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Festigkeit des Herzens: Von der Erfindung der Alufolie zum Sitzkind

Achtung! Feind hört mit!

Das Dritte Reich im Selbstversuch, Teil 14: "Flucht ins Dunkel" und "Achtung! Feind hört mit!"

Heute wenden wir uns noch einmal Arthur Maria Rabenalt zu, dem Honorarprofessor der Universität Bayreuth, der einer der meistbeschäftigten Regisseure des Dritten Reichs war und seiner eigenen Darstellung nach immer nur Filme ablieferte, die irgendwo zwischen unpolitischer Unterhaltung, innerer Emigration und subtilem Widerstand anzusiedeln sind. Auf dem Programm stehen zwei Werke, die uns darüber aufklären, wie schlimm die Weimarer Republik war, was die Engländer für Verbrecher sind (die Franzosen sind auch nicht besser) und warum der Schuster bei seinen Leisten bleiben sollte. Sonst kommt der Henker und schlägt ihm den Kopf ab.

September 1914. Deutsche Truppen im Vormarsch auf Paris. Drei Kilometer von Senlis entfernt treffen sich die Soldaten Paul Gildemeister (Ernst von Klipstein) und Ernst Engelbrecht (Joachim Gottschalk). Der Chemiker Dr. Gildemeister leitete im zivilen Leben die Forschungsabteilung der Wrede-Werke, Engelbrecht war sein Laborant. Bei Kriegsausbruch war Gildemeister in der Fabrik von René Laroche in Senlis tätig, einem Lizenznehmer der Firma Wrede, um die Arbeiter auszubilden. Außerdem hat er eine Aluminiumlegierung mit der Zerreißfestigkeit von Stahl entdeckt. Die Forschungsunterlagen musste er in einem Versteck zurücklassen. Diese kriegswichtigen Dokumente will er jetzt holen. Aber dann wird der Vormarsch gestoppt. "Wir siegen und gehen zurück!" beklagt sich ein Oberst. So ist das im NS-Film immer. Eigentlich hätten die Deutschen den Krieg gewonnen, aber sie durften nicht, weil es Feinde in den eigenen Reihen gab, die jüdische Weltverschwörung, die Pazifisten und so weiter. So wie hier bleibt meistens offen, wer genau den Sieg vereitelt hat, weil sich dann der jeweils aktuelle Feind einsetzen lässt.

Dunkle Republik

Gildemeister will sich allein nach Senlis durchschlagen. Weil er dabei sterben könnte, gibt er seinem Freund Engelbrecht den Schlüssel zum Bankschließfach mit seinem Geld, sagt ihm das Kennwort und stellt ihm eine Vollmacht aus. Engelbrecht möchte an den Tod nicht denken und verbrennt die "Ermächtigung" (Dialog). Gildemeister gerät in französische Gefangenschaft und wird in Abwesenheit von den eigenen Leuten wegen Fahnenflucht verurteilt, weil Engelbrecht bei einem Granateneinschlag verwundet wurde und den wahren Sachverhalt nicht aufklären kann. Die nächsten vier Jahre verbringt Gildemeister in einem französischen Gefangenenlager. Als dort 1918 die Nachricht vom Kriegsende eintrifft, ist der Jubel unter den Deutschen groß. Gildemeister allerdings kann französische Zeitungen lesen und klärt die Kameraden darüber auf, was der Friede von Versailles zu bedeuten hat.

Flucht ins Dunkel

Dieser aufgezwungene Friede, sagt er, ist gar keiner, sondern "der schändlichste Betrug […], den die Welt je gesehen hat", weil nämlich:

Deutschland tritt seine sämtlichen Kolonien und ausländischen Besitzungen ab. Deutschland liefert seine Handelsflotte und Seekarten aus. Deutschland tritt 70.000 Quadratkilometer Boden ab. Sechseinhalb Millionen Deutsche kommen unter fremde Herrschaft. Die gesamten linksrheinischen Gebiete werden besetzt. Kolonialsoldaten marschieren in deutsche Städte ein [...].

Auflistungen dieser Art dienten der NS-Propaganda dazu, Deutschland als das Opfer fremder Mächte und die eigene Aggression als Notwehrmaßnahme gegen die Folgen des Versailler Vertrages darzustellen. Rabenalt, der Schöpfer unpolitischer Filme, illustriert das mit schwarzen Soldaten der französischen Armee, die durch deutsche Städte marschieren und mit Bildern von deutschen Kriegsgräbern. Dr. Gildemeister resümiert: "Und wenn mich jetzt noch einer fragt, ob ich mich freue, dann kann ich ihm nur sagen: Lieber noch zehn Jahre hinter diesem gottverfluchten Stacheldraht als so nach Hause!"

Flucht ins Dunkel

Prompt sitzt er ein Jahr später immer noch in dem Lager, von dem aus er nun bald die dem Film den Titel gebende "Flucht ins Dunkel" antreten wird. Das Dunkle ist, metaphorisch gesehen, die Weimarer Republik. Da marschieren zwar keine Schwarzafrikaner mehr durch die Straßen, wohl aber bewaffnete Rote, die Kommunisten. Nachts fallen Schüsse, weil das eine Welt ohne Führer und daher voller Unordnung ist. In den Wrede-Werken raucht kein Schornstein mehr. Der alte Wrede ist gestorben. Sein Sohn und Erbe baut die Belegschaft ab, bereitet den Verkauf des Unternehmens an ausländische Investoren vor und hat eine kostspielige Geliebte. Rita - verkörpert von der allzeit lasziven Hilla Hofer - ist Animierdame in einem Nachtlokal, wo ein Schwarzer im Orchester sitzt und Estelle den pornographisch anmutenden Tanz "Der Mammon und das Weib" aufführt. "Mammon" ist ein schwarzes Muskel- und Potenzpaket mit Maske und Leuchtaugen.

Flucht ins Dunkel

Rabenalt, würde ich nach der Lektüre einiger seiner Romane sagen, lebt da seine Art von Erotik aus, die er den Voyeuren im Publikum augenzwinkernd präsentiert und zugleich desavouiert, weil dieser Nachtclub - als Sinnbild der Weimarer Republik - eindeutig ein Ort des Bösen ist. Hier verabredet sich Dr. Wrede mit einem Kaufinteressenten, einem britischen Nähmaschinenfabrikanten. Der Preis, den der Brite bietet, ist eine Unverschämtheit. Wrede lehnt ab. Der Fabrikant will ruhig abwarten, weil er weiß, dass die Zeit auf seiner Seite ist: täglich verliert die deutsche Mark gegenüber dem Pfund an Wert. Der Brite ist ein übler Spekulant. Wenn dieser Film nicht Stimmung gegen Großbritannien machen würde (Berlin-Premiere war am 17. Oktober 1939), könnte der Mann auch ein deutsch-jüdischer Börsenschieber sein.

Der Kriegsheimkehrer Engelbrecht ist entsetzt, als er von Wredes Verkaufsplänen hört: "Unsere Verfahren, unsere Patente, unsere Lizenzen sollen vom Ausland verwertet werden?" Das gilt es zu verhindern. Jetzt erweist es sich als schwerer Fehler, dass Engelbrecht die von Gildemeister ausgestellte "Ermächtigung" verbrannt hat. So etwas sollte man schon haben, damit es in Deutschland wieder besser wird, und die Macher des Films hatten sicher nichts dagegen, wenn sich die Zuschauer im Dritten Reich dabei an Hitlers "Ermächtigungsgesetz" vom März 1933 erinnerten. Der guten Sache wegen fälscht Engelbrecht die Vollmacht. So kann er die im Wert stark gestiegenen Aktien der kanadischen Eisenbahn beleihen, die Gildemeister im Safe hat. Mit dem Geld kauft er die Wrede-Werke. Dort arbeitet er wie früher mit Barbara zusammen, der Tochter des alten Firmenchefs und Verlobten von Gildemeister.

Flucht ins Dunkel

Weil die patente Barbara Wrede (Hertha Feiler, die ein paar Monate nach Abschluss der Dreharbeiten Heinz Rühmann heiratete) alle Versuchsprotokolle aufbewahrt hat, können sie und Engelbrecht jetzt auch ohne Gildemeister an der Legierung forschen. Letzterer bricht aus dem Lager aus, als er erfährt, dass Laroche seine veralteten Fabrikgebäude in Senlis abreißen will. Von den Einfällen des Drehbuchautors ist das, rein handwerklich gesehen, einer der besseren. Er treibt die Handlung voran und transportiert zugleich eine Propagandabotschaft: Die Franzosen modernisieren ihre Industrie, während die Deutschen die ihre verschrotten müssen, wenn sie der Rüstung dient und unter der Last der Reparationszahlungen zusammenzubrechen drohen.

Alufolie oder Maniküre?

Für Gildemeister, den entflohenen Kriegsgefangenen, ist die Suche nach den in der Fabrik versteckten Forschungsunterlagen doppelt gefährlich. Man könnte ihn für einen Spion halten, denn René Laroche produziert für das Militär. Hilfe bekommt er von Renés Schwester Madeleine, die Gildemeister herzlich zugetan ist. Sie will die Unterlagen für ihn aus dem Versteck holen, kann diese jedoch nicht finden. Als Gildemeister schließlich aufgegriffen wird, verwendet sich Madeleine für ihn. Einmal muss doch Friede sein, sagt sie. Statt den Deutschen den Behörden zu übergeben, zahlt ihm ihr Bruder den noch ausstehenden Lohn aus, damit er nach Hause fahren kann. Von Soldat zu Soldat schüttelt man sich die Hände. Goebbels kam der Franzose in dieser im März oder April 1939 gedrehten Szene zu gut weg. Vor der Uraufführung im Oktober, als Nazi-Deutschland mit Frankreich bereits im Krieg lag, musste sie gekürzt werden.

