Finnlands RoG-Spitzenrang und Medienrealität
Wie bereits in den vergangenen Jahren spiegelt die von "Reporter ohne Grenzen" erstellte Länderrangliste mehr die politische Einstellung der Autoren als die Realität wider
Während Deutschland in der neuen Rangliste von "Reporter ohne Grenzen" (RoG) den 13. Platz belegt, behauptet sich Finnland mit dem zweiten Rang nach Norwegen wiederholt im Spitzenfeld. Von 2010 bis 2016 befand sich das Land sogar auf dem ersten Platz.
Ein Blick auf die finnische Medienrealität weckt indes Zweifel, ob die Auszeichnung verdient ist. Das angebotene Spektrum an Fakten und Meinungen ist ausgesprochen eng. Wenn Journalisten unbehindert arbeiten können, dann sollte doch das Gegenteil der Fall sein. Medienfreiheit ist schließlich kein Selbstzweck, sondern wird allgemein als zentrale Voraussetzung für eine vielseitige und fundierte Berichterstattung begriffen.
Das Risiko einer Gleichschaltung der Medien ist in Finnland größer als in bevölkerungsstarken Ländern, da der Lesermarkt relativ klein ist. Um eventuelle Informationslücken zu schließen, können Bürger auf fremdsprachige Nachrichtenquellen zugreifen, zumal es keine Internetzensur gibt. Wie in anderen Staaten ist die Schwelle jedoch recht hoch. Überdies sehen sich Medienkonsumenten kaum dazu veranlasst, solange sich Fernsehen und Presse erfolgreich mit der Aura von Objektivität und Ausgewogenheit umgeben.
Unausgesprochen wird für die Unterschlagung unbequemer Ansichten und Fakten ein ehrenhaftes Motiv geltend gemacht: der Erhalt des gesellschaftlichen Konsensus. Zudem lässt sich bei Medienvertretern ein gewisses Maß an Naivität konstatieren: Den Meldungen westlicher Nachrichtenagenturen wird blind vertraut. Selektive Berichterstattung, manipulativer Sprachgebrauch wie auch Fake News werden nicht als solche identifiziert. Schließlich ist das Fehlen alternativer Nachrichten und Analysen ein Resultat von Strukturen innerhalb des Medienbetriebs, die Unterwürfigkeit und Karrierestreben fördern. Es bedarf in diesem Fall keines restriktiven Umfelds, um kritische Meinungen nicht zu Wort kommen zu lassen.
Russland-Bashing als Unterstützungsfaktor
Betroffen sind vor allem außenpolitische Themen (Russland, Syrien, Donald Trump, EU, Nato, globaler Handel). Aus dem breiten Spektrum an Expertisen und Faktenanalysen werden dem finnischen Publikum gerade jene präsentiert, die im engeren Mainstream angesiedelt sind. Damit Medienberichte bei den Bürgern auf eine hohe Akzeptanz stoßen, werden Ressentiments geweckt, die als längst bewältigt galten. Eine besondere Bedeutung kommt dem Russland-Bashing zu. Vergessen scheint die enge und für beide Seiten vorteilhafte Kooperation zu Zeiten, als sich Finnland noch als neutrales Land begriff.
Dem östlichen Nachbarn wird nicht nur vorgeworfen, gegen westliche Interessen und Werte zu opponieren, sondern ihm wird auch ein hohes Maß an Aggressivität unterstellt. In dem von den Leitmedien kreierten Szenario erscheint der Schulterschluss mit dem Westen als eine Überlebensfrage. Russlandfeindliche Berichte und Analysen aus westlichen Quellen werden bereitwillig übernommen, den darin enthaltenen Anschuldigungen wird eine hohe Glaubwürdigkeit attestiert. Mit Ausnahme einiger meist linker Presseorgane wird die Kooperation mit der Nato wohlwollend kommentiert. Dennoch ist es bislang nicht gelungen, die Bevölkerungsmehrheit für eine Mitgliedschaft in dem Militärbündnis zu gewinnen.
