Flucht durch den Hinterausgang
Trotz des Sturzes des korrupten Präsidenten Lucio Gutiérrez in Ecuador stehen die Chancen für einen politischen Neubeginn schlecht
Vier Tage nach seiner Amtsenthebung durch das Parlament hat der ehemalige Präsident Ecuadors, Lucio Gutiérrez, am vergangenen Sonntag das Land verlassen. Die brasilianische Regierung hat ihm Asyl gewährt. Nicht aus Sympathie, wie es in der Hauptstadt Brasilia hieß, sondern "aus einer außenpolitischen Tradition heraus". Die Amtsgeschäfte in Ecuador hatte schon Mitte vergangener Woche der bisherige Vizepräsident Alfredo Palacio übernommen.
Der Regierungswechsel ist damit zwar vollzogen, doch die Perspektiven für einen politischen Neubeginn stehen schlecht. Zum einen bleibt die Macht mit der Regierungsübernahme von Palacio in den Händen einer minoritären Elite. Zum anderen wandte sich der neue Präsident gleich mit seiner ersten Amtshandlung gegen eine Hauptforderung der Demonstranten: ein Gerichtsverfahren gegen seinen Amtsvorgänger.
Gutiérrez' 180-Grand-Wendung
Dabei galt Lucio Edwin Gutiérrez Borbúa, wie der 48jährige ehemalige Oberst der ecuadorianischen Armee mit vollem Namen heißt, noch vor wenigen Jahren als politischer Hoffnungsträger. Im Februar 2000 hatte er an einem Aufstand der "Nationalen Junta zur Rettung Ecuadors" gegen den damaligen Staatschef Jamil Mahuad teilgenommen. Ein zentrales Ziel der Rebellion war es, die angekündigte Dollarisierung der Wirtschaft des Landes zu verhindern. Mahuad wollte sie gegen den massiven Widerstand der Bevölkerung durchsetzen. Besonders die armen Bewohner des Andenstaates hatten gegen das Vorhaben protestiert.
Auf der Basis der damals erlangten Popularität gewann Gutiérrez die Präsidentschaftswahl im November 2002. Noch während des Wahlkampfes versprach er eine Umkehr der neoliberalen Wirtschaftspolitik und eine neue Sozialpolitik. Dieses Programm wurde damals auch von dem einflussreichen Dachverband der indigenen Organisationen (CONAIE) unterstützt.
Doch mit der Wahl hörte die Erfolgsgeschichte des Ex-Militärs auch schon auf. Unmittelbar nach Amtsantritt machte Gutiérrez eine 180-Grad-Wendung, kündigte das innenpolitische Bündnis mit den sozialen Organisationen auf und versicherte den USA politisch und wirtschaftlich seine "volle Unterstützung". Der Streit mit seinen ehemaligen Verbündeten eskalierte schließlich im Dezember vergangenen Jahres, nachdem auf seine Weisung hin der Großteil der Richter des Obersten Gerichtshofs ausgetauscht wurde. Die neuen Richter sprachen zwei Ex-Präsidenten später von Korruptionsvorwürfen frei. Zu den Hauptakteuren bei den folgenden Protesten gehörten die indianischen Ureinwohner. Sie fühlten sich durch Gutiérrez' Politik erneut benachteiligt.
Viele Versprechen, wenig Hoffnung
Der neue Staatschef scheint dem Schema seines Amtsvorgängers zu folgen. Den Demonstranten sicherte er "grundlegende Reformen" zu. Die Verfassung werde er befolgen "wie die Bibel". Selbst ein Referendum über den von sozialen Organisationen hart kritisierten Freihandel mit den USA stellte der neue Staatschef in Aussicht. All das hört sich gut an. Doch wirft es zugleich die Frage auf, weshalb sich der ehemalige Mediziner nicht schon als Vizepräsident für den nun versprochenen Politikwandel eingesetzt hat - und weshalb er Gutiérrez mit einem Geleitbrief versehen vor der ecuadorianischen Justiz entkommen lies.
Das Vorgehen Palacios weist vielmehr klare Parallelen zu dem Machtwechsel in Bolivien auf, wo im Oktober 2003 nach wochenlangen Protesten der neoliberale Präsident Gonzalo Sánchez de Lozada aus dem Amt gejagt wurde. Auch in Bolivien übernahm Lozadas Vertreter Carlos Mesa damals die Regierung und versprach einen politischen Wandel. Nur ein Jahr später war deutlich, dass es leere Worte waren. Heute gehen die Menschen zu Hunderttausenden gegen Mesa auf die Straßen.
Politische Gefahren durch Verarmung
An den Ursachen der Staaten übergreifenden Krise in Südamerika hat sich weder in Ecuador noch in Bolivien etwas geändert. Seit der Etablierung der neoliberalen Programme in den achtziger Jahren hat sich die soziale Schere in den meisten Nationen immer weiter geöffnet. Dieser Trend hatte auch politische Auswirkungen. In Ecuador wurde während der Demonstrationen in den vergangenen Wochen vor allem das tief sitzende Misstrauen der Menschen in die politischen Vertreter deutlich. Ähnliche Entwicklungen sind in Bolivien, aber auch in Kolumbien, Mexiko und anderen lateinamerikanischen Staaten zu beobachten.
In Venezuela kam Hugo Chávez ebenfalls ohne die Unterstützung der etablierten Parteien an die Macht. Allerdings versucht er seit seinem Amtsantritt Anfang 1998, einen neuen sozialen - und damit auch politischen - Konsens zu erreichen. Nicht ohne Grund erhält Chávez dabei aus angrenzenden Staaten Unterstützung. Vor allem den Regionalmächten Argentinien und Brasilien ist klar, dass ein weiter sozialer Niedergang in den südamerikanischen Staaten die Stabilität der gesamten Region nachhaltig gefährden würde. Die sozialen Konfrontationen sind inzwischen so offensichtlich, dass sich die südamerikanischen Staaten zunehmend geschlossen gegen die US-Lateinamerikapolitik stellen, wie kürzlich auf dem "Minigipfel" der Staateschefs von Brasilien, Venezuela, Spanien und Kolumbien.
In Ecuador aber bleibt vorerst alles beim Alten. Lucio Gutiérrez hat am Sonntag durch eine Hintertür die brasilianische Botschaft verlassen, in der er vor den wütenden Demonstranten Zuflucht gefunden hatte. Wenn Palacio die Sozial- und Wirtschaftspolitik nicht grundlegend ändert, wird er ihm rasch folgen. Immerhin hat in Ecuador seit 1996 kein Präsident seine Amtszeit beendet.