Frankreich: Ausgangssperre und 100.000 Polizisten
Macron ruft zum Krieg gegen Sars-CoV-2 auf. Die Bedrohung durch das Virus schafft, was Straßenprotesten nicht gelungen ist: die Aussetzung der Rentenreform
135 Euro Bußgeld kostet es, wenn eine unautorisierte Person in Frankreich ohne dieses Formular unterwegs ist. 100.000 Polizisten und Gendarmen werden zusätzlich mobilisiert, um zu kontrollieren, wer aus welchen Gründen sich möglicherweise gegen das präsidentielle Dekret in der Öffentlichkeit bewegt.
Im besagten Formular ist von einem Dekret vom 16. März 2020 die Rede. Fünf Gründe werden darin aufgelistet, die es erlauben, sich über die allgemeine "Ausgangsbeschränkung" hinwegzusetzen:
- Fahrten zur Arbeit, falls im Unternehmen kein Homeoffice möglich ist.
- Notwendige Einkäufe
- Notwendige Arztbesuche
- Notwendige Familienbesuche, wofür das Französische die beeindruckende Formulierung des "motif familial impérieux" hat, um sich um die Älteren oder andere "verletzliche" Risikogruppen zu kümmern oder um die Kinder
- Kurze Ausflüge in die Umgebung der Wohnung, um einer individuellen körperlichen Aktivität nachzugehen oder um notdürftige Haustiere "Gassi zu führen".
Diese Aktivitäten außerhalb der Wohnung sollen allein durchgeführt werden. Nicht erlaubt sind also Treffen mit anderen Hundebesitzern oder Sportsfreunden. Wie das dann in der Realität aussieht - oder von Polizisten wahrgenommen wird - , hat auch bestimmt seine unfreiwillig komischen Elemente, die Menschen erheitern könnten, die ohnehin Rudelbildungen von Sportrennfahrern oder schnuppernden und springenden Hunden distanziert gegenüberstehen.
Es stellen sich auch Fragen danach, wie das mit einkaufenden Paaren geregelt ist, und darauf finden die Spezialisten von Le Monde noch keine eindeutigen Antworten.
"Groß-Quarantäne" und Kriegserklärung
Unsicherheiten sind kennzeichnend für die neuen Regelungen in Frankreich, die auf eine Groß-Quarantäne hinauslaufen. Dass die Situation grundlegend sehr ernst ist, daran gibt es keinen Zweifel. Man muss auch nur ins Nachbarland Italien schauen, um Szenen aus den Krankenhäusern im eigentlich gut gestellten Norden anzuschauen, um zu wissen, dass man diese Situationen, so gut es irgend geht, verhindern will. Zehn Tage ist Italien voraus, heißt es im öffentlichen Gespräch.
Der französische Staatspräsident Macron ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Situation sehr ernst nimmt. Sechs Mal sagte er bei seiner gestrigen TV-Rede an die Nation (schriftlich hier und als Video hier) den Satz "Nous sommes en guerre." Auf Deutsch: "Wir sind im Krieg." 7 Mal benutzte er das Wort "Guerre", Krieg.
Kein einziges Mal sprach Macron von "confinement", was mit Quarantäne übersetzt wird. Aber dieses Wort, das mit Ausgangsperre gleichgesetzt werden kann, beherrscht heute die Medien und die Gespräche. Die Sache mit dem "Krieg" sei eine bekannte und erprobte rhetorische Figur, erklärte man dem Autor dieser Zeilen am Telefon.
"Anaphore" (Anapher) würden solche Wiederholungen genannt. Hollande und Sarkozy hätten Erfolge mit Wiederholungen dieser Art gehabt. Im täglichen Leben aber seien die Bestimmungen zur "Ausgangssperre" von größerer Bedeutung. Dazu habe Macron nur Vages, nichts Konkretes gesagt. Die Einzelheiten waren dann Sache des Innenministers Castaner (der Polizeigewalt verteidigt, wo immer es geht).
Selbstverständlich erklärte Macron bei der ersten Erwähnung, dass es sich um einen "sanitären" Krieg handelt, um einen Krieg gegen das Virus, nicht um einen militärischen. Wobei der Resonanzraum freilich groß ist, zumal in den letzten Tagen eine Historikerin in einem Interview darauf aufmerksam machte, dass Epidemien dadurch gekennzeichnet seien, dass sich die "militärische Macht" durch Seuchen-Bekämpfung vergrößert habe.
