Fehlende Medienkompetenz
Vielfältige Verflechtungen zwischen Online- und Offline-Welt: Kleine konstruktive Kritik am "Elektrischen Reporter"
Dem "Elektrischen Reporter" (El Rep) fehlt Medienkompetenz. Daher begibt er sich in der jüngsten Ausgabe auf die Suche: Frontmann Mario Sixtus nimmt sich des notorisch unklaren Begriffs an und fordert eine Art terminologisches Moratorium: Das böse M-Wort möge doch bitte so lange nicht mehr verwendet werden, bis wir es endlich mit Inhalten gefüllt haben, die den komplexen Anforderungen des Internet-Zeitalters gerecht werden. Zu Sixtus' sichtlichem Bedauern benutzen aber gerade die um die Screenager besorgten Politiker und Jugendschützer den Begriff immer wieder als semantische Nebelbombe, wenn sie drängende Debatten rasch, kommod und populistisch abkürzen wollen.
Mit dem Medienkompetenz-Hammer lässt sich eben (medien)wirksam zuschlagen, wenn die Jugendlichen mal wieder vor dem Tatort Internet beschützt werden müssen: Denn schließlich ist das Netz im Urteil vieler Erwachsener nichts anderes als ein gefährlicher Maelstrom, in dem sinistre Pädophile im Stile eines Cyber-Svengali nach unschuldigen Kindern fischen, und schließlich halten viele Politiker vor allem schlagzeilentaugliche Phänomene wie Cybermobbing oder Facebook-Partys für die wichtigsten Probleme im Internet.
Petra Pau, die von Sixtus im El Rep exemplarisch vorgeführt wird, ist eine von denen, die wissen, wie man sich wider das Böse wendet: "Gegen Gefahren aus dem weltweiten Gewebe hilft letztendlich nur eins: Medienkompetenz." Auf der einen Seite finden wir demnach die hilf- und ahnungslosen Erwachsenen, die mit leeren Begriffen auf Scheinprobleme zielen, auf der anderen Seite sieht Sixtus die jugendlichen Internetnutzer, die sich im Netz "wie in einem zweiten Zuhause" fühlen, "aus dem sie sich nicht mehr vertreiben lassen".
Diese holzschnittartige Darstellung ist nicht ganz unproblematisch. Denn sie suggeriert, dass den inkompetenten Politikern und Jugendschützern, die keine digital natives sind, kompetente jugendliche Nutzer gegenüberstehen, die sich in ihrem zweiten Zuhause bestens zurechtfinden und der Hilfe Erwachsener gar nicht bedürfen. Über die offensichtlichen Internet-Inkompetenzen der Jugendlichen, die mindestens so schwer wiegen wie die der beschränktesten Politiker, erfährt man in der El-Rep-Episode jedenfalls nichts.
Stattdessen wird man zunächst aufgeklärt, welche falschen Vorstellungen vom Internet die freie Sicht auf den komplexen Gegenstandsbereich behindern: Denn das Internet, so belehrt uns eine Stimme aus dem Off, sei mehr als nur ein Kanal zum Transport neuer Medieninhalte. Hier muss man sich ernsthaft fragen, wer denn heute noch glaubt, man könne das Internet mit einem an Shannon und die Transportmetapher angelehnten Medienbegriff angemessen beschreiben. Kaum jemand. Jeder Student im ersten Semester, der eine halbwegs brauchbare Medieneinführung besucht hat, weiß das. Aber möglicherweise schraubt El Rep hier das Refexionsniveau ganz bewusst herunter, weil er sich nicht an ein medieninteressiertes und mit einiger Vorbildung ausgestattetes Publikum, sondern in Wahrheit direkt an die Politiker richtet, für die selbst solche medientheoretischen Binsenweisheiten neu und kühn erscheinen könnten.
Doch die Merkwürdigkeiten wollen kein Ende nehmen. Gerade hat man sich von dem Schock erholt, dass das Internet gar kein Medium zum Transport von Informationen ist, da wird man erneut erschüttert. Denn El Rep konfrontiert den Zuschauer mit der These, dass Medienkompetenz als Schulfach allenfalls vorübergehend geeignet ist. Und an dieser Stelle muss dann die Frage erlaubt sein, gegen welche argumentativen Windmühlen Sixtus und sein Team eigentlich anrennen. Denn die grundlegende Erkenntnis, dass die Vermittlung von Medienkompetenz Aufgabe aller Fächer ist, weil sie insbesondere stets an spezifische Inhalte geknüpft ist, haben sogar die von Sixtus so gescholtenen (Bildungs-)Politiker schon im letzten Jahrhundert verinnerlicht und das Konzept des medienintegrativen Unterrichts hat sich längst etabliert. Hier war selbst die Kultusministerkonferenz 1995 gedanklich weiter als der El Rep 2011.
