Frankreich: Die Polizei in ihrer Härte unterstützen?
Der Fall Théo: Bei einer Polizeikontrolle wurde ein junger Mann so schwer verletzt, dass er notoperiert werden musste. Le Pen stellt sich hinter die Polizei
Nuancen wären angebracht. Dem "Fall Théo" liegt ein Eskalations-Problem zugrunde und die Frage, die von Le Pens Äußerungen aufgeworfen wird, wäre, ob die uneingeschränkte Rückendeckung der Polizei, verbunden mit dem Versprechen, sie noch weiter zu stärken, dem sozialen Frieden näherkommt. Ihrer politischen Logik gemäß setzt sie auf Polarisierung und Härte.
Soviel ist sicher und fake-news-immun: Die Verletzungen, die eine sofortige Notoperation am Darm des jungen Mannes erforderten, hat er sich nicht selbst beigebracht. Sie entstanden durch das gewaltsame Einführen eines Teleskopschlagstocks, der einem der vier Polizisten gehörte, die den Mann am vergangenen Donnerstag in Aulnay-sous-Bois zu Boden warfen und malträtierten.
Die vier Polizisten wurden am Sonntag vom Dienst suspendiert und Ermittlungen wegen "mutwilliger Gewalt" ("violences volontaires") eingeleitet, in einem Fall wird auch wegen Vergewaltigung ermittelt.
Eskalationen und Wut in der Trabantenstadt
Aulney-sous-Bois im Départment Seine-Saint-Denis gelegen, laut Wikipedia 19 Kilometer von Notre-Dame in Paris entfernt, ist nicht irgendein Ort für die Polizeiarbeit: Es spielte eine Rolle bei der Eskalation in den französischen Trabantenstädten im November 2005 (siehe Aufruhr in den Städten) und die aufgebrachten Reaktionen der letzten Tage infolge der gewaltsamen Festnahme von Theo zeigen an, dass es noch immer viel aufgestaute Wut in der Einwohnerschaft gibt.
Das Viertel "la Cité des 3 000" (bzw. Rose-des-Vents), wo der Fall Théo seinen Ausgang nahm, ist eine zone sensible, eine Problemzone. Drogenhandel spielt eine Rolle, das Verhältnis zwischen Polizei und den jüngeren Einwohnern ist angespannt.
Was am Donnerstag passierte, hat eine Vorgeschichte. "Die ganze Jugend fühlt sich gedemütigt", ist ein Artikel überschrieben, der anhand von Aussagen jüngerer Bewohner veranschaulicht, wie wenig Vertrauen sie in die Polizei und in die Justiz haben, wie stark das Gefühl verbreitet ist, Vorurteilen und Brutalität mehr oder weniger hilflos ausgesetzt zu sein. Schon einem Grundschüler würde angesichts eines Polizeiautos der Satz einfallen: "Das sind die, die jedem die Schnauze polieren."
Die Polizisten, mit denen es Théo L. zu tun bekam, gehören zu einer Spezialeinheit, der BST (brigade spécialisée de terrain), sie sollen eingreifen, um den Drogenhandel zu unterbinden, möglichst schnell, möglichst überraschend. Es ist keine Polizei für präventive Maßnahmen.
"Sofort aggressiv angegangen"
Ob nun Théo L. selbst des Drogenhandels verdächtig ist, ob er nur bei einer Gruppe von Verdächtigen stand - "falscher Ort, zur falschen Zeit" -, ob er, wie er selbst beteuert, angesichts der "giftigen Situation" beschwichtigend eingreifen wollte, wie sich die Aggression der Polizei genau begründete - all das wird ermittelt. Nach Aussagen des Opfers der weit überzogenen Polizeigewalt gefiel es den Polizisten nicht, dass er sich einmischte.
Man habe ihn darauf sofort aggressiv angegangen, mit Beschimpfungen und Schlägen und dann schließlich mit dem Schlagstock. Es existiert ein Video von Théo L, der am Boden liegt und den Polizisten, die sich über ihn gebeugt, an ihm zu schaffen machen. Zu erkennen ist nicht viel, auch nicht an den Fotos.
