Fiktion, Künstliches Leben und lebendige Meme

Literarische Fiktion ist vielleicht das größte KL-Experiment der Menschheitsgeschichte. Taylor behauptet, daß fiktive Personen in gewisser Weise leben, und leitet daraus eine originelle Kritik der Annahmen über Künstliches Leben ab.

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Matthew Aaron Taylor

In einem Aufsatz über Virtuelle Realität bemerkte Ivars Peterson , daß die Idee hinter solchen computervermittelten Umgebungen für Leser guter Romane nichts Neues darstellt: "Erfolgreiche Autoren verwenden Worte, um derartig lebendige und bezwingende Menschen und Szenen darzustellen, daß man sich leicht in diesen rein vorgestellten Welten verliert." Eine dem noch näherkommende Analogie wäre Künstliches Leben (KL), da die Leser hier keine fertige interaktive Umgebung betreten, sondern diese fast von Anfang an erzeugen. Aus einer bloßen Kette von Worten (auch wenn die Worte mit großer Kunstfertigkeit zusammengefügt werden) können Leser eine dynamische Simulation in ihren Köpfen erzeugen.

Ich behaupte, daß Fiktion eine Form des Künstlichen Lebens ist, vielleicht das größte, weltweit vernetzte KL-Experiment der Menschheitsgeschichte. Diese Behauptung ist nicht besonders bemerkenswert oder originell, da sie auf offensichtlichen Eigenschaften der Fiktion und auf bekannten Ideen beruht, die von Richard Dawkins, Douglas Hofstadter und anderen ausgearbeitet wurden. Weniger offensichtlich sind einige der Implikationen, die man aus diesem Vergleich ziehen kann. Die literarische Fiktion stellt eine eigentümliche, aber, wie ich denke, substantielle Herausforderung für die "starke Version" der KL dar, nämlich daß digitale Entitäten gemäß einigen Kriterien wirklich lebendig sind. Dasselbe ließe sich für fiktionale Charaktere behaupten, was man aber normalerweise (und, wie ich meine, verständlicherweise) nicht macht. Literarische Fiktion könnte daher einige der ontologischen, epistemologischen und sogar ethischen Fragen erhellen, die aus dem Künstlichen Leben entstanden sind: Was heißt "lebendig"? Was ist "wirklich"? Wie "erkennen" wir dies? Wie können wir noch das menschliche Leben achten, wenn "Leben" technisch definiert wird?

Obgleich ich eine Common-Sense-Perspektive einnehme, hoffe ich, daß man sie nicht als "Anti-KL" oder als Forderung begreift, sich gegen die beunruhigenden philosophischen Konzepte aus diesem Bereich zu stemmen. Ich bin als Laie ein großer Fan der KL-Forschung und fasziniert von deren Erfolgen. Gleichwohl glaube ich, daß man eine "Realitätsprüfung" (oder, besser, eine "Irrealitätsprüfung") durchführen sollte, auch wenn es nur darum geht, mit dem Aussortieren einiger der provozierenden Fragen zu beginnen, die uns das Künstliche Leben beschert hat.

Fiktion als Künstliches Leben

Eigenschaften, die eine erfolgreiche KL-Simulation kennzeichnen, spiegeln ähnliche Notwendigkeiten wider, mit denen auch ein Romanautor konfrontiert ist, der weiß, daß die Fiktion nicht funktioniert, wenn sie nicht ein gewisses "eigenständiges Leben" besitzt. Zu diesem Zweck schafft der Autor einen Code, der ungefähr mit einem KL-Programm oder einer genetischen Sequenz analog ist. Der Code kopiert sich selbst und wartet auf einen "Wirt", dessen geistige Aktivität die Wortsequenz in räumliche Bilder und belebte imaginierte Wesen verwandelt. Immer wenn ein Leser auch nur leicht in ein Werk der literarischen Fiktion hineingezogen wird, wird eine ganze Welt in dessen Kopf erschaffen oder, wieCollingwood gesagt hat, in der Vorstellung wieder erschaffen.

Jede Wiedererschaffung eines literarischen Werkes durch einen Leser wird auf eine Weise einzigartig sein, die der Autor nicht vorhersehen kann. Und fiktiven Personen kann man mit Recht eine gewisse Autonomie zugestehen. Leser können beispielsweise phantasierte Unterhaltungen mit fiktiven Personen führen oder über deren Leben auch jenseits der Romangeschichte nachdenken. Fiktive Personen können auch wirklich handeln, beispielsweise das Leben ändern, das Menschen führen, oder vielleicht, wie Uncle Tom, die Heraufkunft von Kriegen oder einen radikalen gesellschaftlichen Wandel beschleunigen. Wie ein Computervirus - der unter den digitalen Entitäten einem lebendigen Organismus bona fide am nächsten kommt - kann eine fiktionale Person eine so große Furcht auslösen, daß Absicherungen vorgenommen und "Desinfektionsprogramme" (Zensur, Bücherverbrennung, Verbannung, Ermordungen) durchgeführt.