Akzeptanz
Nun wird der Großteil der 67 Millionen Franzosen wahrscheinlich das Interview nicht gelesen haben, aber eine prinzipielle, weitverbreitete Skepsis gegenüber der Staatsgewalt, die ihre Befugnisse und Autorität weidlich nutzt, kann man unterstellen. Es gab zuletzt eine Trendwende auch in der Wahrnehmung der großen Medien, wenn es um Polizeigewalt ging. Was Macron früher im Rahmen von Staatsvernunft verkaufte - das rigide, häufig brutale Vorgehen der Polizei gegen Sozialproteste - fiel zuletzt in Ungnade auch bei Medien in der Hand von Milliardären.
Aber ähnlich wie in den anderen europäischen Staaten zeigt sich in Frankreich eine frappierende, vor wenigen Wochen noch unvorstellbare Akzeptanz für die Aussetzung eines Grundrechts nach dem anderen.
Die Verbreitung des Sars-CoV-2-Virus schafft einen Ausnahmezustand, der bislang nur in der Sci-Fi- oder Thrillerwelt ausgebreitet wurde, und der jetzt in der Realität die Aussetzung von Grundrechten, auf deren historische Einsetzung die französische Nation so stolz ist, derart stark und überzeugend begründet wird, dass die Bevölkerung im "Abwartemodus" ist und sich den Anordnungen fügt. Alle Vernunft spricht gegenwärtig auch dafür, um die Katastrophe kleinstmöglich zu halten. Es gehe um die Verlangsamung der Ausbreitung von covid 19, sagte Macron.
Reformen ausgesetzt
Sars-CoV-2 hat nun geschafft, was wiederholte Straßenproteste mit vielen Hunderttausenden und Streiks nicht erreicht haben: Macron erklärte gestern, dass er Reformen, namentlich die Rentenreform, ab sofort aussetzt. Im Rahmen der Mobilisation für den Gesundheits-Krieg brauche man alle Energie, "darum habe ich entschieden, dass alle Reformen, die gerade in Arbeit sind, ausgesetzt werden, angefangen die Rentenreform".
Zugleich verkündete Macron aber auch, dass seine Regierung dabei ist, ein Gesetz auszuarbeiten, das nichts weniger ist als ein neues Notstandsgesetz.: "Ab Mittwoch wird dem Ministerrat ein Gesetzesentwurf vorgelegt, der auf die Dringlichkeit im Notfall antwortet und es erlaubt, über 'Ordonanzen' gesetzesmäßig in Bereichen zu agieren, die unmittelbar mit der Bewältigung einer Krise zu tun haben."
Die Akzeptanz für ein solches Unterfangen ist augenblicklich von einer Notwendigkeit gekennzeichnet, die covid 19 aufdrängt. Niemand weiß genau, wie lange diese Situation der Notwendigkeiten vorhält. Ein wachsames Auge auf die Staatsaktivitäten - und nicht nur auf die individuellen sportlichen oder körperlichen Aktivitäten im Park - ist angebracht.
Notmaßnahmen für die Wirtschaft
Anzufügen ist, dass Macron auch für das gigantische Problem der Auswirkungen auf die Real- und Finanzwirtschaft (vgl. Kapitalismus kaputt) erste Lösungsvorschläge skizzenhaft präsentierte: Mit einem 300-Milliarden-Euro-Programm will er Unternehmen bei Bankkrediten helfen, darüber hinaus schlägt Macron vor, Steuerzahlungen wie auch Sozialabgaben für Unternehmen auszusetzen, auch sollen Strom- und Gasrechnungen "keine Probleme" darstellen. Wirklich?
Im Fokus von Macrons Rede stand "Solidarität", so sprach er gleichermaßen von Hilfen der Gemeinschaft für die Ärmsten und Bedürftigen wie auch für kleine und mittlere und andere Unternehmen. Ein großer Bogen, fürwahr. Was sich dann konkret zeigen wird, ist noch abzuwarten. Generell gab es die - nicht ungewohnte - Kritik an Macron, dass er große Worte verwendet, aber nicht entschlossen und verlässlich genug "konkret wurde".