Wer will, kann das Rabenalt zugute halten wie Stefanie Mathilde Frank, die in ihrem Buch über seine NS-Filme schreibt: "Selbst in der […] um das Einverständnis des deutschen und französischen Soldaten beschnittenen Fassung erscheint die Szenerie in Frankreich nicht im Zeichen der Feindschaft oder Verleumdung." Das verkennt eine der zentralen Aussagen von Flucht ins Dunkel. Die Diffamierung der Franzosen in solchen Propagandafilmen ist subtiler als etwa die der - aus Nazi-Sicht - "rassisch minderwertigen" Russen, die immer saufen und Frauen vergewaltigen. Laroche, stellt sich heraus, hat Gildemeisters Unterlagen längst entdeckt. Als deutscher Ehrenmann hätte er sie treuhänderisch für diesen aufbewahrt. Als Franzose hat er sie prüfen lassen. Die Wiederholung des Experiments misslang. Nur weil sie wertlos zu sein scheinen, darf Gildemeister die Papiere mit nach Hause nehmen. Merke: Der Deutsche forscht und macht Erfindungen. Der Franzose ist darauf angewiesen, sie zu verwerten. Vor dem Krieg hat Laroche bei der Firma Wrede Lizenzen erworben und in Gestalt von Dr. Gildemeister deutsches Know-how importiert. Jetzt würde er die Dokumente mit der Willkür des Siegers für sich behalten, wenn er sich einen Vorteil davon versprechen würde. Von seinem ritterlichen Gehabe, sagt der Film, sollte man sich nicht täuschen lassen.

Flucht ins Dunkel

Auch die Feinde dürfen im NS-Kino die deutsche Kultur bewundern. Laroche zeigt Gildemeister zum Abschied voller Stolz seine bibliophile Ausgabe von Goethes Faust (ob er die wohl rechtmäßig erworben, geklaut oder als Kriegsgewinnler an sich gebracht hat?). Von Goethe überblendet Rabenalt auf die Unkultur der Weimarer Republik, auf den von Dr. Wrede frequentierten Nachtclub, in dem aufrechte deutsche Beamte eine Razzia durchführen wollen und frustriert wieder abziehen müssen, weil der Polizeipräsident einer von den Gästen ist (höchste Zeit, soll das heißen, dass die Nazis an die Macht kommen und in diesem Saustall aufräumen). Der Erbe der Wrede-Werke hat übrigens die Forschungsabteilung geschlossen, weil er nur am schnellen Profit interessiert ist und sein Geld lieber dafür ausgibt, sich von Suzanne aus dem Salon der Madame Paulette die Hände maniküren zu lassen. Das sind die Errungenschaften der Franzosen, die der Film präsentiert.

Gildemeister schafft es glücklich bis zur deutschen Grenze, wo er erfährt, dass er damals, 1914, wegen Fahnenflucht verurteilt wurde, ihm die Strafe nach dem Krieg aber durch eine allgemeine Amnestie erlassen wurde. Diese Amnestie ist ein Problem, weil man sie einerseits braucht, damit Gildemeister seine Reise fortsetzen kann, der Zuschauer jedoch andererseits nicht auf den Gedanken kommen soll, dass so eine Amnestie eine gute Sache sein könnte (das sahen die Nazis ganz und gar nicht so). "Bedanken Sie sich bei unserer famosen Regierung dafür", sagt deshalb ein deutscher Wachtmeister voll Verachtung. Dann wird noch die Information nachgeschoben, dass Gildemeister nun auf Kosten der Gefangenenfürsorge in die Heimat abtransportiert wird. Das ist gut für den Helden und gut für die NS-Propaganda. Auf diese Weise hat man untergebracht, dass in der Weimarer Republik fahnenflüchtige "Vaterlandsverräter" einen Freifahrtschein nach Hause kriegten, und das zu Lasten braver deutscher Kriegsgefangener.

Flucht ins Dunkel

In leitender Funktion in den Wrede-Werken tätig ist Dr. Marlow. Der Name soll wohl signalisieren, dass dieser von Siegfried Schürenberg (der Sir John aus den Edgar-Wallace-Filmen) gespielte Herr englischer Herkunft ist und die Deutschen bereit zur internationalen Kooperation sind, wenn es sich um "gute" Ausländer handelt. Ein solcher ist Dr. Marlow, denn er und Barbara Wrede unterstützen Ernst Engelbrecht, den neuen Chef, dessen Bemühungen um den Erhalt der Firma und ihrer Arbeitsplätze vom missgünstigen Dr. Wrede torpediert werden. Aufbauend auf Gildemeisters Forschungen gelingt es Engelbrecht, unter Einsatz aller Kräfte die Aluminiumlegierung mit der "Festigkeit von gutem Stahl" zu entwickeln. Danach kann er ganz auf die Produktion von Alufolien umstellen und die Lebensmittelindustrie mit Verpackungsmaterial beliefern, während der Franzose Laroche, der Geschäftspartner von früher, für das Militär arbeitet. Somit wäre auch geklärt, wer hier für den Frieden ist und wer für den Krieg.

Wir sind alle Soldaten

Der mittlerweile für tot gehaltene Gildemeister kommt endlich heim und glaubt sich von Engelbrecht betrogen, als ihm der Bankdirektor die gefälschte Vollmacht zeigt. Dr. Marlow und der Prokurist der Wrede-Werke beweisen ihm, dass Engelbrecht doch sein Freund ist: Gleich nach dem Erwerb der Firma hat er diese Gildemeister überschrieben. Doch was macht man mit Barbara? Sie kann sich inzwischen vorstellen, Engelbrecht mehr als eine gute Kameradin zu sein. Am einfachsten wäre es, die schöne, Gildemeister herzlich zugetane Madeleine aus Senlis anreisen zu lassen (zum Beispiel, weil sie es nicht länger tolerieren will, dass ihr Bruder Geld mit der Aufrüstung verdient). Dann könnte man eine Doppelhochzeit feiern. Die Erzählstruktur des Films ist eigentlich darauf ausgerichtet. Das geht nun aber nicht, weil Madeleine eine Französin ist. Also muss sich Barbara doch noch entscheiden.

Im NS-Kino regiert das hierarchische Prinzip. Der Ranghöhere kriegt die Frau. In Flucht ins Dunkel wird das dadurch ein wenig komplizierter, dass Krieg und Frieden schwer voneinander zu trennen sind. Am Anfang ist Engelbrecht Unteroffizier und Gildemeister einfacher Soldat. Im zivilen Leben allerdings hat Gildemeister einen Doktortitel. Engelbrecht hat keinen und war vor dem Krieg des Doktors Assistent. Außerdem darf man von so einem Nazihelden, der Hertha Feiler heiraten soll, etwas mehr erwarten als den Rang eines Unteroffiziers. Barbara findet das auch und erkennt nach kurzem Überlegen, dass sie doch die Frau von Dr. Gildemeister ist. Aber im Grunde bietet der Film eine Dreierlösung an, weil sich Gildemeister und Engelbrecht so gut ergänzen. Der eine ist draufgängerisch und genialisch und entfernt sich schon mal von der Truppe, wenn es die höheren Werte erfordern. Der andere bleibt auf seinem Posten und treibt die Forschungen so lange voran, bis die Lebensmittelindustrie ihre Produkte in Alufolie einwickeln kann. Deutschland braucht sie alle beide. Wirklich überzeugend ist das nicht. Durch die Figurenkonstellation, und weil Madeleine aus ideologischen Gründen in Frankreich bleiben muss, hat sich der Film in eine Sackgasse manövriert, aus der Rabenalt nicht recht herauskommt.

Flucht ins Dunkel

Für Dr. Gildemeister ist es enttäuschend, als er erfahren muss, dass seine Aluminiumlegierung erst durch Engelbrechts Experimente so hart wie Stahl geworden ist und die Alufolie ganz ohne die Papiere entwickelt wurde, für die er so viel geopfert hat. Diese Legierung schafft mehr Probleme, als sie löst. Die Suche nach ihr befördert den Plot und verbindet die beiden Handlungsstränge, bringt aber Gildemeister in die Bredouille, weil es dumm für den Helden ist, wenn nicht er selbst, sondern sein bester Freund die Erfindung macht. Ich kann da kein subversives Unterlaufen des üblichen Erzählmusters feststellen, nur handwerkliches Unvermögen. In der Not tröstet die Heldin Gildemeister mit einem jener Sprüche, mit denen die Nazis so manches ihrer Verbrechen, verpackt in einen vorgetäuschten Idealismus, rechtfertigten: "Nichts ist sinnlos, was man um einer Idee willen tut." Nach dieser Erkenntnis treten Barbara und die beiden Freunde an das Fenster des Direktorenzimmers, öffnen den Vorhang und blicken hinaus auf die nun wieder rauchenden Schornsteine der Fabrik. "Wir sind doch Soldaten", sagt Dr. Gildemeister zum Schluss. "Wir müssen weiter kämpfen für eine bessere Zukunft." Ist das nicht schön?

Flucht ins Dunkel

Und was war das noch mal für eine Idee, deretwegen Gildemeister am Beginn des Films fahnenflüchtig wurde und dann fünf Jahre in einem französischen Gefangenenlager verbringen musste? Ach ja, da ging es gar nicht um die Alufolie. "Aber jetzt im Kriege!" sagt Soldat Gildemeister zu Unteroffizier Engelbrecht, bevor er losmarschiert, um seine Aufzeichnungen aus Senlis zu holen. "Menschenskind, das ist doch gar nicht auszudenken, was wir alles damit anfangen können." Was fängt man also damit an, im Kriege? Selbstverständlich setzen die Deutschen die Legierung zu rein defensiven Zwecken ein, weil sie nur in den Kampf ziehen, wenn sie die bösen Ausländer dazu zwingen. Und die Feinde versuchen immer, die deutschen Erfindungen zu stehlen, weil sie selbst nicht in der Lage sind, welche zu machen. Damit sind wir bei einem Spionagefilm von Arthur Maria Rabenalt angelangt, dessen Titel zur geflügelten Sentenz wurde: Achtung! Feind hört mit!

