Forum für Urheberrechtsreform in Brasilien gestartet

Auf Initiative von Kulturminister Gilberto Gil begann in Rio de Janeiro eine umfassende Debatte über eine Reform des brasilianischen Urheberrechts.

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In Veranstaltungen, die sich über das ganze Jahr 2008 erstrecken, wird die Balance zwischen der freien Kultur und den Ansprüchen der Autoren im Zentrum stehen. Mit Impulsen auch für die internationale Urheberrechtsdebatte wird gerechnet.

Am Mittwoch, dem 5. Dezember, begann eine Serie von Symposien, auf denen Kreative und Verbraucher, Wirtschaftsvertreter und Politiker ihre Vorstellungen zum Urheberrecht im 21. Jahrhundert vortragen und gemeinsam neue Modelle für das digitale Zeitalter entwickeln sollen. Eröffnet wurde diese Auftaktveranstaltung im Palácio Gustavo Capanema in Rio de Janeiro von Kulturminister Gilberto Gil, Justizminister Mathias Carlos Fernando de Souza, dem Staatssekretär für strategische Planung Marcelo Behar und dem Präsidenten der nationalen Kulturstiftung (FUNARTE). Es folgten drei thematische Panels zu Urheberrecht und Zugang zu Kultur, zur Frage, ob das Urheberrecht tatsächlich den Autor oder nicht vielmehr die Verwerter schütze, und zu den Verwertungsgesellschaften.

Im Vorfeld des Forums hatte Marcos Alves de Souza, Leiter der Urheberrechtsabteilung im Kulturministerium, die Hoffnung geäußert, dass diese Debatte gewichtige Beiträge für die Reform des brasilianischen Urheberrechts liefern werde. „Das Urheberrecht ist die Grundlage für jede öffentliche Kulturpolitik, und, wenn es angemessen geregelt ist, fördert es die gesamte Kulturproduktion.“ Der Schutz urheberrechtlicher Werke solle Anreize für Kreative schaffen und Produzenten und anderen Investoren Rechtssicherheit bieten. „Zugleich muss ein breiter Zugang zu diesen Kulturgütern für die Bürger sichergestellt werden, in einer fairen Weise und in seiner ganzen Vielfalt,“ betonte Souza.

Minister Gil: gegen Total-Buyout-Verträge

In seiner Eröffnungsrede am Mittwoch bezeichnete Kulturminister Gil das Forum als Krönung der Urheberrechtspolitik, die sein Ministerium von Anfang an ins Zentrum seiner Aktivitäten gestellt habe. Die technologische Revolution führe zu einem raschen Wandel des gesamten Sektors. Die letzte Novellierung des Urheberrechtsgesetzes 1998 habe sich bemüht, Antworten auf die Herausforderungen durch das Internet und die digitale Umwelt zu formulieren. Heute, fast zehn Jahre später, so Gil, erwiesen diese sich als ungenügend. Zum Beispiel kriminalisiere das Gesetz das Kopieren eines Musikstückes von einer CD auf eine MP3-Datei. „Unser Gesetz unterscheidet nicht zwischen kommerziellem und privatem Kopieren.“ Das führe dazu, dass viele Studenten Urheberrechtsverstöße begingen, wenn sie für Bildungszwecke Bücher fotokopieren. Der Minister schlug daher die Einführung eines „Fair Use“-Prinzips vor, wie es das US-amerikanische Urheberrecht kennt.

Auftaktveranstaltung

Ein weiterer Themenkomplex, den Minister Gil dem Forum aufgab, ist der Schutz der Autoren. Nur ein geringer Teil der Künstler und Kulturschaffenden sei mit dem gegenwärtigen System zufrieden. In weit verbreiteten Verträgen würden Urheber sämtliche Rechte an ihren Werken für einen minimalen Vorschuss abtreten, selbst das Recht, ihre eigenen Werke weiterzuentwickeln. In vielen Fällen würden die Erlöse aus der internationalen Verwertung brasilianischer Musik und Filme nicht ins Land zurückfließen. Viele Kreative seien auch von den Erträgen aus Kompilationen, ob in Brasilien oder im Ausland hergestellt, ausgeschlossen. „Dies ist bedauerlich angesichts der symbolischen Dimension und der Bedeutung, die das Kulturschaffen für den Aufbau einer Gesellschaft wie der Brasiliens hat, einer Nation, deren Kultur eine ihrer wichtigsten Ressourcen darstellt,“ sagte Gil. Die Kulturindustrie erwirtschaftet rund sieben Prozent des Bruttoinlandseinkommens Brasiliens.

