Frankreich: "Kein Geld mehr für die Miete"
Die soziale Spannungslage ist schärfer ausgeprägt, der Umgang mit der Corona-Krise anders als in Deutschland. Die Mehrheit der Franzosen ist unzufrieden mit der Regierung
"In Frankreich hat man einen König geköpft, in Deutschland nicht." Dieser Impuls setze sich bis heute fort. Mitterand und Chirac bekamen nach einer Amtszeit als Präsidenten einen Premier des gegnerischen Lagers zur Seite gestellt. Sarkozy und Hollande mussten nach einer Amtszeit gehen. Und Macron könnte das Gleiche passieren, sagte der leitende Beamte aus Montpellier am Telefon.
Die Unzufriedenheit mit dem Präsidenten sei groß und die Opposition im und außerhalb des Parlaments radikaler als in Deutschland, links wie rechts.
Ich hatte ihn danach gefragt, welche Unterschiede er im Umgang mit der Corona-Krise zwischen den beiden Nachbarländern sieht. Wie so oft bekam ich eine Antwort, die weit ausholte.
"Beunruhigt" über Lockerungen
Im Umfragespiegel der Medien gibt es kürzere Antworten: 50 Prozent der Deutschen sind mit Merkel zufrieden, 24 Prozent der Franzosen mit Macron. Es ist der niedrigste Wert der europäischen Staatschefs, die Le Monde auflistet (2.Mai). 38 Prozent der Franzosen sind demnach mit der Regierungsarbeit "zufrieden", gegenüber 74 Prozent der Deutschen.
Knapp 53 Prozent der Deutschen haben "viel Vertrauen", dass die Bundesregierung die Chancen und Risiken bei Lockerungen der Corona-Maßnahmen verantwortungsvoll abwägt, berichtete der Spiegel gestern.
67 Prozent der Franzosen sind beunruhigt über die Lockerungsmaßnahmen, die die Regierung in Paris ab dem 11. Mai plant, berichtet der französische Fernsehsender BFMTV heute.
Man könnte jetzt die Umfragen von Ipsos (Le Monde), Civey (Spiegel) und Elabe (BMTV) näher prüfen, inwieweit Fragestellungen die Wirklichkeit verzerren, aber eine andere Mikroebene ist auch aufschlussreich.
Das Versprechen sozialer Gleichheit ist nicht zu erfüllen
Die Vereinigung der Bürgermeister von Ile-de-France, dem Ballungsraum in der Umgebung der Hauptstadt, schickten einen "offenen Brief" an Macron mit der Bitte, die Öffnung der Schulen auf einen späteren Termin als den 11. Mai zu verschieben.
Grund: Man könne die sanitären Auflagen nicht erfüllen, es fehle an Masken und an Lehrern, die Organisationsprobleme zur Wiedereröffnung der Kantinen seien zu groß, als dass sie in der Kürze so gelöst werden können, dass man das Versprechen sozialer Gleichheit, das Macron ausgerufen habe, nicht erfüllen könne.
Die Rückkehr der Vergessenen: Die neuen Stützen
Egal, mit welcher Farbe man die Zukunft des Landes "nach Corona" ausmale, ob grün wie der frühere Umweltminister Nicolas Hulot oder "ganz anders, ganz neu" wie die Sozialisten, es würden zwei Grundfarben bleiben, so der Beamte - und das große Problem der Ungleichheit und der künftigen Arbeitswelt.
Er stellt gegenüber das Weiß der Cadres, der Angestellten in gehobeneren oder leitenden Positionen, und das Blau der Arbeiter und Angestellten in schlechter bezahlten, untergebenen Positionen. Etwa wie die White Collars und die Blue Collars in den USA nur mit einer anderen Geschichte, ganz besonders in jüngster Zeit.
Die Gelbwesten-Proteste wie die anschließenden Sozialproteste, bei denen unter anderem das Krankenhauspersonal vertreten war, hätten "die Blauen" aus der Vergessenheit ins Rampenlicht gebracht. Die Corona-Krise habe diesen Effekt noch verstärkt.
Nun nehme man weniger "die Weißen" als Stützen und Träger der Gesellschaft wahr, sondern die Öffentlichkeit sei sich mehr als zuvor bewusst, wie systemrelevant die Beschäftigten, Arbeiter und Angestellten sind, Krankenhausangestellte, Busfahrer, Verkaufspersonal, Erzieher, die mit ihren Einkommen Schwierigkeiten haben, bis zum Monatsende durchzukommen. Die Corona-Krise habe der Spannungslage noch mehr Kanten zugefügt.
Wirtschaftsaussichten schlechter als in Deutschland
10,8 Millionen Französinnen und Franzosen sind angeblich derzeit in Kurzarbeit. Laut FAZ sind es "11,3 Millionen Menschen - mehr als 59 Prozent der Beschäftigten im Privatsektor, die nicht arbeiten und staatliches Kurzarbeitergeld erhalten.