Literarische Fiktion repliziert sich durch Druck und seit kurzem durch elektronische Medien, sie adaptiert sich, mutiert und verändert sich, wenn auch eher im Sinne des Lamarckismus durch Vererbung erworbener Eigenschaften als auf darwinistische Weise durch natürliche Selektion. Ein Beispiel ist die Gattung der Detektivromane. Die Idee selbst ist ganz einfach: eine Person löst ein geheimnisvolles Verbrechen. Beginnend mit Edgar Allen Poes reflektierenden Erzählungen im 19. Jahrhundert, explodierte die Gattung an lebendigen Charakteren (Dupin, Holmes, Marple, Poirot, Maigret), die erfolgreiche und dauerhafte Komponenten der kollektiven Imagination blieben. Es gibt auch eine evolutionäre Verzweigung in Unterarten (beispielsweise die "hard boiled" Detektivgeschichte). Die fiktive Literatur repliziert sich auf allen Ebenen - angefangen von einem einprägsamen Satz oder Ausdruck (z.B. "Out damned spot!" oder Hamlets Monolog) über einen Charakter oder einen Charaktertypus (z.B. Heathcliff oder Holmes), ein invididuelles Werk, eine Technik oder einen Stil (z.B. den Briefroman oder den narrativen Bewußtseinsstrom) bis hin zu einer Gattung oder einer ganzen Gattungsklasse (z.B. die Detektivgeschichte).

Meme

Wenn wir von Ideen sprechen, die sich in der Kultur replizieren, dann sprechen wir von "Memen". Das ist ein Begriff, der von Richard Dawkins eingeführt und als "Einheit kultureller Übermittlung oder Imitationseinheit" definiert wurde.

Chris Langton definiert ein Mem als "eine Idee, einen Wirt, ein Gedicht oder eine Melodie, die sich in einer Bevölkerung ausbreitet, indem sie immer wieder kopiert wird, wenn die Menschen es an ihre Freunde weitergeben."

Erich Schultes erfand eine interessante Demonstration eines Mems: ein sich selbst replizierender Paragraph , der uns bittet, ihn zu kopieren und an andere weiterzuleiten. Meme wurden auch bereits in Neil Stephensons "Snow Crash" literarisch behandelt, wodurch dieser Roman, wie Schultes Paragraph, zu einem Mem über Meme wurde.

Die Umwelt, in der Meme sich replizieren, interagieren, sich anpassen und entwickeln nennt Douglas Hoftstadter "Ideosphäre" oder kollektive kulturelle Imagination. Die Ideosphäre verhält sich zur Biosphäre wie die Meme zu den Genen. Meme kämpfen nach Dawkins genauso um die Aufmerksamkeit, die Zeit und das Gedächtnis der Menschen (ähnlich wie Thomas Rays Geschöpfe in seinem Programm Tierra um den Computerspeicher kämpfen) wie um "Radio- und Fernsehzeit, Werbeplatz, Zentimeter in Zeitungsspalten und Bibliotheksregale." Dieses "egoistische Mem" scheint in die materielle Welt hinein zu wirken und sie für seine Zwecke zu gebrauchen. "Ein Student ist lediglich", wie Daniell Dennett sagt, "ein Mittel zur Reproduktion für eine Bibliothek." Wir sind also nur die unbewußten Wirtsmechanismen, die Meme zur Selbstvermehrung benutzen.

Aus Dennetts Sicht ist daher ein Autor oder ein Leser nur das Mittel einer Erzählung, um sich selbst zu kopieren. So grotesk diese Perspektive auch sein mag, so ermöglicht sie es uns aber doch, eine literarische Fiktion so wie Erich Schultes Paragraph zu sehen - KLs ein Arrangement von Worten, die durch ihr intrinsisches Interesse versuchen, sich selbst zu replizieren. Ein erfolgreiches fiktionales Mem könnte man so verstehen, daß es erreicht hat, nach x Generationen seit seiner ersten Zirkulation, immer noch kopiert zu werden. Es kann auch beobachtet werden und oft ist es so, daß der langfristige Reproduktionserfolg eines literarischen Werks mit dessen Qualität übereinstimmt.