Gil warnte vor einfachen Lösungen. Weder die schlichte Übernahme von Standard-Gesetzentwürfen, wie die Weltorganisation für Geistiges Eigentum (WIPO) sie anbietet, noch technische Maßnahmen zum Rechteschutz seien eine Antwort. Letztere würden technologische Innovation unterbinden und die grundlegenden Rechte der Bürger, Werke für legitime Zwecke zu reproduzieren, verhindern. Sie seien vielmehr ineffizient, kostspielig und stießen auch in der entwickelten Welt auf wachsenden Widerstand.

In welche Richtung soll das Urheberrecht geändert werden? Welche anderen Formen von Regulierung sind hilfreich? Dies seien Fragen, betonte der charismatische Komponist, Musiker und Kulturpolitiker, die nur kollektiv beantwortet werden können. Der mit dem Auftakt des Forums begonnene breite gesellschaftliche Dialog soll dazu dienen, größere Gerechtigkeit und Transparenz in der Welt des Urheberrechts auf Brasiliens Weg in die Wissensgesellschaft herzustellen. „Schließlich ist dies eine Politik von strategischer Bedeutung für das Land, die die brasilianische Kulturproduktion fördern soll,“ so Gil, „nicht nur indem sie die Kreativen stärkt, sondern auch die kulturelle Bildung der Individuen in ihrem legitimen Recht auf Zugang zu den urheberrechtlich geschützten Gütern.“

Urheberrechtsdebatte in Brasilien spitzt sich zu

In den vergangenen Monaten ist die brasilianische Debatte über das Urheberrecht eskaliert. Die Musikverwertungsgesellschaft ECAD, mit Namen der Direktor der Brasilianischen Komponistenvereinugung Fernando Brant, hatte Gil in einer Reihe von Zeitungsartikeln persönlich für dessen alternative Ansätze und seine Unterstützung für Creative Commons-Lizenzen scharf angegriffen.

International hat sich Gil für die Anerkennung von Brasiliens Kultur eingesetzt, unter anderem hat er den Eintrag eines Sambas in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit erwirkt. Er war persönlich an der Formulierung der Sampling-Lizenzen des Creative Commons-Projekts beteiligt. Im Land fördert Gils Ministerium unter dem Stichwort „digitale Inklusion“ zahlreiche Initiativen, um die extreme Spanne zwischen Arm und Reich zu überbrücken. So wurden bislang 650 so genannte Kulturpunkte im ganzen Land mit Hardware und freier Software für multimediale Produktion ausgestattet, die ihre vielfältige Kreativität im Internet sichtbar machen und untereinander vernetzen helfen sollen.

Dabei hat sich gezeigt, dass marginalisierte Bevölkerungsschichten ein ausgeprägtes Kreativvermögen aufweisen, das oftmals nur einen Vertriebskanal und ein wenig Marketingwissen benötigt, um die Welt zu erobern. Zu den spektakulärsten Beispielen der jüngsten Zeit gehören die Musikstile Favela-Funk aus Rio und Tecnobrega aus dem nordbrasilianischen Bundesstaat Pará, die nicht nur die Clubs in Brasilien, sondern auch in Europa und Nordamerika erobert haben. Wie eine aktuelle Studie zeigt, ist Tecnobrega nach Kautschuk aus dem Amazonas das bedeutendste Wirtschaftsgut in Pará. Neben Musik und Literatur kommt auch immer mehr Mode aus den einkommensschwachen Nachbarschaften. Aufsehen erregte das von Prostituierten in Rio gegründete Modelabel Das Pu. Coopa Roca ist ein weitere Gruppe von Designern aus Rios größter Favela Rocinha, deren Produkte inzwischen in den Haute Couture-Geschäften des Landes geführt werden.

Um den breiten kreativen Ausdruck zu fördern, führt das Kulturministerium seit einiger Zeit eine Diskussion über eine Urheberrechtsnovelle, in deren Zentrum eine Stärkung der Schrankenbestimmungen steht, die Rechtssicherheit bei der Nutzung bestehender Werke bringen soll. Die Vorschläge dazu sollen zum Abschluss des Forums Ende 2008 als Gesetzentwurf ins Parlament eingebracht werden. Die lautstärksten Rechteinhaber und die Verwertungsgesellschaften lehnen eine Gesetzesänderung zum jetzigen Zeitpunkt ab.

