Fortschritt oder Mogelpackung?
Die neue, unter starkem Druck der Lobby nach Jahren der Auseinandersetzung und Tausenden von Änderungsanträgen zustande gekommene Chemierichtlinie der EU (Reach)
Chemikalien sollen zur gesundheitlichen Absicherung der EU-Bürger vor ihrer Verwendung registriert, bewertet, zugelassen und, wenn notwendig, in ihrem Einsatz beschränkt werden. So lautet das auserkorene Ziel der REACH-Verordnung, der neuen Chemierichtlinie der Europäischen Union. Sie gehörte jahrelang zu den umstrittensten EU - Regelungen und gilt als Symbol für die Abwägung zwischen Umwelt- und Verbraucherschutz sowie einer industriefreundlichen Politik.
Am 13.12.2006 kam das Straßburger EU-Parlament in zweiter Lesung nach langen Jahren zähen Ringens endlich zur einvernehmlichen Lösung und eine große Mehrheit von 529 Abgeordneten stimmten dem Kompromisspapier zu, das am 30. November mit dem Ministerrat vereinbart wurde. 98 Abgeordnete stimmten dagegen, 24 enthielten sich. Die Regeln, die zum Verbot besonders gefährlicher Stoffe führen können, treten zum 1. Juni in Kraft.
Die Verhandlungen über eine umfassende Reform von Herstellung, Verkauf, Einfuhr und Verwendung chemischer Stoffe kommen damit nach über drei Jahren zu einem Abschluss. Danach sollen bis zu 30.000 (etwa ein Drittel der überprüfungswürdigen Substanzen) bisher nicht getesteter Stoffe auf ihre Unbedenklichkeit überprüft werden Der Kompromiss zwischen Rat und Europäischem Parlament soll den Schutz von Gesundheit und Umwelt verbessern und gleichzeitig die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen erhalten.
Es muss ein Kraftakt gewesen sein, denn allein 5.000 Änderungsanträge in den letzten drei Jahren hielten den Sud ständig am Kochen. Da nun das gewichtige Gesetzespaket vorliegt, fragt sich Otto Normalverbraucher, lohnt das Papier, auf dem es geschrieben wurde?
Krebserkrankungen, an deren Entstehung sicher viele Chemikalien nicht ganz unschuldig sind, fordern jährlich weltweit sieben Millionen Menschenleben. Demnach müsste das Ja der EU-Parlamentarier nur dem hehren Ziel dienen, diese Gefahrenquellen zu reduzieren. Ist es aber so? Sehen wir genauer hin und lassen die Entstehung der Richtlinie nochmals Revue passieren!
- 1993 wollten die EU - Umweltminister mithilfe der Industrie die 140 gefährlichsten und umstrittensten Stoffe bewerten, doch Daten dazu wurden von der Industrie nur spärlich geliefert. Also ließ man es ruhen.
- 1998 entschlossen sich die EU-Umweltminister, den Verfahrensweg zu ändern. Nicht mehr die Behörden sollten prüfen, sondern die Hersteller sollen für den Beweis der Ungefährlichkeit der Substanzen verantwortlich zeichnen. Man beschloss, dass der Umgang mit Chemikalien innerhalb der Europäischen Union neu geregelt werden muss. Über das Ziel war man sich einig: Verbraucher und Umwelt sollten besser vor gefährlichen Chemikalien geschützt werden. Das war der Anfang der so genannten REACH-Verordnung, mit der zum ersten Mal grundlegende Informationen über alle Chemikalien gesammelt und veröffentlicht werden sollen. Besonders schädliche Chemikalien müssen eine Zulassung bekommen, bevor sie weiter verwendet werden dürfen.
- 2001 forderten Tony Blair, Gerhard Schröder und Jacques Chirac eine über Reach hinausgehende Richtlinie für noch höhere Umwelt- und Gesundheitsstandards als die Kommission.
- Gut zwei Jahre später, im September 2003, wollten die Staatschefs davon nichts mehr wissen. In einem Brief an den für die Reform zuständigen Präsidenten der Europäischen Kommission, Romano Prodi, forderten sie „substanzielle Änderungen“ und warnten davor, die Wettbewerbsfähigkeit der Chemiebranche aufs Spiel zu setzen. Aus Aufbruch wurde plötzlich Bedrohung. Ein Schelm, wer Schlechtes dabei denkt! Die geballte Kraft der Chemie-Riesen hatte aus dem Hintergrund zugeschlagen. Natürlich wurde alles sehr geräuschlos, aber dafür sehr effizient vorbereitet. Da organisierte der VCI Essen und Workshops für EU - Parlamentarier - obwohl man den deutschen Volksvertretern als tatkräftiger Unterstützer gut bekannt war: Allein 2003 bedachte der Verband die CDU mit 100.000 Euro und die FDP mit 50.000 Euro. Weil die SPD oft nicht ganz so üppig beschenkt wurde, kümmerte man sich besonders um deren Parlamentarier. Triebkraft hinter den Verbänden war die BASF, der größte Chemiekonzern der Welt.
