Wille zum Krieg: Warum wir in Gaza und der Ukraine falsch liegen

Seite 2: Der Doppelstandard, live-gestreamt

Dass westliche Staaten, allen voran die USA und Deutschland, dem Aggressor Israel bei seinem illegalen, unmenschlichen Krieg gegen Gaza mit Waffen, diplomatisch und politisch unterstützen, Kritik daran attackieren und den Palästinensern jegliches Verteidigungsrecht absprechen, während sie ein historisches Sanktionsregime gegen Russland verhängen und der Ukraine in großer Dimension bei seinem Abwehrkrieg unter die Arme greifen, ist ein eklatanter, täglich live-gestreamter Doppelstandard.

Die Prinzipien des internationalen Rechts, die universell gelten müssen, werden dadurch beschädigt, wenn nicht zerstört – warum sollten andere Staaten sich noch daran halten?

Vorgeschichte in Nahost

Bevor ich ausführlicher auf den Ukraine-Krieg, den Konflikt dahinter und Lösungen zu sprechen komme und mir die moralische Problematik bedingungsloser Waffenlieferungen an die Ukraine anschaue, möchte ich noch ein wenig beim Gaza-Krieg bleiben, um einen Blick hinter das Kriegsgeschehen auf den Konflikt selbst zu werfen.

Kriege, wie zuvor erwähnt, fallen nicht vom Himmel, sie haben eine Vorgeschichte. Diese Geschichte wird bei der ehernen Unterstützung Israels als deutscher Staatsräson entweder nicht beachtet oder verzerrt dargestellt. Das hat seinen Grund. Denn seit 1967, seit dem Sechstagekrieg und den Eroberungen, ist Israel hauptverantwortlich für die Konfliktlage.

Das ständige Blutvergießen in Nahost geht ja nicht zurück auf einen unlösbaren Konflikt. Ursache und Nährboden für Gewalt und Chaos dort sind keineswegs der Kampf von zwei Streithähnen, gefangen in irrationalen Gewaltspiralen, wobei freilich nur einer Seite im Westen die Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung zugesprochen wird.

Eine friedliche und gerechte Lösung wäre jederzeit möglich. Die minimale Basis dafür ist allerdings Respekt vor internationalem Recht. Das betrifft die Blockade des Gazastreifens, das Apartheidregime, die illegale Besatzung und die Verhinderung der nationalen Selbstbestimmung der Palästinenser in einem eigenen Staat.

Israel blockiert den Frieden

Israel ist also verpflichtet, das illegale Besatzungs- und Apartheid-Regime zu beenden. Die permanenten Tötungen, Entwürdigungen und systematischen Menschenrechtsbrüche gegen Palästinenser:innen, wie sie von diversen UN-Stellen und Menschenrechtsorganisationen in Studien belegt werden, sind nicht nur kriminell, rassistisch und inhuman, sondern struktureller Treiber von Rechtsbruch und Gewalt.

Sollte Israel gar dem internationalen Recht, der internationalen Gemeinschaft, dem Internationalen Strafgerichtshof und dem Internationalen Gerichtshof auf einem anderen Feld folgen wollen, dürfte es nicht nur kein Weiterwuchern von israelischen Siedlungen im Westjordanland geben. Vielmehr sind alle Siedlungen dort illegal und müssen geräumt werden.

Der schwerste Brocken ist die vom Völkerrecht und der internationalen Gemeinschaft geforderte Zweistaatenlösung, mit einem Palästinenserstaat innerhalb der Grenzen von vor 1967 – als Israel im Sechs-Tage-Krieg unrechtmäßig Land okkupierte –, eventuell mit kleinen Gebietsanpassungen und -austauschen.

Die arabischen Staaten und die palästinensische Seite haben Israel immer wieder Frieden im Zuge einer Zwei-Staaten-Lösung angeboten, mit einem palästinensischen und israelischen Staat, basierend auf UN-Resolution 242, verabschiedet nach dem Krieg.

Die Wahrheit über die Zweistaatenlösung

Bereits 1976 übergaben arabische Staaten dem UN-Sicherheitsrat eine Resolution, die diese Einigung enthielt, voller Frieden im Gegenzug für einen Palästinenserstaat. Seitdem sind immer wieder Resolutionen bei den Vereinten Nationen zur Abstimmung eingebracht worden, um einen Palästinenserstaat möglich zu machen.

Die Lösung wird de facto von allen Staaten der Welt, eingeschlossen der arabischen Staaten, der Arabischen Liga, des Iran, der PLO und letztlich auch der Hamas unterstützt, auch wenn in der veröffentlichten Meinung in den USA und Europa durchgängig das Gegenteil behauptet wird.

Doch alle diese Angebote wurden von Israel mit Unterstützung der USA abgelehnt. Seit den 1970er-Jahren hat Washington insgesamt 49 Resolutionen des UN-Sicherheitsrats mit Vetos blockiert, die entweder Israel zur Einhaltung des Völkerrechts aufforderten, ein Ende der Besatzung bzw. die palästinensische Eigenstaatlichkeit verlangen oder Israel für Kriegsverbrechen und illegalen Siedlungsbau zur Rechenschaft zogen. Allein viermal verhinderte Washington mit seiner Blockade einen Waffenstillstand im jüngsten Gaza-Krieg. Währenddessen bewaffnet man Israel weiter bis auf die Zähne.

Auch bei den direkten Verhandlungen haben die "Vermittler" aus Washington Israel vor einem Palästinenserstaat bewahrt. Angeboten wurden den Palästinensern nämlich höchstens Kantone, zerstückeltes Land, ein nicht lebensfähiger "Pseudo-Staat", ähnlich den Bantustans in Südafrika für die schwarze Bevölkerung. Selbst von israelischen Unterhändlern, ganz zu schweigen von der Fachwelt, wurden sie als Nicht-Offerten, als PR-Inszenierungen bewertet.

Ist Selbstverteidigung ein absoluter Wert?

Nun erklärt die Netanjahu-Regierung offen, dass man einen Palästinenserstaat nicht mehr zulassen werde. Zugleich werden Pläne für ethnische Säuberungen im Gazastreifen offen artikuliert und auch umgesetzt, siehe Nord-Gaza.

Wenn Israel am Expansionskurs festhalten wird, sich Stück für Stück palästinensische Gebiete einverleibt und damit einen lebensfähigen Palästinenserstaat verhindert, dann sind gewaltsame Eskalationen auch in Zukunft zu erwarten. Wer diesen Kurs ermöglicht und unterstützt, ist dafür mitverantwortlich.

Kommen wir zum Ukraine-Krieg zurück und zu der Frage, ob die Waffenlieferungen des Westens, die vielfältigen Sanktionen gegen Russland und die Ablehnung jeglicher Kompromisse moralisch vertretbar sind, auch wenn Moskau die Ukraine illegal angegriffen hat und die Regierung in Kiew sich dagegen verteidigen darf.

Die Frage ist letztlich, ob gewaltsame Selbstverteidigung eines Staates gegen einen Angriff ein absoluter Wert ist, der durch keine anderen moralischen Erwägungen eingeschränkt werden kann. Ich denke, dass das nicht so ist.

Ein Gedankenexperiment

Nehmen wir noch einmal Gaza und machen ein Gedankenexperiment. Die Palästinenser haben, wie schon gesagt, das Recht, gegen die illegale Besatzung bewaffneten Widerstand zu leisten, wenn es sich um militärische Ziele handelt. Die Unterstützung des bewaffneten Widerstands wäre also legitimierbar.

Würden wir es aber nun richtig finden, dass z.B. der Iran schwere Waffen und Waffensysteme in großem Umfang (also Panzer, echte zerstörerische Raketen, Abwehrsysteme, Kampfjets, Munition etc.) an die Palästinenser gibt, damit sie damit das israelische Besatzungsregime vertreiben und ihr international verbürgtes Recht auf einen eigenen Staat in den anerkannten Grenzen realisieren können?

Ich glaube nicht, dass selbst Kritiker Israels das auch nur erwägen oder verteidigen würden (mal abgesehen davon, dass das Szenario vollkommen unrealistisch ist). Der Grund ist einfach: Es wäre ein suizidales Harakiri-Unternehmen angesichts der israelisch-amerikanischen Militärmaschinerie, die Palästina dem Erdboden gleichmachen und den Palästinenserstaat historisch beerdigen würde. Es würde alles viel schlimmer machen, eventuell einen atomaren Weltkrieg provozieren.

Es gibt zudem weiter eine Alternative, gerechten Frieden herzustellen: Letztlich müssen die USA und damit auch Israel "nur" dazu gebracht werden, die Blockade gegen die Realisierung des allseits anerkannten Palästinenserstaats aufzugeben.

Das größere Übel

Das gleiche realpolitische Prinzip sollte im Ukraine-Krieg gelten: Ist die massive militärische Unterstützung westlicher Staaten für die kriegerische Selbstverteidigung, ohne die sie nicht möglich wäre, angesichts der Konsequenzen und Alternativen zu rechtfertigen bzw. noch zu rechtfertigen? Oder produziert sie ein größeres Übel, das nicht akzeptiert werden kann?

Es geht hier nicht um die Frage, was die russische und ukrainische Regierung tun sollte. Russland hat natürlich die Hauptverantwortung, indem es den illegalen Krieg begann bzw. ihn bis heute nicht beendet hat. Und die Ukrainer müssen für sich selbst bestimmen, ob sie weiterkämpfen wollen. Bei uns sollte es um die Verantwortung westlicher Regierungen gehen, auf die wir Einfluss haben.

Was die Waffenlieferungen angeht, scheint mir die Grenzlinie zu sein, dass die Waffen nicht zu einer Eskalation führen sollten, was das Leid für die Ukraine ausweitet und die weltweiten Risiken erhöht. In der Anfangsphase der Ukraine defensive Waffen bereitzustellen, damit sich das Land gegen die Invasion wehren konnte, ist berechtigt gewesen.

Doch Schritt für Schritt wurden immer schwerere Waffensysteme (Kampfpanzer, Raketen mit größerer Reichweite, moderne Kampfjets wie F-16, wahrscheinlich sogar Uranmunition etc.) bereitgestellt und der ukrainischen Regierung erlaubt, auch Angriffe auf russischem Territorium auszuführen, wovor Moskau eindringlich warnte und es als "rote Linie" bezeichnete.

Kämpfen und die blutigen Folgen

Das hat den Krieg eskaliert. Nun haben wir einen blutigen Zermürbungskrieg, während Russland immer weiter aufrüstet, seine vorhergesagten Vorteile auf dem Schlachtfeld ausnutzt und Fortschritte macht – was die ukrainische Position bei möglichen Verhandlungen schwächt.

Die Konsequenzen sind verheerend: Wahrscheinlich Hunderttausende Soldaten auf beiden Seiten sind getötet und verwundet worden (genaue Zahlen gibt es nicht), vermutlich Zehntausende Zivilisten fielen dem Krieg bereits zum Opfer, dazu Massenflucht, Zerstörung und Vergiftung des Lands, sodass die Weltbank davon ausgeht, dass rund eine halbe Billion Dollar notwendig ist für den Wiederaufbau.

Dazu kommen natürlich die Auswirkungen auf die weltweite Lebensmittelversorgung vor allem der Länder im Globalen Süden, die auf den Handel mit Agrarprodukten der Ukraine und Russlands angewiesen sind. Das verschärfte globale Hungerkrisen und bedrohte das Leben von Millionen von Menschen. Auch Europas Wirtschaft, insbesondere die deutsche, wurde geschädigt.

Russland hat zwar auf die Überschreitung der roten Linien bisher nicht entsprechend mit gefährlicher Eskalation reagiert, also z.B. Waffentransporte in Polen bombardiert, US-Militärstellungen als Vergeltung angegriffen oder gar taktische Nuklearwaffen eingesetzt. Auch könnte Moskau die Angriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung weiter ausweiten.

Ohne Endgame sterben

Es gibt darüber hinaus kaum noch ein Argument für ein positives Szenario für die Ukraine, ein Endgame, nach dem Kiew die russische Armee vertreiben könnte, während Experten vielmehr die Gefahr sehen, dass die Ukraine militärisch kollabieren könnte. Das wurde auch von der ukrainischen Militärführung so gesehen. Selenskyj wechselte sie schließlich aus, siehe die Entlassung von Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj.

Das alles müssen wir im Hinterkopf haben, wenn es darum geht zu beurteilen, ob das Ausmaß und die Art der Waffenlieferungen moralisch vertretbar sind. Ich glaube, dass die enorme Aufrüstung der Ukraine seit einiger Zeit schon nicht mehr gerechtfertigt werden kann.

Das ist der erste Teil des Essays. Der zweite Teil "Warum die Kriege in Nahost und in der Ukraine beendet werden können und müssen" folgt in Kürze.