Mit dem EU-Beitritt im Jahr 1995 hat Finnland seinen blockfreien Status aufgegeben. Dies wurde öffentlich genauso wenig hinterfragt wie die starke Anlehnung an Deutschland, die auf vermeintlich gleichgerichteten Interessen beruhe. Einen Argwohn gegenüber deutschen Führungsansprüchen wie anderswo in Europa gibt es nicht, was zum Teil der unzureichenden Aufarbeitung der Geschichte geschuldet ist.
Wenn sich Medien auf den Zweiten Weltkrieg beziehen, dann überwiegen Erzählungen über soldatische Tugenden wie Kameradschaftsgeist und Aufopferungsbereitschaft. Verdrängt wird die Teilnahme Finnlands am deutschen Ostfeldzug, die Behinderung westlicher Hilfslieferungen durch die Unterbrechung der Murmansk-Bahn und die Mitschuld am Tod hundertausender Zivilisten während der Belagerung Leningrads.
Das Tal der Ahnungslosen
In Deutschland kommen Kritiker der westlichen Russlandpolitik sowohl in der Presse als auch im Fernsehen häufig zu Wort. Damit sie nicht zu viel Raum bekommen, verbleiben sie bei Gesprächsrunden in der Minorität und müssen sich zuweilen gegen scharfe Attacken wehren. Ihre Anwesenheit ist dennoch erwünscht, weil die unvermeidlichen Wortgefechte als Bereicherung empfunden werden und höhere Einschaltquoten garantieren. Vergleichbare kritische Positionen werden dem finnischen Medienpublikum weder über Fernseh-Diskussionsrunden noch durch Reportagen oder Zeitungsartikel bekannt gemacht.
Wenn sich finnische Medien und Politiker auch von den Sichtweisen baltischer Hardliner distanzieren, drückt sich das Fehlen kritischer Stimmen in einer betont feindseligen Begrifflichkeit aus: Journalisten titulieren Wladimir Putin als "neuen Zaren". Russische Militärübungen gelten als "bedrohlich", auch wenn sie in Sibirien stattfinden. Die Ostukraine sei "russisch besetzt". Und die Angliederung der Krim an Russland wird nicht wie im Westen üblich als "Annexion", sondern als "Eroberung" typisiert. Mit einer solchen Wortwahl wird einer alternativen Beurteilung wie jener des Strafrechtlers Reinhard Merkel vollends der Boden entzogen. Wo eine Opposition fehlt, stößt manipulativer Sprachgebrauch augenscheinlich auf keinen Widerstand.
Es ist kaum verwunderlich, dass in diesem Umfeld nicht eine anerkannte Persönlichkeit aus Politik, Medien, Kultur oder Wissenschaft es wagt, sich als "Putin-Versteher" zu outen. In Deutschland ist es entschieden leichter, eine kritische Position einzunehmen, wie das kürzlich erschienene Buch "Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen" dokumentiert. Unter den 27 Autoren aus verschiedenen Wirkungsbereichen befinden sich sogar renommierte Politiker der führenden deutschen Parteien. Ebenso wurden von den drei früheren Bundeskanzlern Bedenken zur aktuellen Russlandpolitik vorgebracht.
Ein Vergleich mit dem "Tal der Ahnungslosen", jener damals vor Westfernsehen "geschützten" DDR-Region östlich von Dresden, erscheint nicht abwegig. Dort erhielt die SED die breiteste Zustimmung. Auf einen ähnlichen "Erfolg" können die finnischen Medien in der Gegenwart verweisen: Mittels einer westlichen Narrativen folgenden und kritische Einwände aussparenden Berichterstattung gelang es während des Ukraine-Konflikts, den Anteil der sich von Russland bedroht fühlenden Bürger von einem Viertel auf 43 Prozent zu steigern.
Russische Medienvielfalt trotz Restriktionen
Ist das Informationsangebot hinter der östlichen Grenze Finnlands aber nicht noch eingeschränkter? Der Ostexperte Christian Wipperfürth hat die russischen Medien über einen längeren Zeitraum beobachtet. Nach seinen Erkenntnissen kommen oppositionelle Positionen sowohl in Druckerzeugnissen als auch durch private Sendeanstalten ausgiebig zu Wort. Die Staatsmedien befinden sich indessen auf Kremllinie, dem russischen Präsidenten wird viel Raum gegeben. Dennoch strahlen sie regelmäßig politische Diskussionsrunden aus, zu denen Vertreter der Opposition von In- und Ausland eingeladen werden. Eine Informationsquelle, die das gesamte kritische Repertoire abdeckt, ist laut Wipperfürth der beliebte Radiokanal "Echo Moskwy".