Von der Medien- zur Lebenskompetenz
Doch das sind nur marginale Kritteleien an Unwesentlichem, wenn man bedenkt, wie sich der El Rep die Lösung des drängenden Problems der Medienkompetenz und ihrer Vermittlung vorstellt. Sie wird in dem kleinen Filmchen häppchenweise angeboten: Zunächst wird auf - namenlos bleibende - Experten hingewiesen, in deren verbohrten Köpfen der alte, analoge Lebensraum immer noch unverständlicherweise parallel zu einem neuen, digitalen Lebensraum existiert, der eigene Regeln besitzen und neue Kompetenzen erfordern soll. Alsdann ergeht die Empfehlung, die Lehrer mögen doch bitte ihren Schülern mittelfristig und "mutig" ins Netz folgen, mit ihnen dort leben, sich vom "Netspirit" beseelen lassen, den man - natürlich! - nicht vermitteln, sondern nur erleben kann, und dadurch selbst kompetent werden. Das Ziel müsse sein, nicht mehr zwischen Offline- und Online-Lebensraum zu unterscheiden, denn dann werde Medienkompetenz ganz selbstverständlich zu - Achtung! Trommelwirbel! Tusch! - Lebenskompetenz. Und das sei, so die sympathische Stimme aus dem Off, eine "schwierige Vorstellung für Jugendschützer und Politiker, die es gewohnt sind, in Schubladen zu denken, und gerne einfache Patentrezepte präsentieren." In der Tat: Dass Medienkompetenz ganz selbstverständlich zu Lebenskompetenz wird, das ist eine schwierige Vorstellung. Aber immerhin hat man dann einen unklaren Begriff ("Medienkompetenz") durch einen noch viel unklareren ("Lebenskompetenz") ersetzt und kann das M-Wort vermeiden. Dummerweise müsste man ausgerechnet einen Politiker um Rat fragen, wenn man sich im El-Rep-Kompetenz-Gewebe orientieren möchte: Denn wahrscheinlich wird nur Edmund Stoiber, bekanntlich der Erfinder der Kompetenz-Kompetenz erklären können, was die vom Netspirit durchdrungene Lebenskompetenz eigentlich sein soll.
Völlig unverständlich an dieser El Rep-Episode ist, dass so getan wird, als gäbe es seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts keinerlei Entwicklungen auf dem Gebiet der Medienkompetenz. Anstatt sich mit einem der modernen Konzepte auch nur ansatzweise auseinanderzusetzen, holt sich Sixtus mit den ahnungslosen Politikern den denkbar schwächsten Gegner in die argumentative Arena und schlägt dann munter zu. Wenn diese oberflächlichen Darstellungen dann auch noch mit einigen medientheoretischen Binsenweisheiten (s.o.) angereichert und durch bildungspolitische Uninformiertheit (s.o.) ergänzt werden, wird eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Sache durch ein billiges Spiel mit Vorurteilen und Klischees ersetzt.1 Das kann eigentlich nur noch einem Publikum vorbehaltlos gefallen, das in der Filter-Bubble (sensu Eli Pariser) seine Vorurteile im Hinblick auf Politik, Medienkompetenz, Internet, Schule und Lehrer bestätigt sehen will und in dessen komplett persönliches Netz der El Rep genau deswegen Einlass gefunden hat. Wer eine andere Sicht auf die Dinge zumindest versuchsweise wahrnehmen will, mag weiterlesen.