Ein weiterer aktueller Streitpunkt ist die Frage des Einsatzes von DRM im digitalen Fernsehen. Nach einem Pilotprojekt begann die digitale Ausstrahlung vor einer Woche in Sao Paulo, doch interessierte Verbraucher erhielten in den Geschäften statt der neuen Decoder nur widersprüchliche Auskünfte. Eine langwierige Debatte unter Federführung des Kommunikationsministeriums hatte zu einer Entscheidung für den japanischen Digitalstandard geführt. Von neun beteiligten Ministerien sprach sich anfangs nur Gils Kulturministerium gegen die Verwendung von DRM aus. Ein Gutachten zu den Folgen von DRM, durchgeführt vom Zentrum für Technologie und Gesellschaft (CTS) des Rechtsinstituts der Privatuniversität Fundação Getulio Vargas, kehrte dieses Verhältnis um. Da die strikte Pro-DRM-Haltung des Kommunikationsministeriums einen Konsens unter den beteiligten Ministerien verhinderte, liegt die letzte Entscheidung nun beim Präsidenten. Beobachter rechnen mit einem Kompromiss, bei dem Verbraucher Sendungen in der Settop-Box aufzeichnen und beliebig oft anschauen dürfen, diese jedoch nicht auf andere Geräte überspielen können. Für die Geräteindustrie und die erwartungsvollen Nutzer bleibt vorerst nur Abwarten.

Die unklare Regelung zur Privatkopie hatte vor zwei Jahren zu einer Klagewelle des Verlegerverbandes gegen Universitäten geführt, die ihren Studenten die Möglichkeit geben, Bücher und Zeitschriftenartikel zu fotokopieren. Dagegen hat sich eine Bewegung unter der Losung Bücher Kopieren ist ein Recht gebildet. Das Verfahren gegen die Universität Sao Paulo liegt inzwischen beim obersten Gerichtshof.

In jüngster Zeit kamen ein Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung für Internetnutzung hinzu, der unter anderem mit der Bekämpfung von Urheberrechtsverstößen begründet wurde. Außerdem bemüht sich eine Koalition der Rechteindustrie, direkt in die Schulen gehen zu dürfen, um den Kindern die Schändlichkeit der Piraterie beizubringen.

All diese eskalierenden Streitpunkte machen den Handlungsbedarf deutlich, den Minister Gil nun in einer breiten gesellschaftlichen Konsultation einfüllen möchte.

Minister Unger: Ein neues Eigentumsregime, das auf Kooperation beruht

Eine weitere Schlüsselfigur in diesem Forumsprozess ist der Minister für strategische Planung Mangabeira Unger. Im Rahmen des Internet Governance Forums Mitte November hatte der Harvard-Professor das Internet als Werkzeug bezeichnet, das institutionelle Innovationen inspirieren und dem spontanen Organisationsvermögen der Brasilianer neue Form geben könne. Außerdem sieht Unger im Internet das Potential, die Kultur von monetären Zwängen zu befreien. Es sei notwendig, ein neues Eigentumsregime zu erfinden, das auf den Prinzipien der Kooperation beruht.

Auf der Auftaktveranstaltung des Urheberrechtsforums war Ungers Ministerium durch seinen Staatssekretär vertreten. Marcelo Behar erläuterte die beiden Komponenten der Arbeit des Planungsministeriums: zum einen nehme Brasilien eine Führungsrolle im weltweiten Trend ein, die staatliche Planung neu zu erfinden. Zum anderen nannte er sechs Schlüsselbereiche, die sein Ministerium als entscheidend für die Gesellschaft identifiziert hat. Der wichtigste in diesem Zusammenhang sei eine neue industrielle Politik der Inklusion: “den Einfluss und die Ressourcen des Staates dafür einzusetzen, Menschen den Zugang zu Krediten, Technologie, Wissen und zum Markt zu eröffnen.”

Das erste von drei Panels in Rio hatte genau dieses Spannungsverhältnis zwischen Urheberrechtsschutz und Zugang zu Kultur zum Gegenstand. In seinem Vortrag auf diesem Panel wies der Rechtswissenschaftler vom Rechtsinstitut für internationalen Handel und Entwicklung in Sao Paulo Guilherme Carboni darauf hin, dass es für eine bessere Balance der Rechte im Digitalzeitalter ungenügend sei, nur die urheberrechtlichen Schrankenbestimmungen auszuweiten. Vielmehr müssten neue Kriterien entwickelt werden, um den Zweck, die Dauer und die Beschränkungen des Urheberrechts neu zu bestimmen. „Im Internet ist die Trennlinie zwischen Autor und Leser häufig nicht klar, und die Schwierigkeiten nehmen zu, wenn es sich um kollektive Werke wie die Wikipedia handelt.“ Das Urheberrecht dürfe nicht länger nur das Eigentum schützen, sondern müsse auch die Meinungsfreiheit und neue dynamischere Formen von Kreativität unterstützen, sagte Carboni. Außerdem erinnerte er daran, dass Brasilien gemeinsam mit Argentinien den Vorschlag einer entwicklungspolitischen Agenda in die Weltorganisation für Geistiges Eigentum (WIPO) eingebracht hat – mit Erfolg, ist diese doch nach dreijährigen Verhandlungen im vergangenen September in weiten Teilen verabschiedet worden. Dieser internationale Erfolg müsse nun nach Ansicht Carbonis auch in entsprechende Schritte im eigenen Land übersetzt werden.