Festigkeit des Herzens und der Hierarchie

Südwestdeutschland, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Dr. Hellmers, Leiter der Forschungsabteilung der Kettwig-Werke, hat eine Legierung entwickelt, die es ermöglicht, den geschmeidigsten, leichtesten und zerreißfestesten Draht der Welt herzustellen. Dieser Draht ist ideal für Ballonsperren, die feindliche Flugzeuge daran hindern sollen, deutsche Industrieanlagen zu bombardieren. Ein General der Wehrmacht kommt zur Werksbesichtigung. Zur Entourage des Generals gehört Fritz Böttger, der in der BRD auf Drehbuchautor umsattelte und 1959 mit Ein Toter hing im Netz (auch Regie) einen der wenigen Exploitation-Klassiker des deutschen Kinos der Adenauerzeit schuf. Hier verkörpert er Hauptmann Burger von der Gegenspionage. Burger warnt Hellmers vor feindlichen Agenten, die bereits auf die Kettwig-Werke angesetzt seien und gewinnt ihn als Verbindungsmann der Abwehr im Betrieb. Das transportiert eine wichtige, am Schluss noch einmal wiederholte Botschaft: Überall können Leute stecken, die den Behörden (etwa der Gestapo) Bericht über das erstatten, was sie beobachten. Aber nur zum Schutz vor Spionen und sonstigen Bösewichten.

Außer Dr. Hellmers kennen noch dessen Assistentin und Sekretärin Inge Neuhaus (Lotte Koch, die meistens das deutsche Mädel spielte und darum auch den Helden kriegte) und der Ingenieur Bernd Kettwig (Rolf Weih) das Geheimnis der Legierung, der Sohn des Firmenchefs. Kettwig junior wäre gern zur Luftwaffe gegangen, statt kriegswichtige Dinge zu entwickeln und hat vom Senior ein Sportflugzeug der Marke Bücker Student geschenkt bekommen. Damit bringt er Hauptmann Burger zurück zum Oberkommando der Wehrmacht in Berlin (tatsächlich flog die Maschine Beate Uhse, die in der BRD mit einem Versandhandel für Sexartikel reüssieren würde), während Inge beim Kauf von Fachliteratur einen charmanten Herrn kennenlernt (René Deltgen), der sich als Karl Ludwig Faerber vorstellt. Der in Esch-sur-Alzette geborene Deltgen war 1939 von Goebbels zum Staatsschauspieler ernannt worden und diente der Propaganda als das Paradebeispiel eines perfekt ins Reich integrierten Luxemburgers. 1940, als Achtung! Feind hört mit! gedreht wurde, hingen in seiner von Nazi-Deutschland überfallenen Heimat Plakate mit seinem Konterfei, die für den Eintritt in die Hitler-Jugend warben. Deltgens Landsleute nahmen ihm das übel. Nach dem Ende des Dritten Reichs wurde er wegen Landesverrats zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt (ohne sie je abzusitzen) und musste eine hohe Geldstrafe bezahlen.

Achtung! Feind hört mit!

Der weltgewandte Faerber ist ein britischer Spion. Die Norwegerin Kirsten Heiberg, von der Werbung zur "erotischen Botschafterin des hohen Nordens" ernannt und in Filmen dieser Art auf die Femme fatale spezialisiert (Falschmünzer; Die goldene Spinne), spielt seine Komplizin. Im echten Leben war sie mit Franz Grothe verheiratet, der die Musik zu Achtung! Feind hört mit! schrieb; die Älteren werden ihn noch als "Kapellmeister" von Heinz Schenk in der ARD-Sendung Zum blauen Bock kennen. Als Fräulein Lilly aus Paris eröffnet Kirsten Heiberg zur Tarnung einen Modesalon. Faerber lädt Inge zu Lillys Modenschau in Baden-Baden ein und Bernd Kettwig, dem die beiden unterwegs begegnen, kommt auch mit. Nach der Modenschau besucht man spontan das Spielcasino. Weil Inge dafür nicht richtig angezogen ist, darf sie sich eins von Lillys teuren Designerkleidern leihen (und dann behalten). Rabenalt, der Fachmann für verkniffene Erotik, nützt die Gelegenheit und folgt ihr in den Umkleideraum, weil da die Models in Unterwäsche sitzen.

Achtung! Feind hört mit!

Am Roulettetisch wird Bernd auf Herrn Grelling (Rudolf Schündler) aufmerksam, der in der Firma seines Vaters als Zeichner arbeitet. Die Szene erfüllt zwei Funktionen. Die eine ist dramaturgisch. Der durch seine Spielsucht in Geldnot geratene Grelling wird als potentieller Verräter und leichte Beute für die Spione eingeführt. Die andere ist ideologisch und zeigt, wie verlogen die Nazis waren, die sich dreist als die Interessenvertreter der Arbeiter und der Unterprivilegierten ausgaben und doch eine streng hierarchisch aufgebaute Gesellschaft propagierten, in der jeder auf seinem Platz zu bleiben hatte.

Achtung! Feind hört mit!

Zu Beginn des Films teilt eine Laufschrift mit, dass es bei der Spionage "nicht nur um die Geheimnisse der Laboratorien und Waffenschmieden" geht. "Ebensosehr geht es um die Treue, die Verschwiegenheit und Festigkeit des Herzens. Denn: Nur bei den Schwächen des Einzelnen vermag die feindliche Spionage anzusetzen. Für den Betroffenen bedeutet das ein Leben in ewiger Angst, ein Ende in Unglück und Schande." Und wie wird man ein "Betroffener"? Zum Beispiel, indem man das Spielcasino besucht, in dem man nichts verloren hat, weil man nur ein einfacher Zeichner ist wie Grelling. Kettwig jun., der Sohn des Fabrikbesitzers und Inge Neuhaus geraten im Casino zwar auch in Gefahr, werden dieser jedoch entkommen, weil sie zu den besseren Kreisen der Gesellschaft gehören (Inge lebt mit ihrer Mutter in einfachen Verhältnissen, aber ihr verstorbener Vater war Bürgermeister). Eine ganz ähnliche Szene gibt es in Flucht ins Dunkel. Da trifft Wrede jun. im Nachtclub den Lagerverwalter Müller, der sich die Animierdamen nur leisten kann, weil er die Bücher frisiert und Geld abzweigt. Beide, Grelling und Müller, verlassen den ihnen von der Volksgemeinschaft zugewiesenen Platz innerhalb eines vertikalen Systems. Dafür werden sie von der jeweiligen Filmhandlung kriminalisiert und aus dieser Gemeinschaft entfernt (der eine durch Entlassung, der andere per Hinrichtung). So sichert man die Einhaltung der Standesgrenzen.

Achtung! Feind hört mit!

Patente Sekretärin vs. Femme fatale

Grelling wird von den britischen Agenten mit Hilfe von Nolte angeworben, der eigentlich verzichtbar erscheint und doch sehr wichtig ist. Das NS-Kino mochte Adelige, Offiziere, gut situiertes Bürgertum, geniale Forscher und patente Sekretärinnen des Chefs, Leute aus den unteren Rängen hingegen nicht so sehr. Das war natürlich irgendwie auch peinlich, denn schließlich stand das "A" in NSDAP für "Arbeiter". Was also tun, um zu kaschieren, dass man die Arbeiterschaft für die von den Nazifilmen erzählten Geschichten im Grunde gar nicht braucht? Hier sind Figuren wie Nolte und Müller nötig. Wenn Müller in den Wrede-Werken keine Gerüchte über den neuen Chef streuen würde, um die Belegschaft gegen diesen aufzubringen, käme sie nur noch in Gestalt einiger Malocher vor, die selbigem Chef dafür zu Dank verpflichtet sind, dass er ihre Jobs erhält. Das wäre doch arg wenig, denn immerhin ist Flucht ins Dunkel ein Film über eine Fabrik.

Achtung! Feind hört mit!

Nolte ist Kellner in der Kantine der Kettwig-Werke. Das ermöglicht einige Szenen mit Arbeitern bei Tisch, die sogar ein paar Dialoge sprechen dürfen, als würde sich jemand dafür interessieren, was sie zu sagen haben. Logischerweise speisen bei der Firma Kettwig alle Teile der Belegschaft im selben Raum, mit Bedienung durch den Kellner, weil das zum Bauprinzip von solchen Filmen gehört: bei günstiger Gelegenheit betont man die Volksgemeinschaft, damit dem Publikum nicht zu bewusst wird, wie streng hierarchisch die Gesellschaft ist. Kellner Nolte hat noch eine weitere Scharnierfunktion. Die geographische Nähe der Kettwig-Werke zum Elsass, das auf der Annektionsliste der Nazis ganz weit oben angesiedelt war, durfte propagandistisch nicht ungenutzt bleiben. Darum wohnt in Straßburg Monsieur Bock, ein mit den Spionen im Bunde stehender Wucherer (= Jude) mit ordinärer Ehefrau und buckeligem Schreiber, der Nolte 800 Mark für allgemein zugängliche Informationen über neue Bauten auf dem Firmengelände bezahlt hat und ihn nun erpressen kann. Höchste Zeit, sollte sich der Zuschauer dabei denken, diesem Gesindel endlich das Handwerk zu legen. Zu diesem Zweck (und zur Tilgung der "Schande von Versailles") musste erst die Wehrmacht in Straßburg einmarschieren, was vor der Berliner Uraufführung von Flucht ins Dunkel am 3. September 1940 bereits geschehen war.

Nolte wird außerdem zur Komplettierung gebraucht, denn die Figuren des Films sind paarweise organisiert. Dr. Hellmers ist als Abwehrbeauftragter der Statthalter von Hauptmann Burger. Monsieur Bock wird von seiner Gattin unterstützt. Spion Faerber arbeitet im Team mit Madame Lilly, die zwei Models in ihrem Modesalon beschäftigt. Zwei von den Deutschen - Nolte und Grelling - mangelt es an jener "Festigkeit des Herzens", die es braucht, um den Avancen der ausländischen Bösewichte zu widerstehen. Zwei andere sind zwar anfällig, bringen die erforderliche Festigkeit letztlich aber auf, weil sie aus der richtigen sozialen Schicht stammen. Bei Bernd Kettwig weiß man es gleich am Anfang, weil er der Sohn des Fabrikbesitzers ist und weil er ein Hakenkreuz auf seinem Flugzeug hat. Bei Inge Neuhaus dauert es etwas länger. Um das wettzumachen wird sie keine Sekunde zögern, wenn es darauf ankommt.

