Frankreich: Beherbergungsverbot "unverhältnismäßig bis kontraintuitiv"
Coronakrise: Hohe Infektionszahlen und Krankenhäuser an der Belastungsgrenze. Macron reagiert mit nächtlichen Ausgangssperren, Franzosen dürfen aber in die Herbstferien fahren
Die Franzosen sollen in die Herbstferien fahren können, das weite Land und die frische Luft genießen, sagte Macron. Es gibt kein "Beherbergungsverbot" unter den Maßnahmen, die der Präsident gestern via Interview verkündete. Er wies daraufhin, wie wichtig offene Orte sind. Das tue auch dem Immunsystem gut. "Also, von den Leuten zu verlangen, dass sie in ihren Wohnungen bleiben und nicht an ihre Ferienorte fahren dürfen, das wäre ehrlich gesagt unverhältnismäßig, mitunter kontraintuitiv."
Spricht aus dem Quasi-Monarchen der französische Freiheitsgeist, während sich hierzulande deutsche Gründlichkeit und Regelungsmanie in ein föderales Wirrwarr der Beherbergungsverbote verbohrt hat?
Wir haben nicht beschlossen, die Reisen zwischen den Regionen einzudämmen. Auch hier geht es um eine Wahl: Um die, nicht zu infantilisieren, sondern Verantwortung zu übertragen, das heißt, die Leute nicht daran zu hindern, sich von einer Region zur anderen zu bewegen.
Emmanuel Macron
So bilderbuchmäßig ist es ganz und gar nicht. Die französische Regierung hat den Gesundheitsnotstand wieder eingesetzt, das gibt ihr den gesetzlichen Rahmen für einschneidende Maßnahmen und Strafen. Macron verkündete eine Ausgangssperre für den Großraum Paris, die Metropolen Grenoble, Lille, Rouen, Lyon, Aix-Marseille, Saint-Étienne, Toulouse und Montpellier (mit "Metropolen" sind nicht die Städte alleine gemeint, sondern auch Gemeinden, die in diese Verwaltungskategorie eingeschlossen sind).
Und er erklärte: "Wir feiern nicht mehr, wir gehen keine Freunde mehr besuchen."
Zwischen 21 Uhr abends und 6 Uhr morgens sind "die Schotten dicht", die Bürger sollen in den genannten Orten in ihren Wohnungen bleiben und nicht herumfahren und sich auswärtig treffen. In Theatern, Kinos, Konzertsälen und Restaurants ist um 21 Uhr Schluss, "auch private Treffen sind nicht erlaubt". Mindestens vier Wochen lang, heißt es überall, Macron sprach von sechs Wochen. Dann werde neu entschieden.
Es gibt nur wenige Ausnahmen, die müssen ein Dokument, eine Art Passierschein, vorweisen können. Das couvre feu, wie die Ausgangssperre auf Französisch heißt, ist ein Begriff aus der deutschen Besatzung, das hallt nach. Auch wenn es sich, worauf Macron Wert legt, um kein "Verbot", sondern um eine "Beschränkung" handelt, was administrativ-rechtliche Gründe hat und Klagen vor Gericht aus dem Weg gehen soll.
Versammlungen zuhause sind auf sechs Personen beschränkt. Wie das kontrolliert werden soll, ist unklar. Aber auch dieses Mal betonte Macron, dass es Strafen für Zuwiderhandlungen geben wird. Beim Lockdown im Frühjahr verstärkte seine Regierung die Kontrollen. Bei wiederholten Zuwiderhandlungen erhöhen sich die Strafen drastisch von 135 Euro auf einen vierstelligen Betrag und es können auch Freiheitsstrafen verhängt werden.
"Die gefährlichsten Kontakte sind die privaten"
Einen weiteren Lockdown gilt es unbedingt zu vermeiden, diese Maxime bestätigte Macron. Ziel der neuen Maßnahmen sind nun die privaten Zusammenkünfte ("die gefährlichsten Kontakte", Macron). Man geht davon aus, dass sie maßgeblich für die neuerliche Verbreitungswelle des Virus gesorgt haben. Kindertagesstätten und Schulen sollen geöffnet bleiben, die Wirtschaft soll nicht wieder heruntergefahren werden, für das Home Office gibt es nur Empfehlungen, keine Vorschriften. Die Unternehmen sollen so wenig wie möglich mit zentralstaatlichen Corona-Vorschriften eingeschränkt werden.
