"Cyberspace auf der Straße!"
Stefan Krempl im Gespräch mit zwei Technoforschern über die Love Parade und die Philosophie von Techno.
Sam Inkinen und Hannu Eerikäinen sind dem Technobeat verfallen. Beide sind seit Jahren auf der Love Parade dabei, oftmals extra aus Finnland zu diesem Szenetreff, den die Parade lange Zeit darstellte, angereist. Doch versuchen die beiden "Technoszientisten" auch, ihr Verhältnis zum Dröhnen und Kreischen aus dem Computer zu hinterfragen. 1994 haben sie beschlossen, ihre Gedanken über die damals gerade sich festigende Technokultur niederzuschreiben. Ergebnis war ein postmoderner Mix von Essays, der in einem der ersten Bücher über Techno überhaupt von Sam Inkinen herausgegeben wurde (Tekno: Die Geschichte, die Philosophie und die Zukunft der digitalen Tanzmusik). Stefan Krempl sprach mit den beiden Finnen nach einer durchravten Nacht und kurz vor der Love Parade 1997 über die Veränderungen der Technoszene, über die "Botschaft" von Techno und über die Verbindungen von Computer, Internet und Technosound.
Stefan Krempl über die Love Parade und die Fotostory
Stefan Krempl Heute werden als Höhepunkt einer ständig zunehmenden Vermassung und Kommerzialisierung der Technoszene rund eine Million Raver und Zuschauer zur Love Parade erwartet. Ist das für Euch bedenklich?
Sam Inkinen Ich war von 1992 an fast jedes Jahr auf der Love Parade. Und tatsächlich finde ich, daß damals, als Techno noch eine Underground-Bewegung gewesen ist, die Stimmung unter den Leuten auf dem Kudamm viel besser war als in den beiden vergangenen Jahren. Schon 1994 war allerdings ein Wendepunkt, als Techno langsam von der Avantgarde zum Mainstream wechselte.
Hannu Eerikäinen Das war genau das Jahr, als erstmals die Love Parade durch die allgegenwärtige Präsenz von Sponsoren gekennzeichnet wurde: Camel schmiß mit Zigaretten und Flyern um sich, und Puma hatte einen eigenen Wagen, von dem es ab und zu auch ein paar T-Shirts regnete. Es war klar, daß erstmals eine Menge Geld hinter der Parade steckte. Was aber nicht hieß, daß die Parade nicht auch eine Menge Spaß machte.
Wie seht Ihr die Parade heute?
Sam Meine Einstellung zur Love Parade ist eindeutig ambivalent. Einerseits ist sie eine wichtiges Happening: Gerade die Leute, die von weit her kommen, planen Wochen im voraus ihre Fahrt nach Berlin, verabreden sich mit Freunden und sparen das nötige Geld für die Reise. Das ist bei vielen schon zum Ritual geworden. Andererseits kann man der Parade kaum noch unkritisch gegenüberstehen: Die Clubparties werden immer teurer, es kommen immer mehr Jugendliche, die mit Techno das ganze Jahr über sonst nichts zu tun haben, und die "Botschaften" der Veranstalter werden immer schwammiger und von den Kommerzverhandlungen mit den Sponsoren überstrahlt. Dennoch spiegelt die Love Parade viele Aspekte der gegenwärtigen Jugendkultur und der zeitgenössischen postmodernen Kultur überhaupt wieder: Das Eindringen der Maschine und des Computers in immer mehr Lebensbereiche, die Notwendigkeit, alles unter Marketingaspekten zu betrachten, aber auch den Versuch, aus den gewohnten Verhältnissen auszubrechen.
Hannu Wir fragen uns auch immer wieder, inwieweit man die Love Parade mit Woodstock vergleichen kann. Und ich finde schon, daß auch in der Love Parade in ihrer heutigen Form noch ein wenig utopische Energie steckt, ein Rest von Hippie-Mentalität. Es geht eben immer noch darum, eine Gegenkultur zu feiern.
Ist der Vergleich mit Woodstock nicht etwas sehr weit hergeholt angesichts der marketingmäßig aufgezogenen Parade im Tiergarten, die sogar von der Berliner CDU als wichtiger Wirtschafts- und Imagefaktor für Berlin begrüßt wird? Welche Botschaften gehen denn tatsächlich von einer solchen Show aus?
Hannu "We are one family" - ist das nicht identisch mit dem Gefühl von Woodstock? Es ist natürlich klar, daß der Love Parade solche Slogans "von oben" übergestülpt werden. Und kaum ein echter Techno-Anhänger würde je daran glauben. Ironischerweise wird ein solcher Slogan dann aber doch auf der Love Parade in vielfältiger Weise gelebt. Aber natürlich bleiben große Unterschiede. Bei Woodstock stand der "revolutionäre" Gedanke viel mehr im Vordergrund: "Change the world!" war damals das Motto. Heute gilt höchstens noch "Change yourself!" oder einfach nur: "Let's have fun!". Die Love Parade ist im Gegensatz zu Woodstock ein rein hedonistisches Party-Event.
Sam Die Ravers gehen dorthin, weil sie Spaß haben an der Verrücktheit und an der Irrationalität des stundenlangen Tanzens in der Masse. Sie wollen sich für einen Moment lang in der Community aufgehoben fühlen. Allerdings ist das nur eine sehr kurze Ad-Hoc-Gemeinschaft, die die Technos untereinander eingehen. Fast wie im Internet: Man trifft sich, hat Spaß miteinander und geht dann genauso schnell wieder auseinander. Außerdem steckt da auch eine große Massenpsychose dahinter. Man möchte einfach dabeigewesen sein, die Sache gut finden und den Eindruck bekommen, daß man Geschichte gemacht hat.