Ein Grundübel des NS-Kinos besteht darin, dass es so wenig mit seinen Darstellerinnen anzufangen weiß. Die durchschnittliche Heldin hat nicht viel zu tun, weil sie Triebverzicht leisten muss, damit sich der Mann auf seine staatstragenden Aufgaben konzentrieren kann (Erfindungen machen, als Soldat gegen Feinde kämpfen etc.). Die Spionagefilme heben sich angenehm davon ab, weil hier ausnahmsweise nicht hausfrauliche Fertigkeiten, Duldsamkeit und Kameradschaft gefragt sind, sondern Verführungskünste. Inmitten des gesammelten Chauvi- und Patriarchentums, mit dem die NS-Propaganda sonst die Leinwand zumüllte, ist das ein wahres Labsal. Kirsten Heiberg darf nicht nur ihre Sinnlichkeit akzentuieren, sie muss es als Madame Lilly geradezu, weil sonst die Handlung im Morast des NS-Frauenideals stecken bleiben würde. Leider kann der als Erotomane eher spießige Rabenalt der Versuchung nicht widerstehen, einen Spiegel aufzustellen, damit man sie von hinten im Unterrock begaffen kann.

Achtung! Feind hört mit!

Umgekehrt gibt René Deltgen den Playboy, der das Weibliche in Inge Neuhaus wecken muss, weil das die Voraussetzung dafür ist, dass er als Romeo-Agent aktiv werden kann. Hätte es doch mehr Spionagefilme im Dritten Reich gegeben. Aber natürlich waren den Nazis Genres wie der Kriminal- oder der Horrorfilm suspekt, weil man da das Verführerische am vermeintlich Bösen zeigen muss, damit sich eine spannende Handlung entwickeln kann. Dieses Risiko ging man selten ein. Das Publikum hätte nämlich auf den Geschmack kommen und mehr potente Spione und sinnliche Frauen verlangen können, statt sich mit der burschikosen Sekretärin, dem Engel im Haushalt, dem ewig abwesenden Soldaten oder dem Mann im Forscherkittel zu bescheiden, der nichts lieber tut, als unzerreißbare Drähte zu erfinden.

Achtung! Feind hört mit!

Aber sind alle Briten Playboys und Verführer? Eher nicht. Aus Sicht der Propaganda ist die von Deltgen gespielte Figur des Faerber problematisch, weil Ressentiments gegen die Briten insgesamt geschürt werden sollen, nicht nur gegen solche, die deutschen Frauen teure Designer-Kostüme schenken, um sie ins Bett zu kriegen und ihnen da kriegswichtige Informationen zu entlocken. Wer könnte das britische Establishment besser repräsentieren als ein Aristokrat? Also wird Sir Reginald entsandt, um sich mit seinem Agenten Faerber zu treffen und beim Golfen über die Geheimnisse zu sprechen (Englisch mit Untertiteln), die ausspioniert werden sollen. Die Messerschmidt und die Stukas sind dabei, und eben dieser von den Kettwig-Werken entwickelte Draht mit der Aluminiumlegierung, der bei den Ballonsperren eine rein defensive Verwendung findet. Im Modell sehen die Ballons ein wenig aus wie aufgeblasene Kondome. Das ist sicher Zufall, obwohl Rabenalt der Regisseur war.

Achtung! Feind hört mit!

Den Briten kann der Draht nur gefährlich werden, wenn ihre Bomber über Deutschland fliegen. Den Worten Sir Reginalds ist zu entnehmen, dass er für die Ballonsperren vor London gebraucht wird. Das ist einerseits zu erwarten (die Briten müssen stehlen, weil sie selbst zu dumm zum Erfinden sind) und verwundert doch ein wenig, weil alles andere im Film darauf hinweist, dass der Gegner ein Aggressor ist (die Nazis verbrämten ihre Angriffskriege gern als "Notwehr"). Ich würde sagen, das ist eine der in solchen Filmen häufig anzutreffenden Versicherungen. In einer Diktatur konnte der Feind von heute der Freund von morgen sein, und umgekehrt. Da war es empfehlenswert, solche Elemente einzustreuen, damit man bei Änderungen der politischen Lage das Gegenteil von dem behaupten konnte, was früher galt.

Achtung! Feind hört mit!

Offenbar sind die britischen Angriffspläne schon sehr konkret, denn Sir Reginald macht Druck auf Faerber, der endlich liefern soll. Nun wird sich zeigen, wer in der deutschen Volksgemeinschaft bleiben darf und wer seinen Platz in ihr verwirkt hat. Weil in den NS-Spionagefilmen Sex und Landesverrat eng beieinander liegen, hat Inge den Agenten erstmals mit in ihre Wohnung genommen, als dieser in erotisch aufgeladener Atmosphäre versucht, sie zu überreden, ihm ein Stück des Drahts mitzubringen. Inge weist das empört zurück, wirft Faerber hinaus und eilt sodann voll Unruhe in die Fabrik. Kettwig jun. hätte eigentlich Nachtdienst, lässt sich aber von Madame Lilly ein französisches Lied vorsingen und verschläft den Dienstantritt im Bett der Circe, in postkoitaler Erschöpfung. Auch im NS-Film kann der Geschlechtsverkehr nur symbolisch vollzogen werden. Rabenalt lässt seine Figuren mit gemeinsam oder in verfänglicher Lage gerauchten Zigaretten hantieren, als habe er an den Hollywood-Produktionen der Zeit studiert, wie man das macht. Howard Hawks allerdings kann es viel besser (siehe To Have and Have Not und The Big Sleep).

Hitler als Schutzpatron und Säulenheiliger

Es sagt viel über das Menschenbild in einer Diktatur, wie umstandslos Bernd und Inge, soeben noch in Liebe zu Lilly respektive Faerber entbrannt, auf den Weg der Tugend (und zur Gestapo) zurückfinden, wenn die staatsbürgerliche Pflicht ruft. So ist er eben, der deutsche Mensch. Und wehe, wenn nicht! Kellner Nolte wird in den Kettwig-Werken beim Spionieren erwischt, schießt einen Arbeiter nieder, flieht nach Straßburg, wird von Monsieur Bock, dem er nichts mehr nützen kann, der französischen Polizei übergeben und an Deutschland ausgeliefert. "Da drüben", meint ein deutscher Polizist, "liebt man zwar den Verrat, aber bestimmt nicht den Verräter." Zeichner Grelling, wie Nolte ein schwacher Mensch, gibt zu, dass er geheime Pläne photographiert und die Kamera in der Handtasche von Inge versteckt hat (der Schuft!), die sich deshalb - im Konferenzzimmer mit dem Hitlerkopf - einem peinlichen Verhör durch die Gestapo stellen musste. "Was am Ende Ihres Weges steht", sagt jetzt ein Gestapo-Mann zu Grelling, "wissen Sie ja!" Das ist die übliche, standesabhängige Gnadenlosigkeit des NS-Films, die mich immer wieder erschreckt. Wenn der Sohn des Chefs mit der Spionin schläft, drückt man schon mal ein Auge zu. Für einen einfachen Zeichner wie Grelling gibt es kein Pardon. Das Zynische daran: Die Herkunft bestimmt den Charakter. Grelling erliegt den Verlockungen der Spione, weil er ein einfacher Zeichner ist. Kettwig jun. widersteht im entscheidenden Moment, weil seinem Vater die Fabrik gehört - und weil wir jetzt im Dritten Reich sind.

Achtung! Feind hört mit!

Das ist eine interessante Entwicklung. Wrede jun. (Flucht ins Dunkel), der Stammgast im Nachtclub, war Fabrikerbe und trotzdem ein Schurke, weil er in der Weimarer Republik mit der Animierdame Rita schlief. Damals gab es korrupte Strukturen, und darum mussten neue Helden (Gildemeister und Engelbrecht) die Führung übernehmen, an die Stelle von dekadenten Erben wie Wrede treten. Der Übergang wurde sehr sanft gestaltet, weil Engelbrecht nach der Erfindung der Alufolie zurück ins Glied trat und Gildemeister, der neue Firmeninhaber, Barbara heiratete, die Tochter des alten. In Achtung! Feind hört mit! hat in der deutschen Gesellschaft alles wieder seine Ordnung, weil die Nazis die Macht übernommen haben. Kettwig jun., der Playboy mit Sportwagen und Privatflugzeug, schläft mit der Spionin und ist trotzdem - durch Geburt - einer von den Guten, weil er der Fabrikerbe ist. Im Casino von Baden-Baden wird auch keine "Negermusik" mehr gespielt wie im Nachtclub des Jahres 1919. Dafür tritt eine fast nackte, golden angemalte Dame mit Stöckelschuhen auf und bietet einen dieser an das Bodenturnen erinnernden Tänze dar, die im Dritten Reich als erotisch galten. (Rabenalt scheint sie gut gefallen zu haben. Sie ziert die Rückseite des Schutzumschlags seines Buches über Goebbels.)

Achtung! Feind hört mit!

Der Arbeiter bleibt sowieso, wo er immer war: in der Hierarchie ganz unten. Kein Industrieller braucht sich mehr zu sorgen. Kettwig sen. erhält lukrative Rüstungsaufträge vom Militär, und der Betrieb bleibt in der Familie. Aus Verbundenheit grüßt der Chef mit "Heil Hitler", und im Konferenzzimmer der Firma steht der Kopf des Führers auf einer Säule. Dem Inhaber zur Seite gestellt wird Christian Kaißler, der einen von den Offizieren in Unternehmen Michael [1] spielt und den Landgerichtsdirektor in Ich klage an [2]. Hier ist er der Drahtentwickler Dr. Hellmers. Als solcher lässt er sich öfter in der Werkshalle sehen und hält den Kontakt zu den Arbeitern. In seinem Büro hängt ein Bild von Hitler an der Wand, visionär in die Ferne blickend. In der dem Bild gegenüber liegenden Wand zwischen dem Büro und dem Labor ist eine Scheibe eingelassen. Davor steht Inges Arbeitstisch. An diesem Tisch spielt sich eine Menge ab - immer mit Adolf Hitler, dem zu bewerbenden Produkt, im Hintergrund. Mir fällt kein anderer NS-Film ein, in dem es so viele Einstellungen mit Führerbild gibt wie in diesem. Das ist nicht schlecht gemacht. Hitler hängt unaufdringlich an der Wand und ist stets als eine Art Schutzheiliger mit dabei. In einer Diktatur, deren gleichgeschaltete Medien diesen Massenmörder als Heilsbringer verkauften, wirkte das sicher ganz anders als heute.

