Fessenheim: Das Dorf, das Europa erpresst
Da von Macron nicht zu erwarten ist, das gefährliche AKW Fessenheim stillzulegen, muss die Bundesregierung handeln - Ein Kommentar
Nach der erfreulichen Wahl von Emmanuel Macron diskutiert die Öffentlichkeit auf beiden Seiten des Rheins eifrig über einen Beitrag, den die Bundesrepublik leisten könne und müsse, um den neuen Präsidenten vor einem Scheitern zu bewahren. Denn das würde Marine Le Pen und ihrem Front National noch mehr Auftrieb verschaffen.
Von Europas letzter Chance ist die Rede, die man auf keinen Fall verstreichen lassen dürfe. Sollen die Deutschen mehr investieren, mehr konsumieren, weniger exportieren? Brauchen wir ein Eurobudget, einen Euro-Finanzminister und Eurobonds? Wie kann eine nachhaltige Zusammenarbeit aussehen? Es empfiehlt sich ein Blick auf die Grenzregion, das gute alte Elsass. Angesichts seiner konfliktreichen Geschichte, die in ein gutnachbarliches Verhältnis mündete, sollte es eigentlich ein europäisches Musterländle sein. Ist es aber nicht.
In den beiden rheinischen Départements bekam der proeuropäische Macron nur 61% der Stimmen im zweiten Wahlgang, während es Marine Le Pen auf überdurchschnittliche 39% brachte. Im Haute-Rhin war der Abstand mit 59% zu 41% noch etwas geringer. Während Macrons Bewegung En Marche in Städten wie Straßburg, Colmar, Mulhouse sensationell gut abschnitt, triumphierte Le Pen auf dem Land, in kleinen Kommunen und in den Vogesen.
Berücksichtigt man außerdem gut 25% Stimmenthaltungen und ungültige Voten, in denen sich die Anhängerschaft des Linkssozialisten Mélenchon ausdrückte, dann muss man wohl auf eine starke antieuropäische und antideutsche Grundstimmung im südlichen Elsass schließen. Dabei handelt es sich gar nicht um eine schwache oder arme Region Europas, die Menschen sind weder abgehängt noch deklassiert, weder perspektivlos noch verzweifelt. Trotzdem hassen sie Frau Merkel so heftig, dass sie Frau Le Pen zu lieben begonnen haben.
Da wir ihnen eigentlich nichts Böses angetan haben, liegt es nahe, eine Ursache der Verstimmung in dem andauernden Streit um das Atomkraftwerk Fessenheim zu sehen. Tatsächlich: In der kleinen Gemeinde Fessenheim erhielt Marine Le Pen 51% in der Stichwahl. Jetzt lachen sie sich dort ins Fäustchen: Denen da oben haben wir es gezeigt ...
Die FN-Wähler wissen genau, dass Atomkraftwerke nicht ewig laufen können und sie wissen auch, dass dieses Werk seine ursprünglich vorgesehene Laufzeit längst überschritten hat (Fessenheim außer Kontrolle). Sie haben 40 Jahre lang von den Annehmlichkeiten profitiert, mit denen Nuklearunternehmen die Bevölkerung an ihren Standorten korrumpieren. Sie möchten diesen komfortablen Zustand so lange wie möglich aufrechterhalten und sie geben den Deutschen die Schuld daran, dass ihr Nuklearparadies seinem Ende entgegensieht. Das bedeutet, das nukleare Risiko bis zum Äußersten zu treiben ("Besorgniserregende Sicherheitslage" in französischen Atomkraftwerken).
Beerdigung der nuklearen Sicherheitsphilosophie
Dieses Verhalten mag aus einer Kirchturmsicht verständlich sein. Aus europäischer Sicht ist es inakzeptabel. Ein GAU im AKW Fessenheim würde französische und deutsche Landschaften für mindestens hundert Jahre irreparabel schädigen, die französische Wirtschaft geriete unwiderruflich ins Hintertreffen, und die deutschen Abbilder der elsässischen FN-Wähler würden sich mit aller Kraft einer gemeinschaftlichen europäischen Anstrengung verweigern, um die Folgen einer solchen Katastrophe zu einzudämmen. Wenn die baden-württembergischen und hessischen Trinkwasser-Reservoirs radioaktiv kontaminiert sind, kann man sich leicht vorstellen, wie es um die deutsch-französische Freundschaft dann bestellt sein wird. Werden wir dann die Idioten sein, die um Solidarität mit elsässischen Faschisten werben, weil sie Opfer ihres eigenen Wahns geworden sind?