Wir können tatsächlich über die "Fitneßumwelt" sprechen, in der fiktionale Meme miteinander konkurrieren und an die sie sich anpassen, wie bestimmte Innovationen in der literarischen Fiktion die Weise ändern, wie Erzählungen gelesen und wie folglich Erzählungen geschrieben werden, und wie es diesen Werken langfristig in der "Ideosphäre" ergeht. Hans Robert Jauss hat genau dies durchgeführt, auch wenn er dies die Ausweitung der Leserhorizonte und nicht "Erklimmen von Bergen" oder "adaptive Umwelten" nannte. KL könnte also wesentlich auf Weisen, die wir hier erst vorzuschlagen begonnen haben, zu unserem Verständnis des kreativen Prozesses und zur Entwicklung der Literatur und Kunst in der Kultur beitragen.

Gibt es eine "starke" Version der literarischen Fiktion?

Ich glaube, es wurde hinreichend gezeigt, daß literarische Fiktion eine Art des KL ist. Die Frage ist, welche Art es ist oder, spezifischer, welchen ontologischen Rang wir ihm verleihen sollten. Im Bereich der KL selbst gibt es keine einheitliche Meinung über den Rang seiner Geschöpfe, aber wir können drei starke Positionen unterscheiden: die schwache Version, die starke Version und, wie ich sie nenne, die ganz starke Version.

Was die literarische Fiktion betrifft, so können wir glücklicherweise die "ganz starke" Version ausschließen. Fiktive Charaktere bleiben fest in ihre entsprechenden Texte und in die partizipierende Imagination der Leser eingeschlossen. Sie können nicht ausbrechen und uns aus unserer Nische in der Biosphäre drängen. Doch wie verhält es sich mit der "starken" Version? Sind fiktionale Charaktere in einigen Aspekten "lebendig"? Welches Fundament hat die starke Version der KL, wenn sie es nicht sind? Was würde es für die Bestimmung der "Wirklichkeit" beinhalten, wenn sie es sind? Wenn ich nicht etwas Wichtiges übersehen habe, ist dies das Dilemma, das die literarische Fiktion den Verteidigern der starken Version bereitet.

Dawkins und Dennett glauben, daß Meme auf einer gewissen Ebene wirklich "lebendig" sind und daß, wie bereits erwähnt wurde, fiktionale "Meme", die auch animierte Charaktere mit unterschiedlichen Persönlichkeiten einschließen, die meisten der lebensähnlichen Eigenschaften von KL-Entitäten zeigen - und wohl noch einige weitere. Überdies ist der menschliche Geist ein weit komplexerer Infomationsprozessor als jeder bis jetzt existierende Computer. Wenn die Verfechter der starken Version bestreiten würden, daß fiktionale Charaktere lebendig seien, dann würden sie willkürlich den Computer über das rechnerisch überlegene menschliche Gehirn stellen und dieselbe Engstirnigkeit demonstrieren, die mit der "karbozentrischen" Position verbunden ist. Kurz, einer der entscheidenden didaktischen Zwecke der starken Version liegt darin, uns zu zeigen, wie willkürlich und mit Vorurteilen behaftet unsere Kriterien für das "Leben" sind. Das geht in Ordnung, aber meinen die Verfechter der starken Version damit ein Geschäft oder mögen sie nur einfach, gleichermaßen willkürlich, Computer?

Ich glaube, daß die Vertreter der starken Version fiktionalen Charakteren einen gewissen biologischen Status zugestehen würden. Das ist im Kern die ganze Idee hinter den Memen - immaterielles Denken in den Bereich materieller Prozesse hineinzubringen und das Körper-Geist-Problem ein für alle Mal zugunsten des Körpers zu lösen, wodurch Vitalismus, Mystizismus, Obskurantismus oder ähnliches verbannt wird. Aber ein Problem ist, daß materielle Prozesse niemals "falsch" sind, während dies bei Gedanken oft der Fall ist. Deswegen gibt es das wissenschaftliche Unternehmen, das menschliches Denken auf korrekte Wege weist, normalerweise durch das Testen von Ideen an der widerspenstigen materiellen Wirklichkeit.