Ferner wird der russischen Bevölkerung ein breites Spektrum an Informationen und Meinungen durch das Internet geboten. Viel aufgerufen wird die staatlich finanzierte Webseite "inosmi.ru", für die auch Russland-kritische Artikel aus dem Westen übersetzt werden. Nutzer alternativer Internet-Medien sind wie in Deutschland vorrangig politisch interessierte Bürger, die der offiziellen Berichterstattung misstrauen. Vergleichbare kritische Plattformen gibt es nicht in finnischer Sprache.
Unzweifelhaft wird journalistische Tätigkeit in Russland stärker durch Restriktionen, Auflagen, Finanzentzug und erzwungene Selbstzensur eingeschränkt als im Westen. Bei einem Ländervergleich sollte jedoch die reale Informations- und Meinungsvielfalt als Kriterium berücksichtigt werden. Dies ist offenkundig nicht geschehen, wenn Finnland von RoG in der Rangliste auf den zweiten Platz gesetzt wurde und sich Russland mit dem 149. Platz im letzten Fünftel befindet. Diese Anordnung steht in krassem Widerspruch zum Tatbestand, dass sich russischen Medienkonsumenten ein breiteres Angebot in ihrer Muttersprache eröffnet als den Grenznachbarn im Nordwesten.
Fragwürdige Beurteilungskriterien
Oberflächlich betrachtet erscheinen die bei der Erstellung der Rangordnung angewandten Kriterien als akzeptabel. Bei der Auflistung wird an erster Stelle der Faktor "Medienvielfalt" erwähnt. Die Existenz zahlreicher Medien in einem Land, die unabhängig agieren und miteinander konkurrieren, garantiert jedoch kein breites Informations- und Meinungsspektrum. Als weitere Beurteilungskriterien werden "Selbstzensur, Recherchefreiheit und finanzieller Druck" angegeben. Wenn aber die "Schere im Kopf" funktioniert, wird ein Reporter nicht beklagen, bei seiner Tätigkeit behindert zu werden.
Die Autoren heben hervor, dass die Rangliste kein Indikator für die Qualität der Berichterstattung sei. Soll dieser Hinweis dahingehend interpretiert werden, dass sie Kriterien wie Faktenorientiertheit und Ausgewogenheit als vernachlässigbar erachten? Oder geht es nicht um Inhalte, sondern vielmehr um Stil und Sprache wie in dem heftig kritisierten Framing Manual der ARD? Der unklare Qualitäts-Bezug erscheint als wenig überzeugender Versuch, offensichtliche Kuriositäten zu verdecken.
Indem die ländervergleichende Studie sich auf politisch vorgegebene Rahmenbedingungen fokussiert, mag sie Aussagen über den Handlungsspielraum und die Publikationsmöglichkeiten von Medienakteuren treffen können. Die bedeutendere Frage nach dem Zugang der Bürger zu Fakten, Analysen und Meinungen kann sie jedoch nicht beantworten. Dass der verwendete Kriterienkatalog ungeeignet ist, das Spektrum angebotener Medieninhalte zu ermitteln, wird durch den Vergleich zwischen Finnland und Russland eindrucksvoll belegt.
Daraus soll nicht der Schluss gezogen werden, dass externe Bedingungen für die Tätigkeit von Reportern im Hinblick auf die Vielfalt und Ausgewogenheit des Nachrichtenangebots irrelevant seien. Indem sich RoG für die Freiheit journalistischer Arbeit einsetzt und das Schicksal bedrohter Kollegen publik macht, leistet die Organisation einen anerkennenswerten Beitrag. Andererseits schweigt sie zu Medienverantwortlichen, die sich bedingungslos dem politischen Mainstream unterordnen und ihrer Aufgabe als "Vierter Gewalt" nicht nachkommen.