Das wäre absurd. Sagen wir es anders, um von der deutschen Politik besser verstanden zu werden: Das wird teuer. Deshalb ist es im Interesse Europas und vor allem im Interesse des Elsass, diesem provinziellen Wahnsinn ein Ende zu setzen. Doch der neugewählte Präsident, dem Mut und Entschlossenheit nachgesagt werden, hat erklärt, in dieser Frage die Politik seiner Vorgänger fortsetzen zu wollen. Fessenheim soll stillgelegt werden, wenn der Europäische Druckwasserreaktor in Flamanville in Betrieb geht. Dieses von der sozialistischen Umweltministerin Ségolène Royal formulierte Junktim ist nicht mehr und nicht weniger als die Beerdigung der nuklearen Sicherheitsphilosophie. Die Sicherheit des AKW Fessenheim hat mit den Fortschritten des Neubaus an der Küste der Normandie nichts zu tun. Die beiden Themen müssen vollständig entkoppelt werden.
Da von Macron leider nichts zu erwarten ist, liegt das Gesetz des Handelns bei der Bundesregierung. Dem Problem wird man aber nicht gerecht, wenn man dem französischen Staat größere finanzielle Spielräume einräumt, damit er sich höher verschulden kann, um sein Elektrizitätsunternehmen EDF noch stärker zu subventionieren, das dann vielleicht die Risse und Versprödungen in Fessenheim noch einmal verschweißen könnte. Das ist weder neoliberal noch sozialliberal, sondern einfach nur Geldverschwendung.
Es muss jetzt auch nicht mehr groß diskutiert werden: Argumente sind zur Genüge ausgetauscht worden. Die kostengünstige, ökologische und zukunftsfähige Lösung wäre ein Angebot an Frankreich, dass es den Strom, der nach einer Stilllegung von Fessenheim importiert werden muss, zum Nulltarif beziehen kann. Das Angebot müsste für 5 Jahre gelten, die Kosten könnten sich der Bund und die Länder Baden-Württemberg und Hessen teilen. Für eine solche Fessenheim-Lösung braucht man kein europäisches Finanzministerium und keine Zustimmung aller Euroländer. Die Subventionierung kann das Elsass nutzen, um innerhalb von 5 Jahren eine Versorgung mit erneuerbaren Energien aufzubauen. Oder sie lassen es bleiben. Das Atomkraftwerk muss jedenfalls in den Rückbau gehen.
Im AKW Fessenheim sind 850 Menschen beschäftigt. Weitere 2.000 Arbeitsplätze bieten die Zulieferbetriebe für das Kraftwerk. Von einer Stilllegung wären also 3.000 Familien betroffen. Man müsste sich Gedanken über Ersatzarbeitsplätze, Sozialpläne, Umschulungen, neue Perspektiven machen und wie das zu finanzieren wäre. Dafür gibt es jedoch kein Mandat. Die Mehrheit der ortsansässigen Wähler hat den Front National beauftragt, sich darum zu kümmern. Das ist nun mal so und war bestimmt Absicht. Nehmen wir es einfach hin.
Es gibt noch ein Thema, das angesprochen werden muss. Die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) und die ihr nahestehende Gewerkschaft CGT haben sich in der Vergangenheit als entschiedene Vorkämpfer für den Weiterbetrieb des überalterten AKWs profiliert. Sie meinten, auf diese Weise die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten. Man sieht nun, wie sich die Wähler dafür bedanken. Aus diesem Dilemma wieder herauszukommen, wird nicht leicht sein.
Doch es sind Gewerkschafter und Linke, die - bei allen Meinungsverschiedenheiten - einen Anspruch auf Solidarität und Beistand haben. Da gibt es kein Vertun. Trotzdem müssen sich die KollegInnen die Frage gefallen lassen, wann eigentlich ihre letzten Faschismus-Schulungen stattgefunden haben und wie gut sie besucht waren.
Am Schluss die Zusammenfassung für Schnell-Leser: Wenn Macron wirklich so mutig wäre, wenn Frau Merkel und Herr Schäuble wirklich so interessiert am deutsch-französischen Verhältnis wären und wenn alle zusammen so europäisch wären, wie sie es von sich behaupten, dann gäbe es direkte, schnelle und in ihrem finanziellen Aufwand überschaubare Lösungen für einige gefährliche und scheinbar hochdiffizile Probleme. Aber das wollen sie ja gar nicht. Die Energiewende soll eine deutsche Spezialität bleiben, die unserer Ängstlichkeit und unserem Ökofimmel Tribut zollt. Mehr war nie vorgesehen.