- Im Sommer 2003 warnte Voscherau, mit Reach drohe man, "Europa zu deindustrialisieren“. Dies war der Beginn eines ausgeklügelten Horrorszenarios der Chemiekonzerne und ihrer Sprachrohre aus der Politik. 2002 hatte BASF-Vorstand Eggert Voscherau, Bruder des langjährigen Hamburger SPD-Bürgermeisters Henning Voscherau, das Ruder bei Cefic übernommen. Man muss wissen, dass Cefic (Chemical Industry Council) der Europäische Chemieverband ist. Er repräsentiert direkt oder indirekt etwa 29.000 große, mittlere und kleine Chemieunternehmen, die zusammen ca. 1,7 Millionen Menschen beschäftigen und für fast ein Drittel der globalen Chemieproduktion stehen.
- In den Panikjahren 2002/2003 taten sich plötzlich ganz neue, bisher unbekannte Allianzen auf: Tierschützer (aus Rücksicht auf angeblich 30 Millionen Test-Mäuse), Gewerkschaften und die Großchemie kämpften Schulter an Schulter. Sogar die Amerikaner fehlten nicht: Außenminister Colin Powell schickte Action Requests an seine europäischen Botschafter, um vor Reach zu warnen. Ein Bericht des demokratischen Kongressabgeordneten Henry Waxman entlarvte später die Machenschaften des US-Chemieverbandes ACC, wie er die Politik in ihren Entscheidungen beeinflusste. Souffliert vom ACC warnte Colin Powell vor einem "kostspieligen, bürokratischen System", das den "globalen Handel zerstören" würde.
- Am 29. Oktober 2003 verabschiedete die Europäische Kommission einen Vorschlag für einen neuen europäischen Rechtsrahmen für Chemikalien. Der Vorschlag zum so genannten REACH-System (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals - Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe) sieht vor, dass Unternehmen einen chemischen Stoff in einer zentralen Datenbank registrieren müssen, wenn sie diesen Stoff in Mengen von mehr als einer Jahrestonne herstellen oder in die EU einführen.
- Ende 2004 griff Günter Verheugen, seines Zeichens Industriekommissar, in den Reach-Prozess ein. Ein Beispiel für sein Mitwirken war das sogenannte Room Paper vom September 2005. Es fußte auf einer Vereinbarung von Verheugen, Kommissionspräsident José Manuel Barroso und Umweltkommissar Stavros Dimas. Unter Umgehung der anderen Kommissare wurde vereinbart, Reach aufzuweichen. Datenanforderungen für bestimmte Chemikalien wurden gelockert - und die Industrie von Kosten befreit.
- Die Chemieindustrie ließ jetzt nicht locker, sie wollte das Eisen schmieden, so lang es noch heiß war. Was wirkt da bei der Bevölkerung und wankelmütigen, bzw. uninformierten EU - Politikern besser, als permanente Verlautbarungen von massenhaft wegbrechenden Arbeitsplätzen und horrenden Kosten? Großbritannien vermeldete gar neun Milliarden Testkosten bei 36-jähriger Testzeit für die zu überprüfenden Substanzen. Mit Anzeigenkampagnen, die den millionenfachen Verlust von Jobs prophezeiten, wurde die öffentliche Meinung infiltriert und die positive Wahrnehmung von Reach ins Gegenteil gedreht. Der Lobbydruck bei Reach war "höher als bei jedem anderen Gesetzesvorhaben der Kommission", sagten 2003 die damaligen Kommissare Margot Wallström (Umwelt) und Erkki Liikanen (Unternehmen). Kommission und Parlament hatten es mit einem Schwergewichtsgegner zu tun: der europäischen Chemieindustrie. 436 Milliarden Euro setzte die Branche im Jahr 2005 um. Das ist zwar nur rund ein Drittel der Erlöse der größten Ölmultis, aber immerhin mehr als die Automobilindustrie in Europa. Sie ist eine der umsatzstärksten Branchen auf dem Kontinent und wird von den Deutschen dirigiert. Was alle zu spüren bekamen. Die Zahlen der Industrie seien "gelinde gesagt, ein wenig übertrieben gewesen", sagte später Verheugen, aber da war Reach schon spürbar „entschärft“ und der Wunsch der Lobbyisten in vielen Bereichen aufgegangen. Ein typisches Beispiel dafür: Die Substitution hochriskanter Stoffe und die ursprünglich geplanten Sicherheitstests für Chemikalien unter einer Jahresproduktion von zehn Tonnen - alles gestrichen. Auf Betreiben der Konservativen, die sich lange als Schützer des Mittelstands aufgespielt hatten, wurde den Unternehmen zugesichert, ihre ermittelten Daten länger für sich behalten zu dürfen. Eine Verschärfung, die fast nur den großen Firmen zugute kommt.
