Flüchtlinge sterben, "Werte" nicht
Seite 2: Gute und schlechte Zäune und Mauern
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Ganz ohne Kritik bleibt die Behandlung der Flüchtlinge an den Grenzen der EU allerdings nicht: "Dass Seehofer auch Zurückweisungen nicht ausschließen will, kritisierte die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl scharf", erwähnte die WAZ. "Die Abwehr, von der Seehofer spreche, setze die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention außer Kraft."
Viele Kommentatoren sorgen sich nun um das Ansehen der EU als Hüterin von Werten. Diese Werte müssen allerdings sehr flexibel sein. Denn schon der Aufschrei seinerzeit gegen die Mauer eines Trump an der Südgrenze der USA oder den Zaunbau eines Viktor Orbán an der ungarischen Grenze war verlogen. Es gab ja längst meterhohe Zäune an der Grenze Spaniens zu Marokko in der afrikanischen Exklave des Landes. Diese Zäune standen nie groß in der Kritik, höchstens mal für eine Sensationsmeldung gut, sie dienten immer schon der akzeptierten Grenzsicherung des Landes.
Ganz anders beim Anliegen von Ex-US-Präsident Donald Trump, das Gleiche an der Südgrenze seines Landes zu praktizieren. Weil der Mann der europäischen Politik und Öffentlichkeit wegen seiner "America first!"-Politik nicht passte, war seine Grenzsicherung ein Akt der Unmenschlichkeit. Und Orbáns Bestehen auf der nationalen Zuständigkeit für seine Grenzen gegenüber der Forderung Deutschlands und Teilen der EU, diese in europäische Hände zu legen, zeigte ebenso den unmenschlichen Charakter seiner Politik.
Inzwischen ist diese Kritik verstummt, nicht aber die Forderung Deutschlands, bei der Sicherung der Außengrenzen der EU ein Mitspracherecht zu haben. Also wird auch jetzt wieder allen Staaten mit Außengrenzen europäische Hilfe bei der Grenzsicherung und der Behandlung von Flüchtlingen angeboten, was die lieben Partner großenteils ablehnen: "Die Bundesregierung und die EU-Kommission wollen helfen, stellen Griechenland 50 Millionen Euro bereit, damit die Menschen ‚Brot, Bett und Seife‘ bekommen. Nur Athen nimmt das Angebot nicht an", hieß es im WAZ-Bericht. Schließlich dienen die miserablen Verhältnisse der Abschreckung weiterer Flüchtlinge und gehen daher voll in Ordnung.
Überhaupt hat sich die Kritik an der Grenzsicherung durch meterhohe Stacheldrahtzäune - früher einmal die Todsünde des Ostblocks, der den Kontinent mit einem Eisernen Vorhang teilte - erledigt, einschlägige Maßnahmen scheinen kein Angriff mehr auf die Werte der EU zu sein: Polen sowie Lettland und Litauen versuchen die EU-Außengrenzen nach Belarus dichtzumachen. Die Länder bauen Grenzzäune, Polen plant auch eine dauerhafte Befestigung. Deutsche Politiker zeigen dafür großes Verständnis: "Wir brauchen Zäune und wir brauchen vermutlich auch Mauern", sagte Sachsens Michael Kretschmer (CDU) vergangene Woche in Brüssel.
Die immer noch massenhaft im Mittelmeer Ertrinkenden oder die auf Geheiß der EU Internierten in Libyen und deren himmelschreiende Behandlung sind daher kaum noch irgendwo Thema. Wenn dann doch die Behandlung von Flüchtlingen, etwa vor Gericht, zum Skandal wird, dann fragt sich, wem eigentlich die Sorge gilt - den abgeschobenen Flüchtlingen oder dem Ansehen der EU?
Niederländische Anwälte haben am Mittwoch vor dem Europäischen Gerichtshof eine Klage gegen Frontex eingereicht und werfen der EU-Grenzschutzagentur vor, die Grundrechte syrischer Flüchtlinge verletzt zu haben, indem diese im Oktober 2016 per Pushback von Griechenland in die Türkei zurückgeschoben worden seien, heißt es in den Medienberichten.
Es ist die erste Klage dieser Art. Sie könnte die EU auch deshalb in Bedrängnis bringen, weil sie offenbar mit einer besonders detaillierten Dokumentation untermauert ist. Bisherige Berichte über Pushbacks, die Frontex zumindest geduldet haben soll, handelten von Zurückweisungen auf hoher See, die schwer nachzuweisen sind.