Mangelndes Medialitätsbewusstsein
Es ist vor allem die vom El Rep vorgegebene Zielperspektive, die Trennung zwischen Offline- und Online-Lebensraum aufzugeben, die vor dem Hintergrund aktueller Medienkompetenz-Modelle keine akzeptable Lösung, sondern vielmehr die Verschärfung bestehender Probleme bedeutet. Für Norbert Groeben2 ist beispielsweise das Medialitätsbewusstsein eine wichtige Dimension der Medienkompetenz. Hier geht es - vereinfacht gesagt - "darum, dass Mediennutzer/innen ein Bewusstsein davon haben, dass sie sich nicht in ihrer alltäglichen Lebensrealität, sondern in einer medialen Konstruktion bewegen." (S. 166) Nun könnte man einwenden, dass die Unterscheidung zwischen Online- und Offline-Lebensraum tatsächlich durch das überall verfügbare Internet überflüssig wird, weil das Netz inzwischen ein selbstverständlicher Teil des Alltags ist. Doch das ist ein Fehlschluss, wie sich leicht zeigen lässt: Zum Medialitätsbewusstsein gehört auch die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion. Und fiktionale Medieninhalte sind ebenfalls ein selbstverständlicher Teil unseres Alltags, ohne dass wir deshalb die Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion aufgeben. Im Gegenteil: Jemand, der "Paranormal Activity" für einen Dokumentarfilm hält oder im Theater auf die Bühne springt, um Odoardo daran zu hindern, Emilia zu erstechen, gibt ganz deutlich zu erkennen, dass ihm Medialitätsbewusstsein als wichtige Dimension der Medienkompetenz fehlt. Dass Fiktionales selbstverständlich zum Alltag gehört, hebt den Unterschied zwischen Realität und Fiktion ebenso wenig auf, wie der Unterschied zwischen Online- und Offline-Welt durch die Integration des Internets in den Alltag aufgehoben wird.
Das lässt sich im Übrigen auch daran ablesen, dass die eindeutigsten Dokumente fehlender Medienkompetenz sehr häufig durch fehlendes Medialitätsbewusstsein, d.h. durch ein fehlendes Bewusstsein für die unterschiedlichen Regeln der Online- und Offline-Welt erklärbar sind. Um ein gänzlich unspektakuläres, aber eben alltägliches Beispiel zu nehmen: Dass ein Online-Fotoalbum, das man bei Facebook anlegt, nach anderen Regeln funktioniert als das Offline-Fotoalbum, das man in der Schublade ablegt, scheinen all jene nicht zu wissen, deren "Ich-und-mein-Schatzi-auf-Malle"-Bilder immer noch frei im Netz flottieren. Auch spektakulärere "Fälle" wie Tokio-Hotel-Angie oder das Emo-Girl kann man unter Hinweis auf großen Nachholbedarf im Bereich des Medialitätsbewusstsein zumindest teilweise beschreiben.
Sie wissen nicht, was sie tun
Doch Defizite in dieser Dimension der Medienkompetenz sind keinesfalls nur typisch für pubertierende Jugendliche. Denn wenn man sich einmal ansieht, was ausgerechnet Studienreferendare und Lehrer, die ihren Schülern schon "mutig" ins Netz gefolgt sind, dort mitunter anrichten, wird deutlich, dass auch sie häufig nicht wissen, was sie tun. Einige Beispiele, die sich fast beliebig erweitern ließen, mögen hier genügen: Da ist die Studienreferendarin aus Baden-Württemberg, die bei Twitter einen peinlichen Schwangerschafts-Countdown inszeniert ("still-bhs kaufen. bin mittlerweile bei 95F angekommen") und zwischendurch fremdenfeindliche Witze erzählt, da ist der Lehrer einer Förderschule, der die dümmsten Antworten seiner Schüler direkt aus dem Klassenzimmer zwitschert ("Landeshauptstadt von Bayern: Schweiz"), oder sein Kollege ("Vater, Lehrer, Leser, Gamer"), der sich in 140 Zeichen über eine andere Lehrerin lustig macht, die einen Artikel in einem Archiv statt bei Google sucht. Und auch unter den unzähligen Lehrer-Blogs - die wider so manches Vorurteil in der Regel sehr informativ und seriös sind - gibt es zahlreiche Querschläger, deren Autoren sich im Extremfall - ohne es zu ahnen - in den Vorhof dienstrechtlicher Konsequenzen posten, sich aber gleichzeitig für besonders medienkompetent halten und mit ihren Schülern bei Facebook befreundet sind.
Typisch ist in diesen Fällen eine seltsame Inkonsistenz des eigenen Wissens, die ein wenig an Orwells "doublethink" erinnert: Denn einerseits wissen die Twitterer und Blogger natürlich, dass ihre Texte öffentlich einsehbar sind, andererseits verdrängen sie diesen Umstand beim Schreiben regelmäßig und beständig. Fehlendes Medialitätsbewusstsein kann also mehr sein als nur die schiere Unkenntnis des Unterschieds zwischen Online- und Offline-Welt.
