Flucht nach Kanada
In Kanada fordern Irak-Deserteure der US-Armee zum Ärger der konservativen Regierung Asyl und rufen dabei Erinnerungen an die Zeit des Vietnam-Kriegs hervor
Tagsüber Fahrradkurier in Kanadas größter Stadt, abends junger Familienvater, demnächst politischer Gefangener in den USA? Jeremy Hinzman kommt aus South Dakota und lebt wie zahlreiche US-Amerikaner in der kanadischen Metropole Toronto. Kanada gilt als weltoffen, die Studiengebühren sind relativ niedrig und Homosexuelle können hier legal heiraten. Doch Hinzman ist aus einem anderen Grund hier: Der ehemalige Soldat ist mit Frau und Kind auf der Flucht vor den US-Behörden. Die wollen ihn vor ein Kriegsgericht stellen, denn Hinzman desertierte, als er in den Irak verlegt werden sollte. Das war im Januar 2004.
Im April 2005 wurde sein Antrag auf politisches Asyl in Kanada abgelehnt. Amnesty International hat deshalb angekündigt, ihn als politischen Gefangenen einzustufen, sollte Hinzman in die USA abgeschoben werden. Der 27-Jährige ist kein Einzelfall. Über 8.000 junge US-Soldaten desertierten in den letzten Jahren aus Angst vor einem Einsatz im Irak. Beobachter gehen davon aus, dass seit Beginn des Irak-Kriegs Hunderte junger US-Rekruten unauffällig in Kanada leben. Sieben von ihnen tauchten in Toronto auf und haben Asylanträge gestellt. Bisher erfolglos, doch der Weg durch die Instanzen ist noch nicht zu Ende.
Der neuen kanadischen Regierung kommen die fahnenflüchtigen Amerikaner allerdings ungelegen: Da sich Kanada unter dem damaligen Premierminister Jean Chrétien (Liberale) der Irak-Kriegs-Koalition verweigert hatte, bemühen sich die regierenden Konservativen nun um bessere Beziehungen zu Washington. Der US-Botschafter sprach kürzlich schon ausgesprochen freudig von einem "neuen Ton" zwischen den Nachbarn. In Afghanistan ist Ottawa emsig mit dabei. Während die Hälfte der in einer vor kurzem veröffentlichten Studie befragten Kanadier den Einsatz eigener Truppen in Afghanistan ablehnt, hat Premierminister Stephen Harper (Konservative) das dortige Kontingent gerade erst auf 2.300 Soldaten aufgestockt.
Jack Layton, Parteichef der oppositionellen linkssozialdemokratischen NDP, nannte die Deserteure der US-Armee "mutige Individuen". Ihre neue Heimat teile ihre Werte, teilte er öffentlichkeitswirksam mit. Layton erinnerte auch an den Sommer 1969, als Pierre Trudeau, seinerzeit liberaler Premierminister, Kanada mitten im Vietnamkrieg zum "Refugium gegen den Militarismus" erklärte. Über 50.000 Kriegsdienstverweigerer kamen Anfang der 1970er, mehr als 20.000 blieben. Die Überläufer aus dem Süden wanderten als gesetzlich anerkannte Flüchtlinge nach Kanada ein. Viele von ihnen haben sich in der kanadischen Gesellschaft erfolgreich eingerichtet: Sie sind Lehrer, Ingenieure, Anwälte. In Toronto halfen sie den Irak-Ausreißern beim Ankommen in der neuen Heimat.
Asyl wird US-Deserteuren heute nicht mehr gewährt. Anders als vor 35 Jahren gibt es in den USA derzeit keine Wehrpflicht, sondern eine aus Freiwilligen bestehende Berufsarmee. Hat man sich aber erst einmal für den Dienst mit der Waffe entschieden, gibt es kaum ein Zurück. Die Einwanderungsbehörde erklärte, dass Hinzmans Familie in ihrer alten Heimat keine Menschenrechtsverletzungen zu befürchten habe. Ihm selber drohen zwar bis zu fünf Jahre Gefängnis. Doch eine Rückkehr in die USA würde sie "nicht der Gefahr grausamer oder ungewöhnlicher Behandlung aussetzen", begründete die zuständige Kommission die Ablehnung des Asylantrags.
Umgehend betonte auch Einwanderungsminister Monte Solberg (Konservative), dass geflohene US-Soldaten weiterhin nicht als Flüchtlinge anerkannt werden. Die kanadische Regierung hat momentan keine Schwierigkeiten, das Thema auszusitzen. Vergangenes Jahr desertierten nach US-Angaben gerade einmal 0,24 Prozent der US-Rekruten, allein 1971 waren es 33.000 Soldaten - immerhin 3,4 Prozent der amerikanischen Armee.