Wille zum Krieg: Warum wir in Gaza und der Ukraine falsch liegen

Nato-Tagung am 11. Juli 2023 mit Außenministerin Annalena Baerbock, Bundeskanzler Olaf Scholz, und Verteidigungsminister Boris Pistorius.

Nato-Tagung am 11. Juli 2023 mit Außenministerin Annalena Baerbock, Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius. Bild: Nato / CC BY-NC-ND 2.0

In den beiden Kriegen sieht sich der Westen als moralische Instanz. Dabei wird das Völkerrecht gebeugt. Warum das fatal ist. Ein Essay (Teil 1)

Seit über zweieinhalb Jahren führt Russland Krieg in der Ukraine, seit über einem Jahr Israel in Gaza. Manche mögen sich an die Kämpfe gewöhnt haben und kein Ende in Sicht sehen. Das wäre fatal.

Krieg ist kein Naturereignis

Es ist daher an der Zeit, genauer zu schauen, wo wir bei den Kriegen stehen, wie wir dort hingelangt sind, welche Haltungen sinnvoll sind und wie es zu Waffenstillstand und Frieden kommen könnte.

"Krieg kommt nicht aus einer schwarzen Wolke", das sagte einmal der Dichter, Kommunist und Kriegsgegner Kurt Barthel nach dem 2. Weltkrieg. In dem Gedicht von 1949 heißt es weiter: "Krieg ist nicht ein Sommerhagelschlag".

Krieg ist also kein Naturereignis, kein Schicksal, gegen das man nichts machen kann. Wie ich finde ein vernünftiger Standpunkt.

Wenn wir verstehen wollen, wie es zu den Kriegen gekommen ist, die uns im Moment sehr beschäftigen, und welche Lösungen es dafür gäbe, müssen wir verstehen, was hinter ihnen steckt und wie Gewalt und Krieg weiter legitimiert werden.

Die Verantwortung von Europa und den USA

Natürlich finden auch andere verheerende kriegerische Konflikte auf der Welt statt, z.B. im Sudan, über die gesprochen werden sollte. Aber diese beiden Kriege stehen zu Recht bei uns im Fokus.

Denn die Regierungen im Westen sind dabei nicht Zuschauer. Sie sind "mitbeteiligt", ermöglichen die Kriege in gewisser Weise. Wir in Deutschland sind als Teil der EU, der Nato, des transatlantischen Bündnisses mit den USA ebenfalls vielfach verwoben mit den Konflikten.

Zudem besteht in den beiden Kriegen die reale Gefahr einer Ausweitung und Eskalation bis hin zu einem Welt- oder Atomkrieg. Die Notwendigkeit, die Kriege zu deeskalieren, ist demnach hoch, um diese Gefahren zu bannen. Wir haben also einerseits Einfluss auf den Fortgang der Kriege und sollten angesichts dessen, was auf dem Spiel steht, über die richtigen Wege nachdenken, Frieden herzustellen.

Richtige oder falsche Seite?

Wenn man sich die grundsätzliche Haltung in den westlichen Öffentlichkeiten beim Ukraine- und Gaza-Krieg nun anschaut, damit meine ich die der USA sowie der Nato- und EU-Staaten, dann dominiert die Haltung, dass "wir" auf der richtigen Seite bei den Kriegen stehen.

Es heißt: Amerika und Europa unterstützen angegriffene Ländern dabei, sich zu verteidigen gegen Aggression von außen.

Das scheint erst einmal einleuchtend. Sowohl die Ukraine also auch Israel sind ja tatsächlich angegriffen worden und reagieren militärisch darauf. Sich gegen Aggressionen zu wehren, ist erstmal legitim.

Ich möchte im Folgenden aber die Haltung im Westen hinterfragen und einen anderen Standpunkt einnehmen und diskutieren. Denn tatsächlich stehen wir in beiden Kriegen auf der falschen Seite, nämlich auf der Seite militärischer Eskalation ohne Endgame, die Diplomatie und Konfliktlösung verhindert. Das ist moralisch nicht zu rechtfertigen, ganz zu schweigen von dem Leid und den Gefahren, die Kriege in sich bergen, vor allem, weil es realistische Lösungen für die Kämpfe gibt.

Selbstverteidigung?

In einem ersten Schritt sollten wir jedoch zwischen den beiden Kriegen und "unserer" offiziellen Haltung dazu in einem wichtigen Punkt differenzieren, um eine rationale Gegenposition zu formulieren. Denn beim Ukraine-Krieg liegt die Problematik der Unterstützung nicht auf der Ebene völkerrechtlicher Legitimität, sondern auf einer realpolitischen, es geht um die Diplomatie-Blockade und ihre Folgen. Beim Gaza-Krieg ist das moralische Versagen tiefer und weitreichender.

Das hat damit zu tun, dass der russische Überfall auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 nach internationalem Recht ein Angriffskrieg ist. Die Ukraine hat daher das Recht, auch moralisch, sich dagegen zu verteidigen und andere Länder anzufragen, sie gegen den Aggressor mit Waffen zu unterstützen. Beim Gaza-Krieg Israels ist das nicht der Fall, wie wir noch sehen werden.

Ob es klug und damit am Ende auch vertretbar ist, Waffen in großer Dimension für den ukrainischen Abwehrkrieg bereitzustellen, während zivile Konfliktlösungen tabuisiert und enorme Zerstörungen und Risiken in Kauf genommen werden, auch dazu später mehr.

Zuerst einmal zur Rechtslage im Ukraine-Krieg. Moskau hat zwar kurz nach Beginn der Invasion erklärt, man verteidige sich gemäß der UN Charta Artikel 51 gegen eine Bedrohung, um damit den Krieg zu legitimieren. Aber das Näherrücken der Nato und der USA an die russische Grenze bis in die Ukraine, worauf auch der russische Präsident Wladimir Putin in seiner Rede zur Kriegslegitimierung abhob, reicht dafür nicht.

Russland und Israel als Aggressoren

Denn nur evidente, ablaufende Angriffe auf das eigene Territorium, die unmittelbar abgewehrt werden müssen, fallen unter das Selbstverteidigungsrecht. Einen solchen gab es aber nicht mal auf die seit 2014 von Russland annektierte Krim.

Auch die Erklärung, man sei den selbst ernannten, international nicht anerkannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk in der Ostukraine zu Hilfe gekommen (es gab dort immer wieder Kämpfe mit dem ukrainischen Militär), hat keine Relevanz. Denn kollektive Selbstverteidigung gemäß Völkerrecht, also das Recht, militärische Hilfe von außen anzufragen, ist auf Staaten begrenzt.

Nicht-staatliche bzw. Oppositionsgruppen in einem Land haben diesen Anspruch nicht. Aus gutem Grund. Denn das würde militärischen Interventionen von außen in die inneren Angelegenheiten von Ländern Tür und Tor öffnen.

Während sich die Ukraine also verteidigt gegen äußere Aggression, trifft das für Israel nicht zu, auch wenn es von Tel Aviv und seinen Verbündeten durchgängig behauptet wird. Das hat Konsequenzen für die Bewertung der westlichen Unterstützung. Denn damit ist sie eine rechtlose, letztlich komplizenhafte Hilfe für einen Aggressor, der laut Beschluss des Internationalen Gerichtshofs "plausiblen Völkermord" begeht.

Tel Aviv außerhalb der UN-Charta

Da im Westen aber Standardmeinung ist, jedenfalls in der veröffentlichten Meinung, dass Israel das Recht habe, sich selbst gegen die Hamas mit diesem Krieg zu verteidigen, möchte ich diesen Punkt etwas ausführlicher darlegen.

Natürlich hat Israel das Recht und sogar die Pflicht, seine Bürger auf seinem eigenen Territorium zu schützen. Den ablaufenden Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 abzuwehren, war legitim und auch legal (leider versagte das israelische Militär und die Regierung, diesen Schutz effektiv zu gewähren).

Aber Israel kann sich dabei nicht auf die UN-Charta berufen, die hier keine Anwendung finden kann. Vor allem kann die Netanjahu-Regierung sich nicht auf das Selbstverteidigungsrecht berufen, nachdem der Anschlag vorbei war, um einen Krieg gegen Gaza zu starten oder gar die "Hamas auszulöschen".

In der internationalen Rechtsdebatte wird dabei auf mehrere Aspekte verwiesen. Das Kernargument ist, dass es sich bei dem Überfall nicht um einen Angriff eines Staates (oder einer von einem Staat beauftragten paramilitärischen Einheit) auf einen anderen handelte, sondern um eine Attacke einer bewaffneten Gruppe, die von einem Territorium, Gaza, ausging, das Israel illegal seit über 50 Jahren besetzt hält. Ob man diese Gruppe nun Terroristen nennt oder nicht, ändert an diesem juristischen Tatbestand nichts.

Die Sache mit der Besatzung

So könne ein Staat nicht gleichzeitig die Kontrolle über ein von ihm besetztes Gebiet ausüben und dieses Gebiet militärisch angreifen, mit der Behauptung, es sei "ein anderes Land" und stelle eine exogene Bedrohung der nationalen Sicherheit dar, stellt u.a. Noura Erakat fest, Menschenrechtsanwältin und Professorin an der Rutgers University in den USA.

"Das Recht auf Selbstverteidigung kann geltend gemacht werden, wenn ein Staat von einem anderen Staat bedroht wird, was nicht der Fall ist", sagt auch Francesca Albanese, UN-Sonderberichterstatterin für Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten.

Die UN-Sonderberichterstatterin bezieht sich dabei u.a. auf ein Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) von 2004, dass der Bau der israelischen Mauer im besetzten Westjordanland illegal ist. Der IGH wies das Argument Israels, die Mauer aus Sicherheitsgründen zu bauen, zurück und stellte klar, dass das Land in einem besetzten Gebiet kein Recht auf Selbstverteidigung geltend machen kann. Israel könne sein Vorgehen nicht mit Artikel 51 der Charta rechtfertigen.

Demgegenüber gestattet das internationale Recht einer Bevölkerung unter illegaler Besatzung im Streben nach nationaler Selbstbestimmung bewaffneten Widerstand im Rahmen des "Ius in bello", des humanitären Völkerrechts, was den Schutz der Zivilbevölkerung vorschreibt.

Die Fürsorgepflicht bei Okkupationen

Was Israel als Besatzungsmacht erlaubt ist, wird durch das Besatzungsrecht geregelt. Solange die Besatzung andauert, hat Israel das Recht, sich selbst und seine Bürger vor Angriffen von Palästinensern zu schützen, die sich in den besetzten Gebieten aufhalten.

Im Prinzip darf Israel mit Mitteln der Polizei und in Ausnahmefällen auch mit militärischen Sicherheit nach den Regeln des humanitären Völkerrechts herstellen. Aber dabei sind die Sicherheitskräfte verpflichtet, möglichst keine Gewalt anzuwenden und tödliche nur als "letztes Mittel".

Israel hat zugleich auch die Pflicht, ein "normales Leben" in den von ihm besetzten Gebieten aufrechtzuerhalten. Zu dieser Verpflichtung gehört es, die Sicherheit und das Wohlergehen der besetzten Bevölkerung nicht nur zu gewährleisten, sondern ihnen Vorrang einzuräumen.

Israels Krieg gegen Gaza mit über 43.000 Getöteten, fast 70 Prozent davon Kinder und Frauen, 10.000 Vermissten sowie rund 100.000 Verwundeten, dem Einsatz von Hunger als Kriegswaffe und fast vollständiger Zerstörung jeglicher Infrastruktur ist daher auch ein Bruch mit den Verantwortlichkeiten und der Fürsorgepflicht Israels für die besetzte Bevölkerung, die sich unter seiner Kontrolle befindet.