Nach Aussagen des Opfers hätten die Polizisten versucht, ihn in an einen Platz zu drängen, der nicht von einer Kamera überwacht wurde. Er berichtet von fortgesetzten Schlägen und rassistischen Beleidigungen (Théo L. ist afrikanischer Herkunft), vom ersten Moment an bis zur Fahrt zum Polizeirevier, wo dann ein Polizist, der seine Sinne noch zusammen hatte, einen Krankenwagen rief.
Chaos-Nächte
Der Vorfall führte zu Ausschreitungen, die gestern Nacht auch Nachbargemeinden erfassten. Laut Le Monde hatte die Polizei zwischendrin große Mühe, Aufgebrachten, die wie üblich Dinge anzündeten und Molotowcocktails warfen, Herr zu werden. Die Spannung dauere an, wurde heute Morgen gemeldet.
Die Polizei feuerte in einer der "Chaos-Nächte" mit scharfer Munition in den Boden, um die Lage zu beruhigen. Das Mittel sei riskant und würde laut le Monde extrem selten angewendet.
In Paris wurde die Sache sehr ernstgenommen. Der von Meinungsumfragen abgewählte Präsident Hollande besuchte das Opfer der Polizeigewalt im Krankenhaus. Er twitterte, dass Theo mit Würde und Verantwortungsgefühl reagiere - und dass man der Justiz vertrauen müsse.
Davon, dass er es trotz seiner Versprechen nicht geschafft hat, politische Lösungen für die latent angespannte Situation in den Problemzonen zu finden, sprach er selbstverständlich nicht. Dafür gibt es wohl auch keine guten Sätze und die Priorität lag bei der Beruhigung der aktuell zugespitzten Lage.
Der Bürgermeister der Republikaner
Bemerkenswert ist, dass sich der Bürgermeister der konservativen Partei Les Républicains für das Opfer und seine Familie aussprach. Er könne es überhaupt nicht begreifen, dass die Staatsanwaltschaft in Bobigny von der Anklage wegen Vergewaltigung absehen wolle und auf eine Anklage wegen schwerer Körperverletzung umgeschwenkt sei, sagte er am Sonntag, als alles daraufhin deutete, dass die Staatsanwaltschaft die Vergewaltigungsanklage fallen lassen würde. Das sei eine Verdrehung der Wahrheit, so Bruno Beschizza
Der Untersuchungrichter beschloss dann doch, wie eingangs erwähnt, dass gegen einen Polizisten wegen Vergewaltigung ermittelt wird. Der Einsatz des Bürgermeisters für Théo L. fand große Beachtung. Beschizza ist als "Sicherheitpolitiker" bekannt, er setzt auf die Polizei.
Der Mann, so der Eindruck, kennt den Fall aus der Nähe und beurteilt ihn daher über Parteilinien hinweg. Dies ist bei Marine Le Pen nicht der Fall. In ihren Aussagen (hier und hier) geht sie mit keinem Wort auf die Aggression der Polizisten ein.
Le Pen: Kampf gegen die "Racaille"
Stattdessen betonte sie, dass sie einschränkungslos hinter der Polizei stehe, die es in diesen Vierteln mit einer "racaille", mit Gesindel, zu tun habe, wie die Vorkommnisse der letzten Tagen ja gezeigt hätten, wo der Polizei kein anderes Mittel zur Verfügung stand, als mit scharfer Munition Warnschüsse abzugeben.
Le Pen betont, dass die Polizei weiter aufgerüstet und besser ausgestattet werden müsse. Solche Forderungen bekommen momentan Unterstützung von allen Seiten, wie man auch in Deutschland beobachten kann. In Frankreich gab es kaum Kritik an den Verlängerungen des Ausnahmezustands. In diesem Zusammenhang gab es ebenfalls Berichte von roher Polizeigewalt, die jedoch nicht zu einem relevanten Thema wurde.
Zu konstatieren ist, dass Härte aufseiten des Staates momentan als der grundlegend bessere Ansatz gilt, die Popularität für nuancierte Vorgehensweisen, die als weich gelten, nimmt dagegen ab. Sehr wahrscheinlich, dass die zivilgesellschaftlichen Bemühungen und Initiativen, die es in den Problemvierteln gibt, unter einer Präsidentin le Pen nicht überleben würden. Ob dann mit "Null Toleranz" auch die Viertel friedlicher werden?