Achtung! Feind hört mit!

Trotz vieler Feinde ist man gut aufgehoben in einer Welt, über die der Führer wacht. Bernd Kettwig fährt zum Modesalon, um Madame Lilly zur Rede zu stellen. Er will soeben die Polizei anrufen, als schon die Gestapo kommt und die Spionin verhaftet, ehe sie sich nach Paris absetzen kann. Dabei gibt sich Phyllis, eines der beiden Models, als Abwehragentin mit dem guten deutschen Namen Elisabeth Lüdeke zu erkennen. Die Botschaft: Die deutschen Sicherheitsbehörden haben die Sache im Griff. Wenn aber überall der Geheimdienst stecken kann, ist der deutsche Volksgenosse gut beraten, sich sofort bei den Behörden zu melden, wenn er etwas Verdächtiges beobachtet hat. Andernfalls könnten demnächst die Herren von der Gestapo bei ihm klingeln, um zu fragen, warum er es nicht getan hat.

Mein Bild vom Dritten Reich war lange von den Komödien und Operetten geprägt, die im Fernsehen liefen und einem suggerierten, dass sich die NS-Verbrechen irgendwo anders zugetragen haben mussten und nicht in dem Land, in dem Heinz Rühmann komische Abenteuer erlebte und Marika Rökk sang und tanzte. "Sich zutragen" ist die richtige Formulierung, denn es hätte gar keine denkbaren Täter gegeben, wenn uns das Fernsehen nicht auch noch Filme wie Canaris (1955) ins Haus geliefert hätte. Da erfährt man, dass der Chef der Abwehramtes im Oberkommando der Wehrmacht und seine Agenten (Canaris, Wehrmacht, Agenten: gut) die Gegner des Chefs des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich (böse) und seiner Schergen von der Gestapo (auch böse) waren, woraus sich ein Deutschland mit vielen Guten und einigen wenigen Verbrechern konstruieren ließ. Für diese Großtat der gefälligen Vergangenheitsbewältigung gab es das Prädikat "Besonders wertvoll" und mehrere Bundesfilmpreise.

Achtung! Feind hört mit!

Beim Sehen von Achtung! Feind hört mit! könnte man fast glauben, dass die Abwehr nicht etwa gegen SS und Gestapo opponierte wie Admiral Canaris im Film der Adenauer-Zeit, sondern mit diesen zusammenarbeitete (im echten Leben traf sich Canaris zu der Zeit, in der Rabenalts Film spielt, fast täglich mit Werner Best, Heydrichs Stellvertreter im Sicherheitsdienst des Reichsführers-SS und in leitender Funktion bei Aufbau und Ausrichtung der Gestapo tätig). Im Büro des zum Abwehrbeauftragten ernannten Dr. Hellmers hängt noch ein Bild an der Wand: nicht das von Admiral Canaris, sondern das von Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und Chef der Polizei. Man sieht es zum ersten Mal in einer Szene, in der Zeichner Grelling, kürzlich von den Spionen angeworben, in Hellmers’ Büro kommt, um sich für die Nachtschicht zu melden, weil er dann die geheimen Pläne photographieren will. Auch das ist geschickt gemacht. Deutschlands Sicherheit ist in Gefahr. Himmler und jene, die ihm unterstehen oder mit ihm kooperieren, werden diese Gefahr abwenden. Und über allen thront Adolf Hitler. Als sich Grelling nachts ins Labor schleicht, fällt von draußen Licht in Hellmers’ Büro. Hinter dem Verräter leuchtet das Hitlerbild auf wie ein Warnsignal.

Spion Faerber klaut Bernd Kettwigs Flugzeug (tatsächlich geflogen wurde es wieder von Beate Uhse), um über die Grenze zu entwischen, hat aber das Pech, dass die Kettwig-Werke und die Streitkräfte gerade eine Übung abhalten. Sein Ende wird zur Demonstration des deutschen Defensivwillens. Verfolgt von Kampfflugzeugen, die ihn problemlos abschießen könnten, gerät er in die erstmals erprobte Ballonsperre. Die messerscharfen Drähte mit der Aluminiumlegierung, an denen die Ballons hängen, rasieren ihm die Tragflächen ab und er stürzt in den Tod. Bernd Kettwig, der schneidige Juniorchef, hat entdeckt, dass Inge Neuhaus eine attraktive junge Frau ist (und eine Deutsche, kein Flittchen aus dem Ausland). Zwischen den beiden deutet sich eine Romanze an.

Achtung! Feind hört mit!

In seinem Buch Joseph Goebbels und der "Großdeutsche" Film berichtet Rabenalt von Querelen zwischen dem Minister und Admiral Canaris, der sich Achtung! Feind hört mit! gewünscht und für die fachmännische Beratung durch die Spionageabwehr gesorgt habe. Goebbels habe verlangt, dass Faerber am Strang des Henkers sterben müsse. Canaris sei der Ansicht gewesen, dass Faerber nur seine Pflicht getan habe und darum einen ehrenvollen Soldatentod sterben müsse. Schließlich habe er, Rabenalt, eigenmächtig ein "salomonisches Urteil" gefällt und den Spion an der Ballonsperre abstürzen lassen. Goebbels habe erst getobt und diese Lösung dann akzeptiert. Das kann man glauben oder nicht. Ich habe Zweifel, weil das, was sich Rabenalt spontan ausgedacht haben will, von langer Hand vorbereitet ist. Kettwig jun. besitzt nur aus dem Grund ein Flugzeug, damit Faerber es stehlen kann.

Für Verräter gibt es nur eine Strafe. Am Schluss stehen die Arbeiter der Kettwig-Werke vor dem Brett mit den Bekanntmachungen. Nolte und Grelling, ist da zu lesen, wurden am 25. Juni 1939 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 3. Juli hingerichtet. Recht so, meinen die Arbeiter, und Dr. Hellmers fordert sie zu weiterer Wachsamkeit auf, weil die Gefahr noch nicht vorüber sei. Auch das ist gut gemacht. Hier erschließt sich der tiefere Sinn einer Szene, die bisher verzichtbar zu sein schien. Nach seiner Enttarnung als Spion versteckt sich Kellner Nolte in einem Ofen in der Fabrik. Die ihn verfolgenden Arbeiter zünden ein Feuer an, um ihn auszuräuchern. Nolte kann entkommen, was man aber in der Fabrik zunächst nicht weiß. Er scheint ums Leben gekommen zu sein. Dr. Hellmers sagt bedauernd, dass nun auch die Arbeiter ihre Strafe erhalten müssen, weil sie Nolte getötet haben.

Achtung! Feind hört mit!

Eine Warnung vor Selbstjustiz hätte man einfacher haben können. Benötigt wurde hingegen eine Vorbereitung auf das Ende mit der Bekanntmachung. Die angekündigte (und wegen Noltes Entkommen nie vollzogene) Bestrafung der Arbeiter soll suggerieren, dass das Dritte Reich ein Rechtsstaat ist, ohne Willkür und Lynchjustiz. Hellmers taucht in der letzten Szene noch einmal auf, um die Verbindung zwischen dieser vermeintlichen Rechtsstaatlichkeit und dem Volksgerichtshof herzustellen. Dieses mit zuverlässigen NS-Sympathisanten und Sadisten besetzte Gericht war jedoch ein Instrument des Staatsterrors. Gegen seine Urteile gab es keine Berufungsmöglichkeit (daher der kurze Abstand zwischen Urteilsverkündung und Exekution). Dieses Ende erinnert daran, dass die Spionagefilme des Dritten Reichs Reklame für den zunächst nur in Berlin ansässigen Volksgerichtshof machten, der bald nach der Premiere von Achtung! Feind hört mit! Filialen in anderen Städten eröffnen würde, um seiner "volkshygienischen Aufgabe" (das rasche Aburteilen von "Volksschädlingen") logistisch Herr zu werden. Mit Gerechtigkeit hatte das nichts zu tun, weil es kein rechtsstaatliches Verfahren gab. Es geht hier nicht um die Frage, ob Landesverrat mit dem Tod bestraft werden sollte oder nicht, oder wie das in anderen Ländern gehandhabt wird, sondern um die Legitimierung einer Terrororganisation wie des Volksgerichtshofs. So kann einem auch bei diesem Film - trotz der für das NS-Kino unüblichen Freisetzung von männlicher Libido und weiblicher Sinnlichkeit - wieder einmal schlecht werden.

Mit deutschem Gruß

Nach Stauffenbergs Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 (in Adenauers Kino, in Der 20. Juli, aus Gründen der vergangenheitsbewältigenden Kontinuität von Wolfgang Preiss begangen, dem engsten Mitarbeiter des Admirals in Canaris) wurde auch bei der Wehrmacht der "Führergruß" angeordnet. So lange wollen Rabenalts Soldaten nicht warten. In der nächsten Folge dieser Artikelreihe werden wir René Deltgen als zur Flak eingezogenen Rechtsanwalt wiedersehen. Der Film Fronttheater spielt im Jahr 1941. Deltgen als Soldat Paul Meinhardt grüßt abwechselnd auf Naziart und auf die herkömmliche Weise des Militärs. Auch das ist Propaganda. So wurde 1942, als Fronttheater Premiere hatte, ein scheinbar harmonischer Übergang von der einen Grußform auf die andere vorbereitet. Das durfte nicht zu abrupt sein, weil 1942 bei der Wehrmacht üblicherweise eben nicht der Hitlergruß verwendet wurde. Zumindest entnehme ich das den gängigen militärhistorischen Standardwerken.

Auch in Achtung! Feind hört mit!, dem Film von 1940, ist genau überlegt, wer wann den Hitlergruß zeigt. Am Anfang, beim Besuch der Wehrmacht in den Kettwig-Werken, grüßen die Herren Offiziere wie gewohnt. Auf dem Weg zum Labor ist im Hintergrund der ausgestreckte Arm eines Mannes vom Werksschutz zu sehen (kein Soldat, aber in Uniform). Am Ende des Besuchs verabschieden sich Hauptmann Burger und Dr. Hellmers mit Hitlergruß voneinander (Inge macht auch mit) - in der Variante mit abgewickeltem Arm, die Chaplin in The Great Dictator persifliert, weshalb es heute bestimmt anders wirkt als damals im Dritten Reich. Bei diesen beiden hat das besonderes Gewicht, weil wir vorher erfahren haben, dass sie für die Sicherheit des Landes sorgen: Burger als Offizier der Abwehr, Hellmers als dessen Verbindungsmann und als Erfinder des Drahts für die Ballonsperren. Am Schluss des Films wird das noch einmal aufgenommen, damit wir nicht vergessen, wer die Männer sind, die sich um uns kümmern (inzwischen ist einer von der Gestapo mit dabei). Das sind die mit dem "deutschen Gruß".