Solange die Menschen still im Meer ertrinken, ist die Welt in Ordnung, blöd nur, wenn die Pushbacks auch noch nachgewiesen werden können.
Drohende "Hilfe"
Wenn es um die Behandlung von Flüchtlingen geht, dann gibt es einen eigenartigen Streit. Die einen betonen, dass nicht alle Notleidenden hier aufgenommen werden können. Die anderen fordern mehr Hilfen für die Herkunftsländer. Beide Positionen sind seltsam.Die Betonung der begrenzten Aufnahmemöglichkeiten von Flüchtlingen in Deutschland ist in mehrfacher Hinsicht absurd.
Erstens wollen nicht alle Menschen in Not nach Deutschland, es handelt sich um eine begrenzte Zahl. Zweitens können die Menschen, die gerne ihrer Not in Richtung Westen entkommen würden, dies nur in seltenen Fällen bewerkstelligen. Die meisten kommen nicht weit und landen in einem der regionalen Flüchtlingslager der Vereinten Nationen. Die UN zählen mittlerweile 82,4 Millionen Flüchtlinge weltweit, also eine Größenordnung wie die Einwohnerzahl Deutschlands.
Dabei zeigen diese Fluchtbewegungen, dass die vielgelobte freie Wirtschaft und ihre militärische Absicherung weltweit nicht nur der Natur schaden, sondern die Lebensgrundlage vieler Menschen ruinieren. Von der genannten Zahl sind 48 Millionen, also mehr als die Hälfte Binnenflüchtlinge. Sie verbleiben innerhalb des eigenen Landes. 20,7 Millionen werden vom UNHCR betreut und versorgt. Eine Flucht kostet zudem Geld, deshalb legen viele Familien ihr Geld zusammen oder verschulden sich, um ein oder zwei Mitglieder auf den Weg zu schicken.
Drittens stellt sich die Frage, wo denn die Grenze der Aufnahmefähigkeit liegen soll. Kann Deutschland 100.000, eine Million oder wie viele zugereiste Menschen verkraften? Die Betonung der begrenzten Aufnahmefähigkeit wird offenbar auch dann nicht ad absurdum geführt, wenn gleichzeitig Fachleute die Zahl der notwendigen Migranten berechnen, die es für das Funktionieren der Wirtschaft als Fachkräfte oder für die Finanzierung der Rentenversicherung braucht.
Dass dafür Flüchtlinge wegen fehlender Qualifikation nicht in Frage kämen, ist ebenso eine Legende, zählen doch zu den vielgesuchten Arbeitskräften auch und gerade Ungelernte. Es geht also gar nicht darum, dass Deutschland keine Fremden vertragen könnte und überfordert wäre, sondern es geht lediglich darum, dass Deutschland wie die anderen Staaten auch darauf besteht, selber zu bestimmen, wie viele und wen es aufnimmt. Und da sind Flüchtlinge in den Augen der Politik anmaßend, im Endeffekt kriminell, wenn sie für sich ein Recht auf Asyl einfordern.
Die Forderung nach mehr Hilfe in den Herkunftsländern als Fluchtvermeidungsstrategie erweist sich bei näherem Hinsehen als ebenso absurd. Kommen denn die meisten Flüchtlinge nicht gerade aus Ländern, denen europäische oder westliche Hilfe zu Teil geworden ist? Nicht nur die Afghanen, die jetzt vergeblich versuchen, die EU zu erreichen, können ein Lied davon singen. Sie sind schließlich auch Resultat der "Hilfe", die der Westen dort beim Aufbau der Zivilgesellschaft mit Panzern und Bomben zwei Jahrzehnte lang praktiziert hat.
Sie haben davon gelebt, dass sie Dienstleistungen für das Nato-Militär und die begleitenden Projekten erbrachten. Jetzt sind die Militärs und Entwicklungsprojekte weg und damit die Lebensgrundlage vieler Afghanen. Ein Grund, sie hier aufzunehmen, ist dies - nach der ersten Euphorie über gelungene Transitflüge der Bundeswehr ab Flughafen Kabul - allemal nicht.