Der Druck der Wirtschaft ist nun ein anderer als bei der Corona-"Kriegserklärung" Macrons im Frühjahr. Diesmal gab es keine Ansprache an die Nation, sondern ein Interview, in dem der Präsident versuchte, die Positionen der Regierung zu vermitteln, weniger strikt, "gesprächiger" statt amtlich. Ihm wird ja immer wieder vorgeworfen, dass er zu abgehoben ist und sein Präsidentenamt monarchisch versteht, von oben herab.
Der Unmut gegen die Corona-Maßnahmen der Regierung stieg deutlich, als man vor Wochen damit anfing, dem Gastgewerbe in Marseille und Aix-en-Provence von Paris aus Sperrstunden aufzuerlegen.
Da machte sich Widerstand bemerkbar. An Äußerungen der Bürgermeister und Kommunalpolitiker bis zu langen Kommentarlisten unter Artikeln in Regionalzeitungen zeigte sich, dass hier eine Toleranzgrenze erreicht war. Die Gastwirte machten geltend, dass sie mit diesen Regelungen ihr Geschäft aufgeben müssen - das "Restaurant und Barsterben" wäre eine Katastrophe, die auch von großen Teilen der Bevölkerung als solche wahrgenommen wird.
Die Regierung in Paris kann das nicht ignorieren. Dass es kein "Beherbergungsverbot" gibt, liegt auch daran, dass die Hoteliers und Restaurantbetreiber wieder Geschäfte machen sollen. Der Tourismus in Frankreich ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Gegenstimmen...
Bis dato hatte die Regierung in Frankreich mit weniger lauten Gegenstimmen zu tun als die Berliner Regierung, obwohl die Maßnahmen beim Lockdown sehr viel schärfer ausfielen (Macron lobte gestern noch einmal, wie gut die Bevölkerung beim Lockdown mitgemacht hatte). Allerdings waren die Zahlen auch ganz andere als in Deutschland, es gab sehr viel mehr Corona-Tote und in den Krankenhäusern herrschte mehr Personal- und Versorgungsnot. Es gab weniger Betten für die Intensivbetreuung von Covid-Erkrankten.
...Fallzahlen...
Die Fallzahlen sind auch jetzt weitaus höher als in Deutschland. Hierzulande sorgen 6.638 Infektionen an einem Tag für die Top-Meldung beim Spiegel, die Alarm triggert: "Höchstwert". In Frankreich wurden am Mittwoch 22.591 neue Ansteckungen gemeldet.
Eine Schlagzeile ist das nicht mehr. Auch am Wochenende wurden ähnlich hohe Infektionszahlen gemeldet - wie auch schon zuvor: fast 19.000 Neuinfektionen am 7. Oktober. Die Fallzahlen steigen seit Wochen. Auch die Zahlen der an Covid-19 Erkrankten, die ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, auf die Intensivstation kommen oder infolge oder im Zusammenhang mit der Viruserkrankung sterben, steigen - wenn auch auf niedrigerem Niveau als die Fallzahlen.
... Einweisungen ins Krankenhaus
Am 13. Oktober waren 8.949 Personen im Zusammenhang mit Covid-19 hospitalisiert, 1.642 Personen waren auf einer Intensivstation (18,35 Prozent), so die Zahlen der Gesundheitsbehörde Santé Public France. 94 Neueinlieferungen in Intensivstationen und 87 Tote meldete Le Monde am gestrigen Mittwoch.
Dennoch: Der große Abstand zu den Zahlen der Krankenhauseinlieferungen im April und Mai ist unübersehbar, wie eine Abblidung hier veranschaulicht. Anfang April waren über 30.000 (wöchentlich) mit Covid-19 im Krankenhaus und über 6.800 daran erkrankte Personen auf Intensivstationen. Davon sind die augenblicklichen Zahlen weit entfernt.
Da sich aber an der Entwicklung auch dieser Zahlen ein Trend nach oben abzeichnet, ist die Regierung beunruhigt, zumal aus manchen Regionen, wie etwa Hauts-de-Seine, das zur Metropole Groß-Paris gehört, Meldungen über knapp werdende Plätze auf Intensivstationen kommen. Krankenhäuser beklagen, dass sie an der Belastungsgrenze sind. Regional gibt es da allerdings große Unterschiede.
Macron bemühte sich, dass sich möglichst viele auch außerhalb der Risikogruppen angesprochen fühlen: "Im Moment, da ich mit Ihnen spreche, ist die Hälfte der Covid-Patienten auf den Intensivstationen jünger als 65."