Und zum Vergleich mit Woodstock: Neu ist heute sicherlich, daß Techno insgesamt und auch die Love Parade ein durch und durch urbanes Festival ist. Es geht da nicht mehr um Natur und das Leben auf dem Land, sondern um städtische, computerindustrielle Kultur. Und ein weiterer Unterschied zu Woodstock ist, daß die Love Parade keine zentrale Idee hat. Sie ist im tiefsten Sinne postmodern: Ihre Slogans sind - angefangen von Friede, Freude Eierkuchen bis zum diesjährigen Sonnenscheingeplänkel - offen für die unterschiedlichsten Interpretationen. Sie schließen keinen aus und lassen sich aus fast jeder Perspektive betrachten. Die Love Parade wird dadurch zur opera aperta, zum offenen Werk, wie Umberto Eco sagen würde.
Was geht in den Leuten vor, die Tausende Kilometer zurücklegen und aus den unterschiedlichsten Ländern extra für die Love Parade anreisen? Was verspricht Techno seinen Jüngern?
Hannu Free your mind and free your body - und zwar gleichzeitig! Das ist einer der größten Widersprüche, der mit der Technomusik verbunden ist. Einerseits nimmt das Tanzen zu den harten Rhythmen aus dem Computer den Körper völlig in seinen Besitz. Man wird sich seines Körpers auf eine ganz neue Weise bewußt, was natürlich im Zusammenhang mit dem modernen Kult um den Körper zu sehen ist, aber auch mit der postmodernen Auflösung des Subjekts. Gerade in einer Zeit, in der sich viele Internet-Addicts und Technologie-Spiritisten nichts sehnlicher wünschen, als den eigenen Körper im Netzwerk hinter sich zu lassen, ist das Tanzen zur Techno-Musik, die ironischerweise aus denselben Computern stammt, wie das Internet, vielleicht auch eine Chance und eine Gegenbewegung, sich seines eigenen Körpers wieder bewußt zu werden. Auf der anderen Seite gibt es auch im Techno eine Tendenz, sich selbst und seinen Körper zu überwinden, einzutauchen in den Raum der Soundbits, sich in der Menge zu verlieren. In diesem Sinne kann man die Love Parade geradezu als eine Erfahrung des Cyberspace auf der Straße auffassen, als "consensual hallucination", so wie William Gibson den Raum aus Bits definiert hat.
Sam Das trifft vor allem dann zu, wenn man länger als acht Stunden am Stück tanzt und dazu Drogen schluckt. Da kann sich dann schon das transzendentale Gefühl einstellen, die Grenzen des eigenen Körpers zu überschreiten.
Aber schwingt da nicht auch eine gewisse Tragik mit? Einerseits dieses Verlangen oder diese Nötigung durch die drehmomentstarken Beats, den eigenen Körper als fleischliche Tatsache zu verspüren, und dann andererseits diese Annäherung an Transzendenz, dieser Wunsch, ewig weiter zu tanzen und den Körper zu vergessen, ihn zu zerstören?
Sam In einem gewissen Sinne kann man dieses offene Paradox sicher tragisch sehen. Adorno hat bereits 1936 ein ähnliches Paradox in seinem Essay "Über Jazz" am Beispiel der damals tonangebenden Musikrichtung aufgezeigt. Er analysiert darin, wie Jazz seinen Teil zur Fragmentierung des Subjekts und der Gesellschaft beigetragen hat. Jazz wurde damals den Leuten als eine natürliche, wilde, authentische Tanzweise und Lebensphilosophie verkauft. Man wollte auch zu dieser Zeit eine neue Körpersprache im Tanz erlernen und sich einfach frei fühlen, die Zivilisation hinter sich lassen. Adorno hat diese Illusion allerdings schon damals entlarvt und davor gewarnt, daß Jazz die Menschen versklaven kann, gerade dann, wenn sie sich für kurze Zeit frei fühlen.
Ohne jetzt völlig in Kulturpessimismus verfallen zu wollen, aber bestätigt sich nicht genau das auch in der heutigen Techno-Jugend-Kultur? Selbst wenn Dr. Motte seinen Sonnenkindern vielleicht sogar gerne eine politische Message unterjubeln möchte, so ist doch gerade die Technoszene durch ihre völlig unpolitische Einstellung gekennzeichnet, durch ihr Ausblenden fast aller sozialen oder ökologischen Problemfelder!?
Sam Das stimmt schon. Der politische Anstrich der Love Parade ist der reinste Witz. Eher ist da sogar eine antigesellschaftliche, utopische Rhetorik am Mitschwingen: Let's forget about society, rules, and limitations!
Wenn man sich die Botschaften von Dr. Motte anhört, könnte man sogar den Eindruck gewinnen, daß hier eine Art religiöse Sekte aufgebaut werden soll. Zumindest sieht der spiritistische "Vater" der Love Parade "keinen Unterschied zwischen Gott und mir", denn seine Liebe durchdringt wie die Liebe Gottes alles.
Hannu Das hört sich für mich an wie ein naives Geplapper, wie eine Mischung aus Naivität, kommerziellen Hintergedanken und einem Schuß Zynismus. Und das sollte man auf keinen Fall mit der eigentlichen Thematik von Techno gleichsetzen. Ich denke schon, daß Techno heute auch für die Gesellschaft durchaus eine Rolle spielt, einen Freiraum bietet, sich selbst zu vergessen, aufgestaute Energien "abzutanzen" und dadurch wie die Katharsis in der Aristotelischen Tragödie auch schlichtweg gesund ist.