Verdacht einer Auftragsarbeit
Der Widerspruch zwischen Rangordnung und Medienrealität erklärt sich augenscheinlich daraus, dass bei der Erstellung der Vergleichsstudie konformes Verhalten und mangelndes Berufsethos von Journalisten nicht als kritikwürdige Momente eingehen. Genauso wenig werden Strukturen innerhalb der westlichen Medienwelt problematisiert, die diese Einstellungen begünstigen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Autoren sich bei der Auswahl der Kriterien von einer zuvor bestehenden politischen Sicht leiten ließen.
Dieser Verdacht wird durch einen Blick auf die Finanzquellen von RoG untermauert. Zu den Hauptsponsoren gehören westliche Staaten, das National Endowment for Democracy (NED) und George Soros. Für weitere Spenden zeichnen staatliche und privatwirtschaftliche Fonds verantwortlich. Über den Restteil der finanziellen Zuwendungen inklusive des Gesamtbetrags an Mitgliedsbeiträgen gibt es keine Angaben, sehr im Widerspruch zu den Forderungen der Organisation nach Transparenz.
Politische Motive dürften nicht nur bei den zugrunde gelegten Beurteilungskriterien Pate gestanden haben, sondern auch bei der Auswahl der Experten, die für die Erstellung der Rangliste befragt wurden. Es ist anzunehmen, dass sich die Autoren an den Wünschen ihrer Sponsoren orientiert haben - ob aufgrund finanziellen Drucks oder ideologischer Nähe, sei dahingestellt. Kritiker am westlichen Medienbetrieb dürften überwiegend als Querulanten betrachtet und übergangen worden sein. Hingegen gelten Oppositionelle in "Feindstaaten" wie Russland per se als glaubwürdige Verteidiger der Pressefreiheit, auch wenn sich Behauptungen von Einschüchterung und Behördenwillkür nicht verifizieren lassen.
Bemerkenswerterweise befinden sich die Pionierländer unabhängiger Berichterstattung Frankreich, Großbritannien und USA nicht in der Spitzengruppe, sondern belegen erst die Plätze 32, 33 und 48. Stören sich die Verfasser der Vergleichsstudie an dem politischen Druck auf soziale Medien und alternative Portale, zumal sich Vorwürfe von Hate Speach und einer Verbreitung von Fake News vielfach als grundlos erweisen? Oder wenden sie sich gegen staatliche Einschränkungen der Medienfreiheit etwa durch den US Patriot Act oder bei dem Verbot der Publikation von Hintergrundinformationen zum Skripal-Fall durch die britische Regierung? Oder bemängeln sie die Unterdrückung von Kritik an den Polizeieinsätzen gegen die Gelbwesten in Frankreich?
Mitnichten. RoG äußert sich vielmehr besorgt um die Sicherheit und die Arbeitsmöglichkeiten von Mainstream-Journalisten, die zunehmenden Anfeindungen und Drohungen ausgesetzt seien. Für das "Klima der Angst" würden nationalistische Populisten und ihnen zugeneigte Regierungen die Hauptschuld tragen. Explizit genannt werden Serbien, die Slowakei, Tschechien, Österreich und die USA Donald Trumps, die jeweils abgestuft wurden. Dem Verlangen nach einem sachlichen Umgang mit dem politischen Gegner ist zuzustimmen, auch dann, wenn sich Journalisten der Leitmedien gezielter Stimmungsmache und bewusster Verbreitung von Unwahrheiten bedienen.
Die RoG-Studie ist bei diesem Thema jedoch weder fair noch ausgewogen. Indem etwa der Begriff "Lügenpresse" zurückgewiesen und andererseits eine Titulierung kritischer Journalisten als "Verschwörungstheoretiker" nicht problematisiert wird, bedient sie sich doppelter Standards. In der Realität dürften Vertreter abweichender Positionen weitaus häufiger verbalen Angriffen ausgesetzt sein und in ihrer beruflichen Tätigkeit behindert werden, worauf kein Bezug genommen wird. Nun wird auch deutlich, wie sich Finnland seinen Spitzenrang "verdient" hat: Wo kaum kritische Stimmen an die Öffentlichkeit dringen, brauchen Medienakteure des Mainstreams nicht befürchten, attackiert zu werden.