Frankreich: Die kleinen Gesten der Radikalisierung
Nach dem Schock des Massakers in der Pariser Polizeizentrale: Woran zeigt sich die Radikalisierung? Macron ruft zur Wachsamkeit gegen die "islamistische Hydra" auf, dabei sei auf Gesten im Alltag zu achten
Soll Radikalisierung künftig bereits als Delikt gelten? Die Frage, aufgeworfen und debattiert in einer französischen TV-Diskussion, zeigt an, wie groß der Schock ist, den das Massaker in der Pariser Polizeipräfektur vom vergangenen Donnerstag ausgelöst hat.
Und sie zeigt an, wie schwierig es ist, praktische Lösungen für ein Problem zu finden, das in seiner Komplexität "ihresgleichen" sucht, wie ein namhafter französischer Anti-Terror-Richter betont. Staatspräsident Macron spricht von einer "islamistischen Hydra", gegen die sich die ganze Nation vereinigen und mobilisieren soll. Man müsse eine Gesellschaft der Wachsamkeit aufbauen. Die staatlichen Institutionen alleine würden nicht reichen, um ans Ende dieser Hydra zu kommen.
Das Vertrauen in die staatlichen Institutionen ist in Frankreich hoch, wie eine viel beachtete Umfrage kürzlich aufs Neue bestätigte. Die Armee, die Schule und die Polizei stehen als "Institutions régaliennes" (frei übersetzt mit Institutionen mit hoheitlichen Aufgaben) oben in der Vertrauenstabelle. Umso erschütternder ist es, wenn sich herausstellt, dass ein langjähriger Mitarbeiter des Geheimdienstes der Polizeipräfektur im Herzen von Paris Kollegen brutal ermordet und dies, wie sich später herausstellt, mit einem radikalislamischen Hintergrund.
Die Frage, die sich seither stellt, ist, ob dies zu verhindern gewesen wäre und ob es nicht noch mehr solcher Fälle geben kann, wie groß die Gefahr ist. Im Zuge der Erkenntnisse über den Täter Mickaël H. wird der Rücktritt von Innenminister Castaner gefordert. Dieser hatte zunächst erklärt, dass der Täter bis dato nicht aufgefallen war und er hatte die Lesart, dass es sich um einen terroristischen Akt handeln könnte, erstmal abgetan.
Die Radikalisierungssignale des Pariser Geheimdienstmitarbeiters
Danach stellte sich heraus, dass der Täter Kontakte zu salafistischen Kreisen hatte, dass er regelmäßig eine Moschee besuchte, in der ein bekannter radikaler Imam predigte, dass er kurz vor der Tat viele deutlich religiös gefärbte SMS an seine Frau verschickt hatte und - nun kommen die Signale, die die Diskussion auf schwierigeres Gelände führen: Dass er nach dem Terrormordanschlag von Islamisten auf die Charlie-Hébdo-Redaktion im Januar 2015 Kollegen gegenüber "gut gemacht" bemerkt hatte und sich gegenüber Frauen nicht so verhielt, wie es in Frankreich gang und gäbe ist. Er verweigerte nicht nur die Bisous (mehr oder weniger angedeutete Küsschen auf die Wange), sondern auch den Händedruck.
Nach dem Charlie-Hébdo-Terroranschlag gab es nicht wenige, die auf der Straße und auch in den Schulen öffentlich postulierten "Wir sind nicht Charlie", das sorgte damals für Medienaufmerksamkeit, war aber offenbar so verbreitet, dass auf diese Äußerungen vielleicht nicht besonders aufgepasst wurde. Jedenfalls machte der Vorgesetzte des späteren Mörders keine Meldung von der "Bien fait"-Äußerung. Man wollte die Sache nicht allzu hoch hängen.
Dies ist nun zum einem der Dreh- und Angelpunkte der Diskussion geworden. Innenminister Castaner hat angekündigt, dass man ein Reglement einführen will, damit solche Äußerungen automatisch an höhere Stellen weitergeleitet werden. Im Nachhinein, nachdem der Mann vier Kollegen mit "exzessiver Gewalt" (Staatsanwalt) umgebracht hat, steht der Satz, dass solche Äußerungen von einem Polizisten niemals gemacht werden dürfen und sofort angezeigt werden müssen, so sicher da wie ein Naturgesetz.
