wenigsten EU-Mitgliedsstaaten zur rechtlichen Praxis gehören. Zum anderen seien gewerbliche Urheberrechtsverletzungen bereits heute strafrechtlich zu verfolgen, weshalb polizeiliche Ermittlungen die Beweise ähnlich sichern könnten. So bleibt mit der möglichen Einführung des neuen Verfahrens ein unverhältnismäßig hohes Missbrauchsrisiko.

Artikel 9 der Richtlinie schreibt zudem ein Auskunftsrecht für die Rechteinhaber geistigen Eigentums vor. Wer im Besitz rechtsverletzender Waren gewerblichen Ausmaßes angetroffen oder bei der Benutzung rechtsverletzender Dienstleistungen ermittelt wurde, müsste demnach damit rechnen, dass zum Beispiel sein Internet Service Provider (ISP) bei Rechtsverstoß mithilfe des Internet Auskunft über seine personenbezogenen Daten oder weitere Indizien bzgl. der rechtsverletzenden Güter geben muss. Experten der Foundation for Information Policy Research (FIPR) fordern diesbezüglich, dass ein Gericht zwischen den entsprechenden Verdachtsmomenten abwägen müsse, um dann zu entscheiden, inwieweit überhaupt ein vorsätzlicher Verstoß stattfand. Artikel 9 dürfe somit auch nur dann Anwendung finden, wenn es sich um Rechtsverletzungen zu gewerblichen Zwecken handle.

Auch aus der Sicht von Datenschützern wird dieser Artikel heftig kritisiert: Nicht nur würden Verbraucherrechte (z.B. informationelle Selbstbestimmung) möglicherweise verletzt, wenn unverhältnismäßig kleine Vergehen dazu führen, dass personenbezogene Daten offengelegt werden müssen (vielleicht sogar ohne direkte Einzelfallentscheidung eines Gerichts). Ebenso müsse der Betroffene davon unmittelbar über Umfang und Begründung der Maßnahme in Kenntnis gesetzt werden. Deshalb sollte festgestellt werden, dass notwendige Beweise oder konkrete Vermutungen einen angemessenen Anspruch der Rechteinhaber auf Auskunft begründen.

Inwieweit Gerichte aber durch eine große Zahl an Auskunftsanträgen seitens der Verwertergesellschaften und Rechteinhabern (vor allem wohl der Musik- und Filmindustrie) überlastet würden, bleibt unklar. Während Datenschützer mindestens die Beachtung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und Erforderlichkeit fordern, indem Gerichte über Auskunftsverfahren individuell entscheiden, wurde Kritik auch an der Bezeichnung dieser Gerichte laut:

Sowohl die Formulierung "judicial authorities" als auch die deutsche Version "zuständige Gerichte" stellt nicht sicher, dass die Anordnung der in der RL vorgesehenen vorläufigen Maßnahmen tatsächlich einer Kontrolle durch einen unabhängigen Richter unterliegen.

Mit Umwegen zum Ziel

Prinzipiell könnte einige Euphorie bei den Richtliniengegner herrschen, schließlich ist im derzeitigen Ratsentwurf der Artikel 21, welcher technischen Schutzvorrichtungen generell einen rechtlichen Schutz gewährleisten sollte, komplett gestrichen worden. Dieser Artikel hätte laut der Experten von IPJustice dazu führen können, dass Regelungen ähnlich wie in den USA mit dem Digital Millenium Copyright Act (DMCA) eingeführt würden, die sich wettbewerbsschädigend auf den gesamten europäischen Markt auswirkten. So könnten Hersteller günstiger Druckerpatronen womöglich mit dem Vorwurf der Umgehung technischer Maßnahmen rechnen, wie dies gegenwärtig in den USA geschieht. Vorstellbar wäre nach FIPR und Datenschützern sogar, dass Verbraucher bestraft werden könnten, nur weil sie zukünftig RFID-Tags in den von ihnen gekauften Produkten deaktivieren und damit gegen die Richtlinie verstießen.

Doch obwohl dieser Artikel vorerst vom Diskussionstisch ist, sieht man die Gefahr, dass über Regelungen in der Richtlinie zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft, vor allem im dortigen Artikel 6 und 7, im Zusammenhang mit dem derzeit weitgefassten Geltungsbereich der Richtlinie dennoch Auswirkungen vergleichbar mit denen von Artikel 21 denkbar bleiben.

Die Umsetzung der Richtlinie könnte neben der Wettbewerbsfähigkeit von klein- und mittelständischen Firmen innerhalb und außerhalb Europas auch Verbraucherrechten im allgemeinen schaden, sofern die Richtlinie ungeachtet der vielseitigen nationalen Rechtslagen der einzelnen Mitgliedsländer im Bereich des geistigen Eigentums zu weit und allgemein gefasst wird. Daher kann trotz zahlreicher Verbesserungen im Laufe des bisherigen Entscheidungsprozesses noch nicht Euphorie bei den Bürgerrechtsgruppen herrschen. Möglicherweise werden sogar in letzter Minute noch Änderungen getroffen, die die gesamte Aussage und Tragweite der Richtlinie noch einmal verändern, ohne dass genügend Zeit für Diskussionen bliebe ( siehe auch: EU schützt geistiges Eigentum).