Durch die Akzeptanz der starken Version der KL entsteht folgendes Dilemma. Wir könnten fiktionalen Charakteren Leben zusprechen, doch wenn, wie Rasmussen es vom computergenerierten Leben behauptet, fiktionale Charaktere leben, dann wäre ihr Wirklichkeit ebenso "wirklich" wie die unsere: die beiden Wirklichkeiten "haben denselben ontologischen Rang." Auch wenn diese Behauptung annehmbar erscheint, obwohl sie nicht unwidersprochen bleibt, zögern wir doch, sie auf die Welt der Imagination zu beziehen, weil wir es ganz allgemein für zweckmäßig gefunden haben, um es mild auszudrücken, zwischen Phantasma und Fakt einen Unterschied zu machen.

Wenn wir jedoch einmal imaginierte Entitäten, z.B. fiktionale Charaktere, als lebendige Wesen betrachten, öffnen wir die Büchse der Pandora für weitere, sogar noch bizarrere Aussagen über das Leben und folglich auch über die Wirklichkeit: Träume, Halluzinationen etc. Wie sollen Wissenschaftler UFO-"Erfahrungen" entlarven, wenn der Wahrheitsstatus dieser Erfahrungen mit dem der Entlarvung in Konkurrenz steht? Da wir mehr und mehr von Bildern, Signalen, Symbolen, Simulationen und Simulakra überschwemmt werden, scheint es nach meiner Meinung wichtig zu werden, daß wir Klarheit darüber gewinnen, was "wirklich" ist und was nicht. Es ist nicht günstigste Zeit für Wissenschaftler, uns alle in Verwirrung zu stürzen, doch die starke der Version der KL führt tatsächlich zu einem solchen ontologischen und epistemologischen Kollaps.

Wir scheinen auf jeden Fall einen Punkt in dieser Diskussion zu erreichen, an dem etwas geschehen muß. An der starken Version der KL festzuhalten und fiktionale Charaktere auszuschließen, ist willkürlich. Aber die starke Version der KL auch auf fiktionale Charaktere zu erweitern, scheint ein seltsames und offensichtlich animistisches Element in die Epistemologie der Wissenschaft einzuführen. Wenn wir den Vitalismus zurückweisen, müssen wir unweigerlich den Animismus akzeptieren. Man muß sich entscheiden, ob der Geist den Körper oder der Körper den Geist bewohnt.

Eine vielleicht nicht begeisternde Alternative würde darin liegen, sich auf die schwache Version der KL zurückzuziehen und zu versuchen, "Leben" auf eine befriedigendere Weise zu definieren. Liebhaber der Literatur schaffen es schließlich auch, ganz zufrieden nur mit mäßig "schwachen" Annahmen über den onotologischen Status fiktionaler Charaktere zu leben. Vielleicht könnten Liebhaber der literarischen Fiktion Gruppen gründen, um dabei zu helfen, Anhänger der starken Version zu heilen! In der Zwischenzeit scheint die "karbozentrische" Position weiter aufrechterhalten zu werden. Vielleicht muß die starke Version noch warten, bis ein sich selbst replizierendes Mechanismus aus einem soliden materiellen "Stoff" gebildet werden kann.

Dann allerdings gibt es andere Probleme, vor allem hinsichtlich der Ersetzung des menschlichen Lebens und wahrscheinlich jedes kohlenstoffbasierten Lebens durch einen auf Silizium basierenden Reproduktionsmechanismus. Wir können uns hier nicht mit den noch beunruhigenderen Problemen auseinandersetzen, die aus der "ganz starken" Version der KL entstehen.

Die große Frage ist offensichtlich: Warum sollen wir willentlich unsere mögliche evolutionäre Auslöschung technisch bewerkstelligen? Die kurze Antwort geht dahin, daß es hier eine logische Notwendigkeit gibt, ein "rutschiges Gefälle". Die starke Version führt eine starke Verwirrung über das ein, was lebendig und wirklich ist und wie wir möglicherweise den Unterschied feststellen können. Die "ganz starke" Version geht noch darüber hinaus und führt zur Behauptung, daß es keine andere Grundlage als die hervorragende Rechenleistung und einen allgemeinen evolutionären Imperativ dafür gibt, eine Art des "Lebens" einer anderen vorzuziehen.

Daher verwirklicht sich der ontologische und epistemologische Zusammenbruch, der durch die starke Version der KL angekündigt wird, als ethischer Zusammenbruch in der ganz starken Version. Wir entdecken, daß es keine Grundlage für eine auf Menschen zentrierte Ethik gibt, wenn nur die Prinzipien Mechanismus und Evolution gegeben sind. Und wenn wir keine menschenfreundliche Ethik in die Logik der KL einbauen können, sollten wir besser damit beginnen, nach etwas anderem Aussschau zu halten.

Danksagung

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer