Frankreich: Ausbruch der Gewalt im zerrissenen Land
Plünderungen, Brandstiftungen und das brutale Vorgehen der Polizeikräfte sind Teil eines größeren Problems. Es dreht sich um die Darstellung der Realität des Landes, die großes Gehör findet. Warum das beängstigend ist.
Plünderungen in Grenoble, Lyon und Marseille, auch kleinere Orte werden genannt, wie auch Straßburg. Die Liste könnte fortgesetzt werden. Feuer lodern an allen möglichen Plätzen auf.
Dazu gibt es Bilder von der Polizei, die mit mächtigem gepanzerten Gerät unterwegs ist und die brutal vorgeht. Über 1.300 Festnahmen gab es in der Nacht von Freitag auf Samstag, meldet das französische Innenministerium. Es ist nicht übertrieben zu behaupten, dass ganz Frankreich von einer Schockwelle getroffen wurde und ratlos ist.
Das neuralgische Zentrum des politischen Erdbebens
Es gibt es eine Zahl, die genau ins Zentrum des politischen Erdbebens führt: 69 Prozent der Französinnen und Franzosen wären, einer aktuellen Umfrage im Figaro zufolge, vollkommen einverstanden mit der Ausrufung des Ausnahmezustands.
Gefordert haben den Ausnahmezustand Politiker der radikalen Rechten: allen voran Marine Le Pen und der extremistischere Éric Zemmour. Dass dies auch Éric Ciotti tat, der Präsident der Partei der Republikaner, die die traditionelle Rechte vertritt, zeigt schon an, was sich in der politischen Landschaft bewegt: Da gibt es einen gewaltigen Rutsch nach rechts.
Man kann von einer politischen Gewinnerin der aktuellen Welle der Gewalt sprechen, sie heißt Marine Le Pen. Die Ereignisse der letzten Tage spielen ihrer Darstellung der Verhältnisse zu, wie es die Umfrage widerspiegelt.
Frankreichs Gesellschaft ist schon länger gespalten. Wie tief das geht und wie weit diese Spaltung gediehen ist, zeigt sich deutlich in der Darstellung und Kommentierung der jüngsten Ereignisse infolge des tödlichen Schusses eines Polizisten auf einen 17-Jährigen (Unruhen in Frankreich: Neuer Trouble in Pariser Vorstadt dehnt sich rasant aus).
Zwei Erzählungen
Es gibt, grob gefasst, zwei große Erzählstränge. Sie laufen parallel und treffen sich nicht. Der eine ist in seinen Verlautbarungen darauf bedacht, politisch vorsichtig gegenüber Minderheiten vorzugehen, er achtet auf eine korrekte Symbolpolitik gegenüber Minderheiten und will darüber einen republikanischen Konsens herstellen.
In dieser Darstellung wird der 17-Jährige, der bei einer Verkehrskontrolle von einem Polizisten erschossen wurde, zu einer engelgleichen Ikone. Auch der Polizist ist weniger ein Individuum mit einer Vorgeschichte als vielmehr ein typischer Vertreter einer Polizei, bei der vieles falsch läuft.
Die zweite Erzählung stellt das anders dar. Da hat der Engel eine kriminelle Vorgeschichte, da er schon mehrmals aggressiv aufgefallen ist, und sein Angeberauto, das er sich geliehen hat, ein Mercedes, ist in den Kreisen, in denen diese Erzählung kursiert, nicht leicht verfügbar. Auch das ist etwas für Symbolpolitik. Und die Polizei wird in dieser Version der Geschichte so geschildert, dass vor allem ihre Belastungen ins Zentrum gerückt werden.
Es geht nicht darum, ob diese Story richtig ist. Es geht darum, dass diese andere Erzählungslinie sehr viel Gehör und Anklang findet. Sie passt zu einer Reihe von Erzählungen über den Zustand des Landes, die ihre Resonanz nicht in den großen Medien haben, sondern in einer anderen Öffentlichkeit und diese ist nicht klein. Sie wächst und das ist der Erfolg von Le Pen, die bei der nächsten Präsidentschaftswahl sehr große Siegeschancen hat.
Die Politikerin, die es nach einem langjährigen Prozess der De-Diabolisierung von der rechtsextremen Persona non grata zum oft befragten Mediengast mit den "ungeschminkten Wahrheiten" geschafft hat, spricht genau das an, was die demokratische Good-Will-Mehrheit in den Medien ausblendet oder an den Rand drängt.
Und sie spricht es, wie ihre jüngsten Kommentare zu den aktuellen Ereignissen glasklar vorführen, in einer überzeichneten Gotham-ähnlichen Weise an, die Angst, Schrecken und Chaos zu ihren Wahlhelfern macht, als ob nur sie einen Bürgerkrieg verhindern könnte - den es gar nicht gibt.
Große Hilflosigkeit
Dem steht eine enorme Hilflosigkeit auf der Seite der Regierenden gegenüber, die ihrerseits Jahrzehnte lang nicht dazu in der Lage waren zu verhindern, dass sich in Frankreich ethnische Gettos ausbildeten. Zwar haben unterschiedliche Regierungen auf unterschiedliche Weise Geld in die "sensible Zonen", Trabantenstädte und Viertel mit einem großen Anteil von Einwanderern und anderen stark sozial Benachteiligten, gesteckt.
Entscheidend zum Besseren geändert hat sich die Lage dort aber nicht. Analysen und Reformvorschläge, die einen langen Atem und grundsätzliche Veränderungen verlangt hätten, wurden wieder vom Tisch geschoben.
Die Bessergestellten bleiben unter sich, in ihren Vierteln, in ihren guten Schulen. Die von draußen haben nicht einmal gute Verkehrsverbindungen, um sich in der Stadt gute Jobs zu suchen oder zu behalten.
Das Verhältnis zwischen Ordnungskräften und Bewohnern der sensiblen Zonen sieht laut Medienberichten, Filmen, Büchern, Erzählungen, Aussagen in der Popkultur und persönlichen Berichten nicht danach aus, als ob die Republik dort den Geist verströmen kann, den man bräuchte, um einen Minimalkonsens statt Abschottung zu schaffen.
Daher die große Ratlosigkeit, die den Lesern in den politischen Verlautbarungen von Macron und in den politischen Kommentaren großer Zeitungen wie Le Monde entgegentritt. Der Präsident stellt jetzt die sozialen Netzwerke als Fabrikatoren einer beängstigenden Realität dar, was teilweise zutreffen mag. Die Regierung hat aber noch nicht einmal Impulse zu entscheidenden Veränderungen, geschweige denn einen ernst zu nehmenden Ansatz.
Zwar gibt es angesichts der Menge an Bildern über brutale Vorgehensweisen der Polizei, die schwerste Verletzungen und - wie nicht zum ersten Mal geschehen - den Tod der Angegriffenen in Kauf nimmt, zwangsläufig Rufe nach einer Reform der Polizei und der gesetzlichen Regelungen zum Waffeneinsatz.
Doch bleibt das an der Oberfläche, solange das Land so gespalten ist. Was die aktuellen Unruhen betrifft, so meldeten französische Nachrichten heute, dass sich die Lage beruhigt habe. Die Seismografen aber, die auf politische Vulkanausbrüche aufpassen, bleiben im Nachbarland angeschaltet. Die nächsten nervösen Ausschläge werden niemanden überraschen.
Macron wollte morgen nach Deutschland reisen, um das angeschlagene Verhältnis zwischen Paris und Berlin zu kitten. Heute sagte er ab. Das sei eine diplomatische Katastrophe, schreibt einer der Besonneneren unter den Kommentatoren. Die Lage ist ernst.