Ganz offensichtlich ist die These, dass Jugendliche vom Internet prinzipiell mehr verstehen als Erwachsene ebenso falsch wie die These, Erwachsene müssten den Jugendlichen nur "mutig" ins Netz folgen und sich vom "Netspirit" durchdringen lasen um selbst kompetent zu werden. Und ganz offensichtlich trägt auch die Tatsache, dass vielen Internetnutzern nicht bewusst ist, dass bestimmte Regeln des Offline-Alltags (z. B. dass man engen Freunden alles erzählen kann) nicht auf den Online-Alltag übertragen werden können (z. B. dass man bei Twitter alles erzählen kann), immer wieder dazu bei, dass die Medienkompetenz-Falle zuschnappt.
Jay David Bolter und Richard Grusin haben die Eigenart digitaler Medien, dem Nutzer vorzugaukeln, er könne gewohnte Nutzungs- und Handlungsregeln befolgen, weil er gar nicht mit etwas Neuem konfrontiert ist, in ihrem Buch "Remediation"3 folgendermaßen erklärt: "The digital medium wants to erase itself, so that the viewer stands in the same relation to the content as she would if she were confronting the original medium." So ist es beispielsweise Teil der Strategie sozialer Netzwerke, dem Nutzer durch eine spezielle Online-Metaphorik ("Pinnwand", "Fotoalbum", "Freunde" etc.) das Gefühl zu geben, er befinde sich in einer Art zweitem Zuhause.
Doch während man sich Offline allerhöchstens im privaten Umfeld blamieren konnte, schicken sich unzählige Internetnutzer an, ihre einst privaten Peinlichkeiten im zweiten Zuhause der Online-Öffentlichkeit auszuleben. Angesichts dieser Tatsache können sich wahrlich nur die Jünger der Post-Privacy-Spackeria entspannt zurücklehnen, die sich auf ein "prima Leben ohne Privatsphäre" freuen. Alle anderen können mit Groeben versuchen, einen differenzierten Blick auf die verschiedenen Dimensionen der Medienkompetenz zu werfen. Dann wird beispielsweise deutlich, dass man sehr häufig Nutzer findet, die in den Dimensionen (a) der konkreten technologisch-instrumentellen Fertigkeiten, (b) der medienspezifschen Genussfähigkeit und (c ) der Nutzung produktiver Partizipationsmuster erhebliche Kompetenzen besitzen, gleichzeitig aber vor allem im Bereich (d) des Medialitätsbewusstseins und (e) der medienbezogenen Kritikfähigkeit erhebliche Defizite aufweisen.
Anders ausgedrückt: Tokio-Hotel-Angie, Emo-Girl & Co. können Videos mit der Webcam aufnehmen und bei YouTube online stellen, haben aber keinen blassen Schimmer davon, was sie damit auslösen. Und die meisten Erwachsenen - die oben genannten Beispiele einmal ausgeklammert - hätten Angie und das Emo Girl warnen können, weil sie in den Dimensionen des Medialitätsbewusstseins und der medienbezogenen Kritikfähigkeit einen Vorsprung besitzen, auch wenn sie sich technisch mit dem Internet nicht besonders gut auskennen und wenn ihnen völlig unverständlich ist, warum man überhaupt Videos bei Youtube online stellen sollte.
Diese knappe Skizze soll zeigen, dass sich durch die Brille des Medienkompetenz-Konzepts von Groeben durchaus ein differenzierter Blick auf die vielfältigen Verflechtungen zwischen Online- und Offline-Welt ergeben kann. Doch Groebens Ansatz ist komplex und die Sendezeit des El Rep ist begrenzt. Nicht nur die im Beitrag mehrfach gescholtenen Experten, sondern auch die El Rep-Redaktion ist daher manchmal gezwungen, in Schubladen zu denken und nach einfachen Lösungen und Patentrezepten zu suchen. Ob man allerdings durch die Auseinandersetzung mit tumben Politikerphrasen, das Warten auf den Netspirit, die Nivellierung des Unterschieds zwischen Online- und Offline-Welt sowie die Ersetzung von Medienkompetenz durch Lebenskompetenz einen einzigen Schritt weiterkommt, mag bezweifelt werden.