Schon die Visavergabe bereitet Probleme - und überhaupt sollen die doch besser, wenn nicht zu Hause, so doch in der Region bleiben. Bundesaußenminister Maas hat ja in diesem Sinne die Anrainerstaaten besucht und ihnen klargemacht, wie viel Platz bei ihnen für die Aufnahme von Notleidenden besteht. Eile, sie hierher zu holen, gibt es jedenfalls nicht - und wenn sie sich jetzt selber über Belarus auf den Weg machen, dann ist das ein Grund, sie nicht hereinzulassen.
Nicht zufällig kommen die meisten Flüchtlinge aus Ländern, in denen westliche Staaten und damit auch Deutschland für die Durchsetzung von Werten gesorgt haben. So musste seinerzeit vorgeblich mit Bomben ein drohender Holocaust auf dem Balkan sowie der Einsatz von Massenvernichtungswaffen durch den Irak verhindert werden; das unmenschliche Assad-Regime in Syrien galt es zusammen mit menschenfreundlichen Islamisten zu bekämpfen und den libyschen Diktator Gaddafi zu liquidieren, um diversen Warlords freie Bahn zu schaffen.
Alles im Namen hoher Werte, die den dortigen Menschen nicht gut bekommen sind. Und wenn die Menschen Afrikas als massenhafte Bedrohung für Europa gelten, denen der Weg bereits in Mali abgeschnitten werden soll, so ist deren Flucht doch auch Resultat jahrzehntelanger "Hilfe" Europas bei der Entwicklung ihrer Länder. Dass Shell ein ganzes Niger-Delta mit Öl verschmutzen durfte, ist nur ein Beispiel.
Die Moral stirbt zuletzt
Verborgen bleibt die Misshandlung von Flüchtlingen nicht. Den Klagen von Nichtregierungsorganisationen oder Kirchen wird in den Medien immer mal wieder Platz eingeräumt. Praktisch klargestellt ist damit, dass nicht die "Werte" es sind, die politisches Handeln bestimmen. Sie dienen vielmehr der Legitimierung der politischen Ziele, und noch der letzte westliche Staatenlenker kann sich beim Papst-Besuch sicher sein - US-Präsident Joe Biden zuletzt bei einer Rekord-Audienz von 75 Minuten - dass die moralische Autorität in Rom ihm diese Legitimation bestätigt. Ermahnungen zum gottesfürchtigen Handeln und Warnungen vor Fehltritten natürlich inbegriffen. Diese bestätigen ja gerade die Legitimität der Herrscher.
Trotz dieser gebotenen Aufklärung ist der Glaube daran, dass im Staatshandeln "unserer" Politiker die Werte den Kompass abgeben, unerschütterlich: "Denn dass Geflüchtete zur Waffe gemacht werden, wie Seehofer sich ausdrückt, dass sie am Ostrand der EU misshandelt werden, in Koatien halbtot geprügelt oder in Griechenland illegal in die Rechtlosigkeit zurückgestoßen werden - das ist alles eine Schande und mit europäischen Grundsätzen unvereinbar", so die SZ-Autorin (Constanze von Bullion.
Da macht es offenbar gar nichts, wenn alle Staaten Europas für eine Grenzsicherung eintreten, die sicherstellen soll, dass Flüchtlinge gar nicht erst den Boden Europas erreichen, um einen Asylantrag stellen zu können. Auch die vielen Verträge mit Staaten - die nur einen Inhalt haben, nämlich die Flüchtlinge von einem Versuch des Grenzübertritts abzuhalten, und dafür im Austausch Geld oder die Ausstattung mit militärischen Mitteln bieten -, erregen offensichtlich keinen Zweifel an der Güte europäischer Politik.
Wenn Flüchtlinge weitab von Europa interniert und misshandelt werden, dann ist das ja nicht das Ergebnis europäischer Politik. Man soll das vielmehr den dortigen Machthabern anlasten, die von unseren Werten keine Ahnung haben: "Wenn die nächste deutsche Regierung es nicht schafft, eine ebenso konsistente wie humanitäre Asylpolitik für Europa durchzusetzen", so die Mahnung und Warnung, dann "werden in der Migrationspolitik die Herren Alexander Lukaschenko oder Recep Tayip Erdogan bestimmen. Nicht mit dem Gesetzbuch, sondern mit dem Knüppel".
Da können europäische Grenzwächter noch so viel knüppeln. Schuld sind immer die anderen, denn europäische Machthaber gehören zu den Guten, ganz gleich, was sie zur Sicherung ihrer Hoheit an den Grenzen auch immer veranstalten.
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