Das in den beiden letzten Absätzen Gesagte ist nicht mehr als eine Überlegung. Bei den NS-Filmen ist man allzu oft auf Spekulationen angewiesen. Wer grüßt da wann und wie? Der Sache auf den Grund zu gehen ist schwierig bis unmöglich, weil die in Frage kommenden Filme auf einer uralten Verbotsliste stehen oder in Fassungen verfügbar sind, von denen einem keiner sagen kann, was nach 1945 genau herausgeschnitten wurde. Das mit dem Hitlergruß erwähne ich, weil es bezeichnend, nicht weil es heute noch besonders wichtig ist. Sogar unser gesichertes Wissen über NS-Paraphernalien wie Führerbilder, Hakenkreuze und SS-Standarten im Kino des Dritten Reichs, die so offensichtlich sind, dass sie der Dümmste noch bemerkt, ist extrem bescheiden, weil es solche Symbole sind, die in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt haben, dass Filme gekürzt oder komplett verboten wurden, um uns vor Propaganda zu schützen, oder vor peinlichen Momenten, weil ein Neonazi im Publikum dummes Zeug reden könnte, wenn ein Hakenkreuz auf der Leinwand erscheint, oder aus was für einem Grund auch immer (nicht mal das lässt sich mit Bestimmtheit sagen, weil man eigentlich nur weiß, dass es verbotene Filme gibt, die verboten sind, weil sie irgendwann verboten wurden).

Mit solchen kosmetischen Operationen bleibt man aber an der Oberfläche (Faustregel: Film mit Führerbild = Propaganda; Film ohne Führerbild = keine Propaganda). Indem man einzelne Stücke entfernt, wie bei vielen Filmen aus der NS-Zeit geschehen (bei anderen hingegen aus unbekannten Gründen nicht), erhält man die Fiktion von der harmlosen Unterhaltung aufrecht, die dann auch die Kinder sehen dürfen. Allerdings ändert sich in der Regel am ideologischen Gehalt des Ganzen äußerst wenig, wenn man einzelne Stücke entfernt (und um diesen Gehalt sollte es doch gehen, nicht um die Hakenkreuze). Diese Erkenntnis ist ein alter Hut. Bei den NS-Filmen wird trotzdem so getan als ob. Was dabei herauskommt, lässt sich auf Websites wie dieser hier [3] studieren.

Rabenalts Achtung! Feind hört mit! ist bis zum Platzen mit NS-Propaganda vollgestopft (was nicht automatisch heißt, dass er im Jahr 2012 so gefährlich ist, dass man ihn verbieten müsste). Doch die User fragen sich hier ratlos, wo sie denn stecken könnte, die Propaganda - abseits von "Grüßen, Uniformen und Abzeichen". Wie wäre es mit der Reklame für den Volksgerichtshof, den Engländern als spionierenden Aggressoren, dem rein defensiv ausgerichteten Nazideutschland, Straßburg als Operationsbasis für jüdische Wucherer und feindliche Agenten (zur Rechtfertigung des Einmarschs), einer an der Führerpyramide orientierten Gesellschaft und so weiter? Die etwas merkwürdige Diskussion auf dieser Website sagt wenig über die User aus und sehr viel über unseren im wahrsten Sinn des Wortes symbolischen Umgang mit dem NS-Kino.

Wir haben eingeübt, uns so sehr auf die Oberfläche mit den Nazi-Insignien zu konzentrieren, dass wir nicht mehr sehen können, was darunter liegt. Aber unter der Oberfläche, wenn überhaupt, spielt sich die Art von Propaganda ab, von der man sich zumindest vorstellen könnte, dass sie heute noch wirksam ist. Und jetzt die Preisfrage: Wie wird das wohl bei den Filmen sein, die bald nach dem Krieg, nach Entfernung von ein paar Hakenkreuzen oder in voller Länge, wieder freigegeben wurden? Ist das harmlose Unterhaltung, weil keiner eine Uniform anhat? Oder ist es doch ein bisschen komplizierter? Das soll kein Plädoyer sein, auch noch Heinz Rühmann und Marika Rökk zu verbieten. Nur: Wenn man den einen Film freigibt und den anderen wegen NS-Propaganda in den Giftschrank sperrt, sollte man wenigstens wissen, wo die Propaganda steckt. Hakenkreuze und Führerbilder sind die Spitze des Eisbergs, mehr nicht.

Übrigens habe ich geschummelt. Nur Flucht ins Dunkel ist ein Vorbehaltsfilm, Achtung! Feind hört mit! hingegen nicht. Genauso hätte man nur Achtung! Feind hört mit! verbieten können, oder beide, oder beide freigeben. Beim "verantwortungsbewussten Umgang" mit dem braunen Filmerbe regiert sowieso das Zufallsprinzip. Es gibt eine von den Alliierten geerbte Verbotsliste, aber weder einen Plan noch eine Strategie. NS-Spionagefilme hatten generell gute Chancen auf eine Freigabe, weil die da verwendeten Erzählmuster leicht für den Kalten Krieg zu adaptieren waren. Eine offenbar irgendwie gekürzte, 93 Minuten lange Fassung (Details konnte ich nicht in Erfahrung bringen) von Achtung! Feind hört mit! wurde 1981 durch die FSK ab 12 Jahren freigegeben. Seit der zweiten FSK-Prüfung von 1996 muss man 18 sein, um die nun 92-minütige Version sehen zu dürfen. Wer einen Computer bedienen kann, schaut sich die Digitalisierung der früher vertriebenen Videokassette im Internet an (etwa bei archive.org), was bisher noch nicht dazu geführt hat, dass die Welt eingestürzt wäre. Die Lauflänge von knapp 90 Minuten ergibt sich aus der PAL-Beschleunigung (25 Bilder pro Sekunde statt 24 wie im Kino).

Goebbels war sehr angetan von Achtung! Feind hört mit!. "Sehr gut geworden", notierte er am 20.8.1940 in sein Tagebuch. "Der deutsche Film macht augenblicklich einen kühnen Sprung nach oben. Das ist nach den vielen Mühen und Enttäuschungen sehr erfreulich." Alles, was ich hier beschrieben habe, ist in der Fassung mit FSK-Freigabe enthalten. Am stärksten von den Kürzungen betroffen ist meines Wissens der Anfang. Jetzt beginnt der Film direkt in den Kettwig-Werken. Das Publikum im Dritten Reich sah vorher eine pseudo-dokumentarische Einleitung mit dem britischen Premierminister Neville Chamberlain, der nach der Unterzeichnung des Münchner Abkommens (30.7.1938) zurück nach London fliegt und heuchlerisch den Appeasement-Politiker gibt, während er insgeheim den Krieg vorbereitet und eine Intensivierung der Rüstungsspionage anordnet. So wurde der Zuschauer darüber aufgeklärt, dass die britische Regierung das Kriegsgerät ausspionieren wollte, das die friedliebenden Deutschen dringend brauchten, um sich gegen ausländische Aggressoren zu schützen (am liebsten durch einen Angriffskrieg).

Der FSK, die für ihre "Prüfung" auch noch Geld nimmt, haben wir es also zu verdanken, dass eine Version von Achtung! Feind hört mit! im Umlauf ist, aus der entfernt wurde, was heute, im Jahr 2012, jedem halbwegs intelligenten Menschen gleich in den ersten Minuten zeigen würde, dass das ein Propagandafilm ist. Die Botschaft selbst ist intakt geblieben. Man erkennt sie nur nicht mehr so leicht als Propaganda. Das war der Traum von Joseph Goebbels. Die FSK darf sich glücklich schätzen, dass es in der Hölle kein Telegraphenamt und keinen Internetanschluss gibt. Sonst hätte der Minister womöglich ein aufmunterndes "Weiter so!" geschickt.

Epilog mit Führer

Das wäre auch die Antwort, die ich User zwi geben möchte: Alle anderen Möglichkeiten können nur besser sein als diese Farce. Zwi hat zur letzten Folge dieser Reihe einen Kommentar verfasst, in dem er (oder sie) von mir wissen will, ob man etwa Jud Süß wie einen ganz gewöhnlichen Film im Kino zeigen solle? Gegenfrage: Was würden wir nur machen, wenn wir Jud Süß nicht hätten? Dann würden die Befürworter von Verboten mit einem Schlag alle ihre Argumente verlieren. Sie müssten über Filme reden, von denen sie noch weniger kennen als die drei Ausschnitte aus Jud Süß, die uns immer vorgeführt werden, damit wir lernen, was Nazi-Propaganda ist. Natürlich gab es diese Propaganda, das Regime nützte sie nach Kräften, und ich persönlich habe keinen Zweifel, dass sie in den Köpfen vieler Leute schlimme Dinge anrichtete - mit Langzeitfolgen, über die wir fast nichts wissen, weil wir den Austausch von auf Fakten gestützten Argumenten durch Verbote ersetzen.

Ich will nicht ausschließen, dass solche 70 Jahre alten, in einer Diktatur entstandenen und auf die in einer Diktatur vorherrschenden Rezeptionsbedingungen zugeschnittenen Filme heute, in einer demokratischen Gesellschaft mit Informationsfreiheit und in einem historisch völlig anderen Kontext, noch gefährlich sind und deshalb verboten werden müssen. Aber bitte mit nachvollziehbarer Begründung. Wo, User zwi, ist die zu finden? Eine schwarze Liste mit mehreren Dutzend Titeln kann man nicht damit rechtfertigen, dass es Jud Süß gibt. Seit März 2010 erscheint diese Artikelserie bei Telepolis. Es gab viele Kommentare, Leser haben mir direkt geschrieben, das Münchner Filmmuseum hat eine Podiumsdiskussion zum Thema veranstaltet. In zweieinhalb Jahren habe ich genau zwei "Gründe" gehört oder gelesen (die in meinen Augen keine sind).