- Die erste Lesung im Europäischen Parlament fand am 17. November 2005 statt Nach der politischen Einigung am 13. Dezember 2005 verabschiedete der Rat seine Gemeinsame Position am 27. Juni Die Mitteilung der Kommission, welche ihre Position zur Gemeinsamen Position des Rates formuliert, wurde am 12. Juli 2006 veröffentlicht. Der EU-Ministerrat hat nun den endgültigen Text der REACH-Verordnung am 18. Dezember verabschiedet. REACH wird somit am 1. Juni 2007 in Kraft treten.
Kritikern geht die Richtlinie nicht weit genug
Der Anfang zur Überwachung der Chemieprodukte ist gemacht, aber wie so oft steckt der Teufel im Detail. Verbraucherschützer und Umweltorganisationen haben die vom EU-Parlament verabschiedete Chemikalienrichtlinie als Enttäuschung für Konsumenten und Umwelt bezeichnet. „In Zukunft werden gefährliche Chemikalien, auch wenn es sichere Alternativen gibt, in Verbraucherprodukten erlaubt sein“, sagte die Vorsitzende des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, Edda Müller, in Berlin. Die Industrie sei nach dem jetzt verabschiedeten Text nur dazu angehalten, die Gesundheit des Menschen und die Umwelt nicht nachteilig zu beeinflussen.
Unter dem Strich könnten Chemikalien, für die keine Risikostudien vorliegen, weiterhin in Alltagsprodukten zu finden sein. Die Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) kritisiert insbesondere, dass der Verbraucher den Produkten auch künftig nicht ansehen werde, ob sie gefährliche Substanzen enthalten oder nicht. „Ein Ansporn für sichere Produkte und die Entwicklung sicherer Ersatzstoffe sieht anders aus“, sagte Müller. Immerhin sehe REACH eine Auskunftspflicht für Hersteller und Händler über den Einsatz besonders gefährlicher Substanzen vor. Müller rief die Verbraucher auf, von diesem Recht Gebrauch zu machen: „Wer nachfragt, welche Substanzen in den Produkten stecken, fördert Unternehmen, die sich um ungefährliche Alternativen bemühen.“
Auch anderen Organisationen geht die Richtlinie nicht weit genug: So dürften Krebs erregende, die Fruchtbarkeit schädigende und hormonell wirksame Chemikalien weiter vermarktet werden, selbst wenn sichere Ersatzstoffe vorhanden seien. Phthalate, perfluorierende Tenside, bromierte Flammschutzmittel: Hochrisikostoffe bleiben durch Reach in Anwendung. Allerdings ist es positiv, dass solche Stoffe ersetzt werden müssen, die im menschlichen Körper nicht abbaubar sind, wie Greenpeace, der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und der Frauenverband Women in Europe for a Common Future (WECF) gemeinsam mitteilten.
Anhänger des Kompromisses aus den großen Fraktionen und der EU-Kommission feierten den Beschluss als großen Erfolg. Der Vorsitzende des Umweltausschusses des Parlaments, Karl-Heinz Florenz (CDU), sagte, der Ausgleich zwischen Umweltbelangen und Wirtschaftsinteressen sei gelungen. Doch Kritiker beklagen, die Reach genannte Regelung sei so weit entschärft worden, dass sie Umwelt und Gesundheit kaum noch schützen könne.
Die Grünen sprachen von einer beschämenden Mogelpackung. „Die Verordnung ist ein fauler Kompromiss, der ganz klar die Handschrift der deutschen Chemieunternehmen trägt“, sagte die Abgeordnete Hiltrud Breyer. Das Herzstück der Regelung sei herausgerissen worden: In dem Kompromiss gibt es keinen Zwang mehr, besonders gefährliche Stoffe auf jeden Fall zu ersetzen. „Europäische Industriegifte werden weiter da auftauchen, wo sie nichts zu suchen haben, nämlich im Blut von Kindern und Erwachsenen, in der Muttermilch, im Trink- und Grundwasser und im Fettgewebe der Eisbären“, sagte Breyer. Auch Greenpeace und der Umweltverband BUND kritisierten, Reach sei zu schwach. Gefährliche Chemikalien könnten weiter vermarktet werden.
