zurück zum Artikel

Foto Love Story

Stefan Krempl hat sich auf der Love und Hate Parade '97 umgesehen und für Telepolis festgehalten

Baumhocker

Ja wo bleiben sie denn? Alle warten auf die Liebestrucks und ihre megawatt-schweren Botschaften. Als Ausschauplätze diente alles, was erkletterbar war: Von den Schinkel-Leuchten am Großen Stern bis zur Linde am Wegesrand. Mancher Baum schien der ungewohnten Belastung nicht standhalten zu können: mehrere hundert Raver mußten wegen Knochenbrüchen in Krankenhäuser eingeliefert werden.

Stefan Krempl über die Love Parade [1] und ein Gespräch [2] mit finnischen Sozialwissenschaftlern über die Techno-Kultur.

Endlich geht es los: Jetzt heißt es, die Arme in die Luft zu werfen, die Trillerpfeifen durchzupusten, die Sonne in das weit geöffnete Herz und die gewaltige Klangladung in den Bauch zu lassen.
Die Plätze auf den 39 schrill-bunten Wagen der Clubs und Sponsoren waren meist in Radiosendungen verlost worden. Jeder durfte sich glücklich fühlen, über die Köpfe der Massen hinweg zu segeln. An Motivation und Ausdauer durfte es den Auserwählten allerdings nicht fehlen: die meisten standen und tanzten von 13 Uhr bis kurz vor Mitternacht auf ihrem dröhnenden und schwankenden Untergrund.
Heiß begehrt waren auch die Raveplätze auf den diesmal so zahlreich plazierten WC-Containern. Sie für ihren eigentlichen Zweck zu nutze, wäre ja auch tatsächlich eine Verschwendung gewesen.
Lieber nutzte man "zur Erleichterung" die großzügigen Flächen des Tiergartens und jede auch noch so einsichtbare Ecke: Klare Verstöße gegen das von Dr. Motte ausdrücklich erlassene "Pinkelverbot im Tiergarten"!
Wer nicht gerade pinkelte, der tanzte natürlich - allein oder in der Menge. Bewegung war trotz der heißen Temperaturen Pflicht, und hat man erst einmal angefangen, kann man eben kaum mehr aufhören.
Es sei denn, die Müdigkeit der vergangenen Nacht, der anstrengende Tanz und der Alkohol- oder Drogenkonsum verpflichten den Raver ganz gegen seinen Willen zu einer Zwangspause auf dem Grün des Tiergartens.

Die Stimmung steigt ...

Dennoch, die Parade gewann langsam an Stimmung und so manchem stand die Entzückung ins Gesicht bzw. hinter seine dunklen Sonnengläser geschrieben.
Viele Raver nutzten die Wiesenflächen nach Stillung ihrer ersten Tanzwut gleichzeitig für ein kleines Picknick auf dem Rasen. Umwoben auch hier von einer dumpfen, dröhnenden Baßwolke, träumte man von der Love Parade am Kudamm oder gar von Woodstock.
Die Party zog wegen Überfüllung auch immer weitere Kreise, und viele Techno-Kids, die mit verspäteten Zügen in Berlin eingetroffen waren, funktionierten kurzerhand die Straßen rund um den Bahnhof Zoo zur Partyzone um.
Und außerdem gab es ja noch die Alternativ-Parade, die ihre kleine Fangemeinde im Kampf gegen den Mainstream der Love Parade vor dem Bunker in Berlin Mitte vereinte: Unter dem Motto "Fuck Commercial Love" und 250 bpm (beats per minute) sollte dort der Hardcore-Rave und der Punk abgehen.
Allerdings hatten die Punks kein leichtes Leben. Da Gerüchte - natürlich aus dem Internet - über eine Verlegung der Hannoveranischen Chaos Tage nach Berlin im Umfeld der Hate Parade in der Luft hingen, stürzten sich auf jeden Punk, der in Erscheinung trat, mindestens fünf Polizisten.
Und wer keinen Ausweis dabei hatte, wurde kurzerhand in eine der unzähligen bereitstehenden "Wannen" gesteckt, bis sich seine Identität klären ließ.

We are one family

Dabei erinnerte die Hate Parade tatsächlich eher an so manche der früheren Love Parades: Hier wurde Love kurzerhand praktiziert.
Und alle durften dabeisein. "We are one family" - was auf der letztjährigen Love Parade nicht so ganz als Motto überzeugen konnte, wurde auf der Hate Parade schlichtwegs gelebt.
Am frühen Abend entstand dank all der Alternativ-Partys auch endlich mehr Luft auf der Straße des 17. Juni und die Liebeswagen konnten ihrem Ziel, der Siegessäule, für die "Abschlußkundgebung" zustreben.
Danach ging es dann auf eine der zahlreichen Follow-up-Partys: Hinterhöfe, die bekannten Clubs, Inseln in der Havel und der Spree, Kirchen und Plätze - überall dröhnten die Bässe durch die Nacht und zeigten die Tänzer bis in den Morgen und nächsten Tag hinein ihr Können und ihre Körper. Währenddessen zogen die Kehrmaschinen ihre Runden über die Straße des 12. Juli 1997, immer schön aufpassend, daß nicht doch noch ein erschöpfter Raver unter den 180 Tonnen Müll begraben war. Eine Party näherte sich ihrem unwiderruflichen Ende, auch wenn mancher Club auch am Sonntag noch ein volles Programm hatte.

URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3411245

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Berlin-Waste-Land-die-grosse-Verausgabung-3411243.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Cyberspace-auf-der-Strasse-3411247.html