1. Wenn Jud Süß ganz normal im Kino laufen würde (immer nur dieser eine von ca. 40 Filmen), könnte das zu unangenehmen Momenten führen - unangenehm, weil man sich womöglich dem Antisemitismus stellen müsste, dessen Vorhandensein in unserer Gesellschaft sich nicht damit erklären lässt, dass Veit Harlan Jud Süß gedreht hat. Gut. Verbieten wir Jud Süß und auch Die Rothschilds. Was ist dann mit den anderen? Und was tun wir mit Jew Süss der Emigranten Lothar Mendes und Conrad Veidt (da hat Harlan abgekupfert) und mit der Hollywood-Produktion The House of Rothschild (beide 1934), der Goebbels mit Die Rothschilds eine Version für Antisemiten entgegensetzen wollte? Aufführungen dieser beiden Werke sind mehrfach daran gescheitert, dass sie von einer erregten Öffentlichkeit mit den antisemitischen Gegenentwürfen der Nazis verwechselt wurden. Bei Filmen, die keiner kennt, ist das schnell passiert. Gefährlich sind sie aber schon. Die von den Nazis, meine ich. Kollateralschäden muss man da in Kauf nehmen. (Habe ich schon gesagt, dass ich das Ganze für eine Farce halte?)

2. "Wir" sind nicht gefährdet, weil wir die Propaganda erkennen können, "die anderen" aber schon. "Wir", das wären in diesem Fall die Kommentatoren, die das schreiben, ich als Autor der Artikelreihe, die Teilnehmer an Podiumsveranstaltungen, sonst noch ein paar kluge Leute. "Die anderen", das wäre der große Rest. Warum sollte das so sein? Wo sind die Belege? Mich erinnert das an das 19. Jahrhundert. Damals wurde darüber diskutiert, ob man das Wahlrecht auf größere Kreise der Bevölkerung ausdehnen sollte. Nein, sagten wohlmeinende und intelligente Persönlichkeiten, das darf nicht sein. Die Leute würden die Falschen wählen. Anders formuliert: Das Volk ist der Aufgabe nicht gewachsen. Bei diesem Misstrauen dem Volk gegenüber, denke ich mir manchmal, ist es geblieben. Warum probieren wir es nicht mal aus? Die unkommentierten Propagandafilme, vor denen zwi warnt, gibt es sowieso seit Jahren. Während die einen die Verbotsliste verwalten, gehen die anderen zum Download ins Internet oder bestellen bei Händlern in den USA, Spanien oder Belgien eine DVD. Mit dem Geld, das da gezahlt wird, sollten sich auch sorgfältig kommentierte Ausgaben herstellen lassen. Man muss nur wollen.

Zugegeben: Einiges war jetzt polemisch. User zwi hat Anspruch auf eine ernsthafte Antwort. Ich will dafür kurz das Medium wechseln. Beim verantwortungsbewussten Umgang mit dem schriftstellerischen Werk des Autors Adolf Hitler hat sich heuer etwas getan. Der Freistaat Bayern in Gestalt von Finanzminister Markus Söder geht nun mutig voran und beteiligt sich mit einer halben Million Euro an einer kommentierten Ausgabe von Mein Kampf, die schon seit längerem vom Münchner Institut für Zeitgeschichte erarbeitet wird. Innerhalb von ein paar Wochen wurde ein radikaler Schwenk vollzogen, weg vom Verbieten und hin zum Entmystifizieren eines Buches, das ein „großer Unsinn mit fatalen Folgen“ (Söder) sei. Der Grund für die abrupte Kehrtwende liegt im Urheberrecht. Für Mein Kampf läuft der Urheberschutz 2015 aus (Bayern ist der Rechteinhaber), 70 Jahre nach Hitlers Tod. Danach, sagte Kultusminister Ludwig Spaenle anfangs, werde man nicht verhindern können, dass jeder, der das möchte, das Buch auf den freien Markt bringt.

An dieser Aussage sind zwei Dinge bemerkenswert: 1. Der Freistaat Bayern, der bisher immer sehr bereitwillig Steuergelder dafür ausgab, Nachdrucke von Mein Kampf mit juristischen Mitteln zu verhindern, war offenbar der Ansicht, dass es nicht gelingen würde, das Buch wegen seines Inhalts gerichtlich verbieten zu lassen, etwa wegen Volksverhetzung. Auch in der öffentlichen Debatte über das Für und Wider einer Neuauflage, die nach Söders Ankündigung geführt wurde, spielte ein solches Verbot keine größere Rolle – bis Minister Spaenle bei einem Israel-Besuch auf Gesprächspartner traf, die wenig Verständnis für die bayerischen Pläne zeigten. Jetzt soll doch geprüft werden, ob man Mein Kampf verbieten kann. Mir kommt das wie ein neuerlicher Versuch der Politik vor, sich aus der Verantwortung zu stehlen, indem man das Problem an die Juristen weiterreicht.

Die meisten Experten, die sich bisher dazu geäußert haben, geben diesem Versuch nur geringe Chancen. Ich als Nicht-Jurist erkläre mir das so: Heute, im Jahr 2012, ist Hitlers „Abrechnung“ mit vermeintlichen jüdischen Weltverschwörern, der „roten Front“ und dem Fuchs, der „humane Anwandlungen“ gegenüber einer Gans hat, scheinbar doch nicht mehr ganz so wirkmächtig, wie wir das bislang glauben sollten. Das Buch ist ein historisches Dokument, das Aufschluss über die NS-Ideologie gibt, und diese Eigenschaft überwiegt. Weil dem so ist, wäre es sehr schwierig, ein Verbot so zu begründen, dass es vor Gericht Bestand hätte. Darum hat der Freistaat Bayern 2. bisher den Umweg über das Urheberrecht gewählt. So hält es seit Jahrzehnten auch die Murnau-Stiftung mit den Vorbehaltsfilmen. Das Urheberrecht soll aber eigentlich den Zugang zu Texten oder Filmen regeln, nicht verhindern. Das ist ein wichtiger Bestandteil der Demokratie.

Warnung vor dem Sitzkind

Jetzt also, da Mein Kampf bald nicht mehr urheberrechtlich geschützt ist, tritt Kultusminister Spaenle die Flucht nach vorne an und will eine bisher nicht näher definierte Kurzversion in Bayerns Schulen besprechen lassen. Das hat Klaus Wenzel auf den Plan gerufen. Der Präsident des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes lehnt Spaenles Pläne vehement ab, weil er fürchtet, dass Bayerns Knaben von falschen Vorbildern beeinflusst werden könnten (die Mädchen finden "andere Möglichkeiten, ihre Persönlichkeit darzustellen"). In einem Interview [4] mit der Süddeutschen Zeitung formuliert er seine Gedankengänge wie folgt:

Der Mann wird in der Werbung noch immer nur als der Starke, der Unverletzliche, derjenige, der die Welt retten will, dargestellt. Bei Jungen wird so die Abenteuerlust geweckt. Sie haben heute aber kaum noch die Möglichkeit, ihre überschüssigen Kräfte loszuwerden. Die Kinder von heute sind vor allem Sitzkinder, die Computer spielen. Wenn wir jetzt auch noch in der Schule Mein Kampf lesen, legitimiert das auch bis zu einem bestimmten Grad die Aktivitäten der NPD.

Eine innere Logik dieser wirren Aneinanderreihung von Sätzen erschließt sich mir leider nicht. Irgendwie scheint es einen Zusammenhang zwischen Abenteuerlust, Computern und der NPD zu geben. Vielleicht ist das gemeint: Das abenteuerlustige (sprich: wissensdurstige) Sitzkind spielt nicht mehr Räuber und Gendarm wie frühere Generationen, sondern surft im Internet und stößt womöglich auf eine der zahlreichen, zum kostenlosen Download eingestellten Versionen von Mein Kampf, die da seit Jahr und Tag ganz leicht zu finden sind, während bayerische Ministerien so tun, als sei man nach wie vor auf das gedruckte Buch angewiesen wie damals, als die mittlerweile in Spitzenpositionen aufgerückten Politiker, Beamten und Verbandsfunktionäre noch selbst zur Schule gingen.

Der Internet-User wird Mein Kampf häufig in einem braunen Umfeld entdecken, das sich nicht unbedingt der Informationsfreiheit verpflichtet fühlt. Darum ist es umso wichtiger, das Buch in der Schule durchzunehmen, weil sonst … nein, das kann der Lehrerpräsident nicht gemeint haben, denn er will Mein Kampf nicht auf dem Lehrplan haben. In seiner Reihung wird dem Sitzkind auch nicht das Internet zugeordnet, sondern das Computerspiel. Dieses Reizwort ist in der Altersgruppe von Herrn Wenzel mit allerlei Vorurteilen behaftet, weshalb der, der es gebraucht, mit logischen Kurzschlüssen leichter durchkommt. Denn mit nachvollziehbaren Begründungen tun sich die Funktionäre schwer. Herr Wenzel versucht es so:

Ich glaube nicht, dass Jugendliche von sich aus so daran interessiert sind. Das wäre ja so, als wenn sie Kinder vor Alkoholismus schützen wollen, indem sie ihnen im Unterricht Schnaps hinstellen und ihnen dann sagen, wie schlecht er schmeckt und dass ihnen davon übel wird.

Als ich ein Jugendlicher war, fand ich das Verbotene automatisch interessant. Daran, teilen mir gut unterrichtete Kreise mit, hat sich nur geändert, dass die Jugend das von den Erwachsenen Verbotene heute noch leichter bekommt als früher. Wer so argumentiert wie der Lehrerpräsident, stellt Bayerns Pädagogen ein Armutszeugnis aus, muss ein gewisses Maß an Realitätsverweigerung mitbringen und hat auch von der Präventivmedizin nichts verstanden. Trotzdem wird diese Begründung immer wieder gern genommen. Wer sich den Originaldokumenten des Nationalsozialismus aussetzt, wird davon krank (Tipp für den Herrn Präsidenten: mal die Wirkungsweise der Grippeimpfung recherchieren, per Suchmaschine, oder die Kinder darum bitten, wenn kein Internetanschluss vorhanden).