Der Ersatz besonders gefährlicher Stoffe war der zuletzt umstrittenste Punkt in den Beratungen über das umfangreichste EU-Gesetzeswerk überhaupt. Der Kompromiss sieht vor, dass auch besonders gefährliche Stoffe genehmigt werden können. Voraussetzung ist, dass nach Alternativen gesucht wird und der Stoff ausreichend kontrolliert werden kann. Damit würden die Hersteller in die Verantwortung genommen, lobte Florenz. Gibt es sicherere Alternativen, soll auf diese umgestellt werden.
Sicher, irgendwann, in etwa 15 Jahren, soll es heißen: Leg' doch mal einen Substitutionsplan vor. Eine Verpflichtung zum Austausch ist aber auch dann nicht vorgesehen. Und der Verbraucher? Er sollte ursprünglich erkennen können, ob gefährliche Stoffe in seiner Kleidung oder seinem Teppich verarbeitet wurden. Er sollte Politik mit seinem Einkaufswagen machen können. Doch eine Kennzeichnungspflicht gibt es nun praktisch nicht. Immerhin müssen ihm auf Anfrage Hochrisikostoffe in den Produkten genannt werden, nach ein paar Wochen, irgendwann. Selbst wenn ein gefährlicher Stoff nicht adäquat kontrollierbar ist, hat er Zukunft: Und zwar dann, wenn sein "gesellschaftlich - ökonomischer" Nutzen das Gesundheitsrisiko übersteigt und keine Alternative vorhanden ist. So wird es etwa bei den weit verbreiteten hormonell wirksamen Schadstoffen sein. Zu diesen potentiell fortpflanzungsschädigenden Substanzen zählt die europäische Lebensmittelbehörde etwa das Insektizid Methomyl. Auch bestimmte Moschusverbindungen in Parfums gehören dazu. So sieht sie aus, die vermeintliche Revolution zum Schutz von Mensch und Umwelt.
Die deutsche Chemieindustrie, die mit einem Viertel des europäischen Branchenumsatzes die größte in der EU ist, reagierte verhalten. Trotz Verbesserungen bleibe Reach eine große Herausforderung, erklärte der Branchenverband VCI. Auf die Unternehmen kämen Kosten und ein erheblicher bürokratischer Aufwand zu. Allein die Umsetzungsleitfäden für Unternehmen seien mehrere tausend Seiten dick. „Vor allem für mittelständische Firmen führt dies zu deutlichen Zusatzbelastungen“, sagte VCI-Präsident Werner Wenning. „Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit gerät mit Reach noch stärker unter Druck.“ Positiv seien Verbesserungen beim Schutz von Geschäftsgeheimnissen. Kein Wort darüber, dass es eigentlich vordergründig um die Gesundheit von Millionen von Menschen geht.
Hätten nicht ständig Chemieunfälle, rätselhafte Erkrankungen von Kindern und Erwachsenen im Wohnumfeld und am Arbeitsplatz, sowie lokales Tiersterben für Aufsehen gesorgt, gäbe es Reach wahrscheinlich in seinen Festlegungen auch heute noch nicht. Erneut versagte aufgrund der Dringlichkeit des Problems die Politik, sie konnte sich nicht aus der Umarmung des Lobbyismus befreien.
EU-Umweltkommissar Dimas sagte: „REACH ist zurzeit die weltweit ehrgeizigste Chemikaliengesetzgebung und stellt eine erhebliche Verbesserung im Vergleich zur jetzigen Situation dar. Es werden mehr Informationen über Substanzen in Alltagsprodukten erhältlich sein und es wird damit gerechnet, dass die meisten gefährlichen Stoffe schrittweise durch unbedenklichere Alternativen ersetzt werden. Auf diese Weise können der Gesundheitsschutz verbessert und Umweltschäden vermieden werden. Außerdem wird REACH in der chemischen Industrie innovationsfördernd wirken und das Vertrauen der Verbraucher in ihre Produkte stärken." Um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Chemieindustrie zu erhalten und ihre Innovationsfähigkeit zu fördern, wurde das REACH-System gegenüber dem bestehenden EU-Chemikalienrecht einfacher gestaltet.
So gewinnen alle: die Industrie, die Arbeitnehmer, die Bürger und unser Ökosystem. Mit dem Gesetz hat die EU immerhin eines der fortschrittlichsten Chemikaliengesetze der Welt, auch wenn vieles verbessert werden müsste.