Für Deutschland prognostizierte die Bundesagentur für Arbeit kürzlich 10,1 Millionen. Der Wirtschaftseinbruch in Frankreich infolge der Corona-Maßnahmen dürfte stärker als in Deutschland ausfallen, so die Einschätzung aus den Wirtschaftskreisen. Manche rechnen gar mit einem Rückgang des BIP von 15 %. Frankreichs Zahlen seien schlechter als die in Spanien und Italien, kommentiert Le Monde.
Während in Deutschland 39 Prozent sehr ernste wirtschaftliche Folgen erwarten, sind es in Frankreich 64 Prozent.
Fast jede(r) Fünfte fürchtet, dass sie oder er die Miete nicht mehr bezahlen kann. Auf Oppositionsseiten sieht man eine Wirtschaftskrise wie in den 1930ern kommen.
In Frankreich wird, so der Eindruck aus Medien und Gesprächen, weniger darüber diskutiert, ob die Gefahr durch das Corona-Virus von der Regierung überschätzt wurde - was hierzulande mit Beginn der verschärften Maßnahmen ein prononcierter Kurs der "Gegenöffentlichkeit" war - sondern mehr die Art, wie die Regierung mit der Gefahr umgeht (Frankreich verzeichnet auch wesentlich mehr Tote im Zusammenhang mit Covid-19 als Deutschland) und vor allem: wie die sozialen Folgen aussehen.
Forderungen nach Gefängnisstrafen für Politiker
Bei der Masken-Frage hat die Regierung eine üble Figur gemacht und Vertrauen verspielt. Erst hieß es, dass Masken nichts bringen oder gar schädlich sind, weil man keine hatte, dann, als es den Anschein hatte, dass genügend herangeschafft werden könnten, wechselte sie den Kurs und machte sie zur Bedingung für die Lockerungsmaßnahmen (Déconfinement).
Selbst zurückhaltende Kritiker sprechen von einer Strategie des Lügens, was die Versorgung mit Masken und den Zustand des Gesundheitssystems anbelangt. Emmanuel Todd, ein radikaler Kritiker, sorgte wieder einmal für einen Eklat, als er angesichts des Maskennachschub-Skandals Gefängnisstrafen für die verantwortlichen Politiker forderte.
Auch der als zurückhaltend bezeichnete Kritiker, ein in Frankreich bekannter Schauspieler, plädiert für Gefängnisstrafen für Politiker, denen Korruption nachgewiesen wird. Man kann das Zeichen sehen, dass sich die Debatten mit der Coronakrise radikalisieren, wie es mein Gesprächspartner behauptet.
Auch er hält es "nicht für abwegig", dass die Lobbyarbeit von Konzernen, die versuchen die Gunst der Stunde für die Aufweichung von Regulierungen zum Umweltschutz zu nutzen, auf entgegenkommende Politiker trifft. Die Autoindustrie hat bisher 50 Prozent des Umsatzes im Vergleich zum Vorjahr eingebüßt; man rechnet mit 20 Prozent Rückgang am Ende des Jahres.
Überwachung und Tracing: Anti-Covid-Brigade
Es gibt noch ein anderes Phänomen, das die Anti-Covid-Maßnahmen in Frankreich von denen in Deutschland unterscheidet. Das hat mit Zwang und Strafe zu tun. Mit dem neuen Gesetz zum sanitären Notstand, das vor der Abstimmung in dieser Woche steht, sollen die Lockerungsmaßnahmen ab 11. Mai geregelt werden.
Zwar wurde einiges durch den Senat und Kritik zuvor abgemildert, etwa die Quarantäneregeln, es blieben aber bislang zwei Regelungen. Einmal wird das Personal zur Überwachung der Regeln deutlich aufgestockt, zu den Gendarmes kommen jetzt noch zum Beispiel Kontrolleure im öffentlichen Nahverkehr, aber auch andere Personen aus dem zivilen Leben, die Bußgelder bei Nichteinhaltung der Regeln einfordern können.
Man muss sich dazu vor Augen halten, dass zu den Lockdown-Maßnahmen (Confinement) Mitte April schon 14 Millionen Kontrollen und 830.000 gebührenpflichtige Verwarnungen gezählt wurden.
Um einiges brisanter noch wird die Art der Arbeit der Anti-Covid-Brigaden, die das neue Gesetz vorsieht. Hilfskräfte, vorzugsweise aus dem "medizinischen Bereich", wozu auch Krankenversicherungsangestellte gehören, sollen dabei helfen, bei Sars-CoV-2-Infizierten die Spuren der Infektion zu verfolgen, sprich: die Kontakte zu ermitteln, die die infizierte Person zum Zeitraum der Infektion und danach hatte.
Die App-Lösung hat man nun fallen gelassen, stattdessen kommen die Brigaden, von denen keiner weiß, wie viele dafür rekrutiert werden (können) und wie sich eine solche Spurenverfolgung durchführen lässt, mit welchen Mitteln und wie das mit Grundrechten zu vereinbaren ist. Die Diskussion darüber fängt gerade an (Déconfinement : le déploiement inédit et délicat des « brigades » de traçage des patients suspectés).
Dazu kommt bald die Neuauflage der Diskussion über Arbeitszeiten. Erste Forderungen nach Streichungen von Feiertagen und Verlängerung der Arbeitszeiten sind in der Öffentlichkeit.