Für Erklärung Variante 2 braucht man weder NS-Viren noch Alkohol, sondern die Juden. Sie wurde bis vor wenigen Wochen vom Bayerischen Finanzministerium vertreten und war der Versuch, den Erfordernissen unserer Mediengesellschaft Rechnung zu tragen. Nehmen wir an, ein Sprecher des Ministeriums würde sagen: Wir sind für dieses Buch zuständig, das einerseits schrecklich langweilig ist und in dem Hitler andererseits auf fast 800 Seiten darlegt, dass er die Vernichtung der Juden anstrebt, die "Wiedervereinigung" mit Österreich, Eroberungskriege gegen Frankreich und die Sowjetunion sowie die Errichtung eines diktatorischen Führerstaats. Eine Veröffentlichung lehnen wir ab, weil wir weder an Tabus rühren noch die schöne Mär von den unwissenden Deutschen beschädigen wollen, denen Hitler der Verführer seine wahren Ziele verheimlichte (indem er sie in einem dicken Wälzer mit Millionenauflage verbarg, der neuesten Forschungen nach viel häufiger gelesen wurde als vermutet). Und eine ergebnisoffene Diskussion über das Thema "Veröffentlichen oder nicht" möchten wir auch nicht haben, weil man sich nur die Finger verbrennt, wenn man dieses heiße Eisen anpackt. Darum halten wir das Buch mit Hilfe des Urheberrechts unter dem Deckel, so lange es irgend geht.

Das könnte, rein hypothetisch, eine ehrliche Zustandsbeschreibung sein (und so ähnlich auch für jemanden gelten, der entscheiden muss, ob die Vorbehaltsfilme zugänglich gemacht werden oder nicht). Unser imaginärer Sprecher hätte nichts zu lachen. Der arme Mann würde Prügel von diversen Interessengruppen beziehen und nicht zuletzt von seinen Vorgesetzten, die schon mal in einer Sonntagsrede unsere Erinnerungskultur rühmen, mit der sich so eine Deckel-drauf-Politik schlecht verträgt. Also muss eine andere Begründung her - am besten eine, die jeden Widerspruch im Keim erstickt. Diese Begründung sollte man dann aber auch parat haben, wenn man ein Interview gibt. Sonst gerät man in eine peinliche Situation wie Bernd Schreiber. In Mein Kampf - Geschichte einer Hetzschrift, Antoine Vitkines 2008 erstmals von ARTE ausgestrahlter TV-Dokumentation, darf man diesem Herrn dabei zusehen, wie er sich müht, unvollständig Erinnertes zu einer eigentlich vorgefertigten Phrase zusammenzusetzen.

Respekt vor den Opfern

Der Jurist Bernd Schreiber ist seit 2011 Präsident der beim Finanzministerium angesiedelten Bayerischen Schlösser- und Seenverwaltung. Laut Pressemitteilung [5] kümmert er sich da um "den Erhalt der Kunst- und Kulturschätze Bayerns" (sein Vorgänger in diesem Amt war Historiker). Als Schreiber dem Team von Antoine Vitkine ein Interview [6] gewährte, war er noch Leitender Ministerialrat und Chef der Abteilung, die gegen Raubdrucke und sonstige Vervielfältigungen von Mein Kampf vorgeht. Zum Gespräch hat er einen Medienberater dabei. Warum verhindert der Freistaat Bayern eine Neuauflage, wollen die Filmemacher wissen. Weil mit dem Buch nationalsozialistisches Gedankengut verbreitet wird? Weil dann viele Leute das Buch lesen werden? Herr Schreiber bittet um eine Unterbrechung. Nach Rücksprache mit dem Berater und mit diesem als Souffleur gelingt schließlich die Antwort: "Wir verhindern den Nachdruck ganz klar aus Respekt vor den Opfern des Nationalsozialismus, vor deren Reaktion und vor allen Dingen auch, um keine Irritationen auszulösen."

Das mit den "Irritationen", könnte ich mir vorstellen, gefiel dem Medienberater nicht so gut, weil sich darüber trefflich streiten lässt. Der "Respekt vor den Opfern" dagegen ist das Totschlagargument. Was soll man darauf schon erwidern? Natürlich ist es ein schwer erträglicher Gedanke, dass ein Holocaust-Überlebender, ein nach Dachau verschleppter Homosexueller oder ein polnischer Zwangsarbeiter in München spazieren geht und leidet, weil er im Schaufenster einer Buchhandlung Mein Kampf sieht (weniger hypothetisch ist, dass besagte Person im Regal eines Antiquariats oder auf dem Flohmarkt eines der bis 1945 gedruckten und nicht verbotenen Exemplare entdeckt). Finanzminister Söder hat meiner Meinung nach auch völlig richtig gehandelt, als er erst das Einverständnis des Zentralrats der Juden und von Vertretern der Sinti und Roma einholte und danach eine quellenkritische Ausgabe ankündigte (dass diese sowieso nicht mehr zu verhindern war, steht auf einem anderen Blatt).

Trotzdem löst das Argument "Respekt vor den Opfern" bei mir ein Unbehagen aus, wenn es das einzige ist, das man gegen eine Veröffentlichung ins Feld führt ("Irritationen" sind kein Grund für ein faktisches, durch Tricksereien mit dem Urheberrecht herbeigeführtes Verbot). Ob man will oder nicht: Man instrumentalisiert da schnell die Opfer und schiebt ihnen eine Verantwortung zu, die man selbst nicht haben will. Was daraus wird, auch das ist in Vitkines Dokumentation zu besichtigen. Auf Ministerialrat Schreiber folgt Rafael Seligmann. Er meint, dass gerade der Respekt vor den Opfern eine Neuauflage gebiete, weil man an ihr das Denken der Täter studieren könne und so bessere Chancen habe, weitere Völkermorde zu verhindern. Das ist ein gewichtiges Argument. Seligmann aber tritt an dieser Stelle des Films nicht primär als streitbarer Publizist auf, sondern in seiner Funktion als Jude. Das geschieht fast zwangsläufig. Die Deckel-drauf-Fraktion handelt aus Respekt vor den Opfern, oder wenigstens sagt sie das, und die gegenteilige Meinung vertritt eines dieser Opfer. Wäre Vitkine ein deutscher Fernsehjournalist, käme jetzt mit ziemlicher Sicherheit noch ein Repräsentant des Zentralrats der Juden, der eine Neuausgabe ablehnt. So habe ich es schon oft gesehen. Auf diese Weise spielt man "die Juden" gegeneinander aus.

Ich stelle auch an mir selber fest, wie leicht man sich auf eine abschüssige Ebene begibt, wenn man sich auf dieses "Respekt vor den Opfern"-Argument einlässt. Wenn ein jüdischer Verbandsfunktionär sagt, dass dieses oder jenes aus der NS-Zeit, von Mein Kampf bis zu Jud Süß, nicht öffentlich zugänglich sein sollte, fallen mir gleich ein paar andere Juden ein, die eine diametral entgegengesetzte Position vertreten. Das ist ganz normal, weil es "die Juden" als homogene Gruppe nicht gibt, obgleich im öffentlichen Diskurs das Gegenteil suggeriert wird. Trotzdem bin ich froh, wenn ich mich bei solchen Diskussionen nicht dazu hinreißen lasse, "meine" Juden gegen die der Gegenseite aufzubieten. Das gehört sich nicht. Und weil man so fast unweigerlich in ein falsches Fahrwasser gerät, sollte der "Respekt vor den Opfern" nur dann bemüht werden, wenn er Teil eines umfassenderen Gedankengebäudes ist und nicht das einzige (Totschlag-)Argument. Das gebietet die intellektuelle Redlichkeit und müsste auch für bayerische Ministerien gelten. Wir werden noch erleben, ob die zuständigen Minister selbst den Kopf hinhalten, falls es wegen der Neuauflage von Mein Kampf Kritik hagelt, oder ob sie sich hinter den Juden, Sinti und Roma verstecken, mit denen gesprochen wurde.

Auf die Vorbehaltsfilme bezogen: Wenn es kein anderes Argument gibt als Jud Süß, soll man sie freigeben (sehr gern sachkundig kommentiert). Von mehreren problematischen Möglichkeiten ist das die beste. Wir befinden uns im Jahr 67 nach dem Ende des Dritten Reichs. Wie wäre es mit einer Rücknahme der bisher praktizierten, in einem Rechtsstaat so eigentlich nicht üblichen Beweisumkehr? Statt uns, die "mündigen Bürger" (oder sind wir doch alle Sitzkinder, egal ob mit Computer oder ohne?), unter Generalverdacht zu stellen und sich auf die gute alte Autoritätsgläubigkeit der Deutschen zu verlassen, erbringen die Institutionen, die Verbotslisten führen oder zum Schutz der Jugend Hakenkreuze aus Filmen schneiden, den Beweis, dass wir in Gefahr geraten, wenn wir Sachen sehen, die vor einem Dreivierteljahrhundert zur Indoktrinierung des damaligen Publikums angefertigt wurden. Wenn das nicht möglich ist: Bitte freigeben und zugänglich machen, damit Leute, die sich für die ungeschminkte Vergangenheit ihres Landes interessieren, nicht mehr auf die trüben Kanäle angewiesen sind, über die man die Vorbehaltsfilme derzeit beziehen kann, zumeist in miserabler Qualität. Das hatten wir lange genug.

Demnächst also ein letztes Mal Arthur Maria Rabenalt: Fronttheater [7] mit einem Gastauftritt von Heinz Rühmann, dem Aushängeschild des unpolitischen Unterhaltungsfilms in Deutschland.


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[3] http://www.tv-kult.com/forum/index.php?page=Thread&postID=118623
[4] http://www.sueddeutsche.de/bayern/diskussion-um-hitler-buch-mein-kampf-selbst-erwachsene-fallen-auf-nazi-hetze-herein-1.1342227
[5] http://www.schloesser.bayern.de/deutsch/presse/archiv11/allgemein/p-neu_fm.htm
[6] http://www.youtube.com/watch?v=s1MmMeGIwHU
[7] https://www.heise.de/tp/features/Glocken-der-Heimat-3396223.html