Das zweite Panel drehte sich um die vertragliche und ökonomische Lage der Autoren. Zwei Urheberrechtsanwälte führten Gils Problembeschreibung näher aus und bezeichneten die Geschäftspraktiken der großen Verlage als unfair. Die Vizepräsidentin der Vereinigung für Geistiges Eigentum Sao Paulo (ASPI), Ivana Crivelli, schlug vor, dass der Staat Mindeststandards für Urheberrechtsverträge schaffen könne. Sie wies aber auch auf die Bedeutung von kollektiven Vereinbarungen zwischen Kreativen und ihren Gewerkschaften einerseits und Arbeitgebern andererseits hin, die eine angemessene Beteiligung der Autoren an den Erlösen ihrer Werke sichern können.

Eine Regulierungsbehörde für die Verwertungsgesellschaften

Auf dem dritten Panel stand das System der kollektiven Rechtewahrnehmung zur Diskussion. Icaro Martins, Präsident der Vereinigung der Filmregisseure von Sao Paulo (Apaci) drückte hier eine weit verbreitete Unzufriedenheit über die Intransparenz und mangelnde Verteilungsgerechtigkeit der Verwertungsgesellschaften aus. “Entweder wir ändern das Gesetz oder wir sind auf ewig dem Gutdünken der Gesellschaft ausgeliefert,” legte Martins die Alternativen dar. Brasilien ist eines der wenigen Länder, in denen Verwertungsgesellschaften nicht einer staatlichen Aufsicht unterstehen. Eines der Ziele des Forumprozesses ist es daher, eine Verwaltungsinstanz zu schaffen, die diese Aufgabe übernimmt. Zum Abschluss dieser ersten Forumsveranstaltung schlug Minister Gil daher die Bildung einer Regulierungsbehörde für den Urheberrechtssektor vor, wie sie in anderen Bereichen bereits existieren. Sie soll zum einen die Aufsicht über die Verwertungsgesellschaften übernehmen, zum anderen in Streitfragen vermitteln und vorgerichtlich schlichten.

Das Forum wird im Laufe des kommenden Jahres mit sechs thematischen Veranstaltungen unter anderem zu den Verbraucherinteressen, zu neuen Technologien und, auf einem gemeinsam mit der WIPO organisierten Symposium, zu internationalen Urheberrechtsfragen fortgeführt. Außerdem soll eine Serie von regionalen Workshops im ganzen Land eine größtmögliche demokratische Beteiligung sichern.

Die Erwartungen sind hoch gesteckt. Ronaldo Lemos, Direktor des Zentrums für Technologie und Gesellschaft (CTS) der Fundação Getulio Vargas und Projektleiter von Creative Commons Brasilien verspricht sich konkrete Vorschläge für die Regulierung der Verwertungsgesellschaften. „Außerdem erwarte ich, dass die Reform der Schrankenbestimmungen ihre endgültige Form annimmt, also als Gesetzentwurf ins Parlament geht. Schließlich erhoffe ich mir eine grundlegende Reform des brasilianischen Urheberrechtsgesetzes, auch wenn das schwieriger zu erreichen scheint,“ sagte Lemos gegenüber iRighs.info. Jeder dieser Schritte hätte Auswirkungen auch über Brasilien hinaus, bildet das Schwellenland doch eine Referenz nicht nur für die Länder Lateinamerikas, sondern auch für andere Mitglieder der Gruppe hinter der entwicklungspolitischen Agenda der WIPO.

Über dem Erfolg des Urheberrechtsforums schwebt jedoch ein Fragezeichen, da Gilberto Gil angekündigt hat, sein Ministeramt niederlegen zu wollen. Die Frage seiner Nachfolge wird derzeit in Kulturkreisen intensiv debattiert. Es überwiegt die Zuversicht, dass die Regierung Lula die Kontinuität in diesem so erfolgreichen und weithin anerkannten, korruptionsfreien Ministerium auch nach der Ära Gil wahren wird.