Zuvor war das offensichtlich aber nicht so felsenfest klar. Welche anderen Äußerungen, Signale und "Sympathieäußerungen" sind denn ebenfalls als Anzeichen einer Radikalisierung zu werten, so dass die Vorgesetzten informiert werden müssen? Wo beginnt das? Die Polizisten hätten ihren Kollegn nicht "denunzieren" wollen, heißt es in der TV-Diskussion.
Es wäre gut möglich, dass sich nicht nur Polizisten und Militärs, sondern auch Richter als radikalisiert entpuppen, sagt der in Frankreich bekannte Richter Marc Trevidic, der sich einen Namen als juge (Richter) antiterroriste gemacht hat.
Mit dem Problem "dieser tödlichen Ideologie" sei die französische Gesellschaft seit vielen Jahren konfrontiert, so Trevidic. Eine besondere Schwierigkeit der Aufgabe, Terroranschläge zu verhindern liege aber darin, dass die Personen, die ein "echtes terroristisches Projekt" verfolgen, darauf achten dies so gut wie möglich zu verbergen. Anders aber liege der Fall bei denen, die sich im Lauf der Zeit radikalisieren und gar nicht unbedingt die Absicht haben, dies in eine Handlung umzusetzen, diese würden die Anzeichen ihrer Radikalisierung nicht verstecken. Aber wann und wie eingreifen?
Wie kann man verhindern, dass jemand, der die ganze Zeit über still seine Arbeit verrichtet und kaum Zeichen nach außen gibt, auf einmal ein Messer ergreift und ein Massaker anrichtet, das sei als Aufgabenstellung für die tägliche Politik zu komplex, so Trévidic, der damit Innenminister Castaner in Schutz nimmt.
Der Täter im Pariser Hochsicherheitstrakt der Polizeipräfektur sei "triebhaft" vorgegangen, sein Angriff mache nicht den Eindruck, dass er organisiert war. Er würde das Massaker als "terroristischen Akt" bezeichnen, aber nicht als Terroranschlag. Auch seien Grenzen zwischen Geisteskrankheiten, Kriminalität und Terrorismus nicht immer deutlich. Der Fall Mickaël H. liegt offenbar auch eine Mischung aus zwei Phänomen vor, einmal eine islamistisch grundierte Radikalisierung, zum anderen eine geistige Verwirrung, die ihm in der Nacht Stimmen zuflüsterte.
Das Problem der Radikalisierung und der Entdeckung dieser Radikalisierung im Kampf gegen diesen diffusen Terrorismus, mit dem man es heute zu tun hat, suche seinesgleichen, was die Komplexität anbelangt, so der Richter.
"Wachsamkeit, nicht Misstrauen" (Macron)
Macron setzt in seiner Ansprache zum Gedenken der Opfer des Terroraktes darauf, dass die Gesellschaft wachsamer werde, "in der Schule, in der Arbeit und an den Stätten der Religionsausübung und in der Nachbarschaft". Es gehe um die kleinen Gesten, die eine Entfernung von den Werten der Republik signalisieren.
Der französische Präsident grenzt dies ab von einem Misstrauen, das zersetze. Auch hier dürften die jeweiligen Abgrenzungen nicht einfach sein. Geht es nach Beobachtungen der Frankreich-Korrespondentin für die FAZ, Michaela Wiegel, so ist Frankreich am Anfang einer "kulturellen Schlacht" gegen die Ideologie der neuen Dschihadisten.
Noch immer hat das Land keine schlüssigen Antworten entwickelt, wie verhindert werden kann, dass junge Franzosen sich radikalisieren. Die ersten Anzeichen, die oftmals im Umgang mit Frauen ausgemacht werden können, werden gern übersehen. Das gilt nicht nur für die Polizeiverwaltung. Frankreich quält sich seit langem damit, die Grenze zwischen notwendiger Toleranz gegenüber muslimisch geprägten Sitten und Abwehr exzessiver Islam-Auslegungen zu ziehen. So wichtig es ist, Vorurteile gegen muslimische Franzosen nicht zu befördern, so fahrlässig ist das Bemänteln und Vertuschen von Verdachtsmomenten.
Michaela Wiegel, FAZ