Frankreich: "Nuit debout"-Proteste, eine neue Opposition?

Foto: Bernard Schmid

Zahlreiche Menschen folgen der Mobilisierung. Seit Tagen häufen sich polizeiliche Provokationen. Die Frage ist, ob sich die Banlieues der Bewegung anschließen

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In Frankreich schrieben an diesem Wochenende viele Menschen den 48. und 49. März. Doch doch, diese Menschen sind der Kalenderrechnung mächtig. Ihre spielerische Datumsangabe deutet jedoch einerseits darauf hin, dass die Kraft der sozialen Bewegung manche sozialen Normen und Konventionen zeitweilig außer Kraft zu setzen und/oder zu verändern vermag.

Zum anderen widerspiegelt und versinnbildlicht sie die Tatsache, dass die Platzbesetzerbewegung, die inzwischen auch internationalen Widerhall erhält (und u.a. in Belgien auch Nachahmung findet), in einem Kontinuum seit dem 31. März dieses Jahres anhält und bis heute andauert.

Ursprünglich hatte die Aneignung des öffentliches Raums in Gestalt der nächtlichen Besetzung von Plätzen, zunächst auf der Pariser Place de la République am Abend des 31. März 2016 begonnen. Dem voraus gingen die Demonstrationen vom Tage, an denen in Paris über 50.000 und in Frankreich rund eine Million Menschen teilgenommen hatten.

Die Protestzüge richteten sich gegen die durch die Regierung geplante, regressive "Reform" der Arbeitsgesetzgebung (Reform für Arbeitgeber: "Gut für die Arbeitsplätze"?). Die Parlamentsdebatte zu dem Gesetzentwurf wird nun am 03. Mai dieses Jahres in der französischen Nationalversammlung und am 11. Juni im Senat - dem "Oberhaus" des Parlaments - beginnen.

Die ersten Demonstrationen von Gewerkschaften, Studierenden und Jugendverbänden dagegen hatten am 09. März stattgefunden, die bislang stärksten am 31. des Monats. (Weitere sind geplant, mit einem nächsten Höhepunkt am 28. April.) Bei ihnen war es aber auch immer wieder zu einer Reihe von Zwischenfällen mit der Polizei und Repressionserfahrungen gekommen.

Polizeigewalt

Im westfranzösischen Rennes wurde ein sechzigjähriger Gewerkschafter, am Boden liegend, durch polizeiliche Schläger verprügelt. In Marseille starteten Oberschülerinnen und Oberschüler eine Petition gegen Polizeigewalt. Und im ostfranzösischen Chambéry wurden neun Schüler aus einem Internat ausgeschlossen, weil sie am Tage an einer Demonstration teilgenommen hatten.

Inzwischen gibt es einen neuen, Aufsehen erregenden Fall: Am 14. April wurde eine junge Frau, die selbst gar nicht Demonstrationsteilnehmer war, sondern auf einer Café-Terrasse für ihr Studium lernen wollte und sich plötzlich in einem Polizeikessel wiederfand, durch einen Bereitschaftspolizisten heftig gegen die Hüfte getreten und zog sich Verletzungen zu.

Im Anschluss an den Demonstrationstag vom 31. März also wurde in Paris die Platzbesetzung begonnen. Diese Aktion sollte verhindern, dass die Dynamik der Bewegung - im Warten auf die nächsten "Aktionstage" der etablierten Gewerkschaften - einbricht oder zurückgeht. Inzwischen verfügt sie auch über ihr eigenes Erkennungszeichen im Internet und bei den sozialen Medien, nämlich Nuit debout.

"Wir sind mehr wert als das"

Also sinngemäß "wache Nacht"; die in deutschsprachigen Medien bisweilen zu findende Wortlautübersetzung "Nacht im Stehen" ist irreführend, da die Mehrzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Abende und Nächte eher sitzend zubringt. Bei Vollversammlungen auf der Place de la République nehmen regelmäßig rund 2.000 Personen teil.

Dieses Erkennungsmerkmal gesellt sich dem bereits in den Wochen zuvor benutzten Slogan und Hashtag der Protestbewegung hinzu: "Nous valons mieux que ça" ("Wir sind mehr wert als das" - als das, was die Regierenden planen).

Auf diversen sozialen Medien und Apps folgen zahlreiche Menschen inzwischen der Mobilisierung, etwa bei den Diensten für Smartphones "Telegramm" und "Periscope" - in der ersten Aprilwoche brach der Service bei Periscope vorübergehend zusammen, weil an einem Abend rund 100.000 Menschen gleichzeitig den Livebericht über die Pariser Platzbesetzung verfolgten.

Aber wie steht es um die soziale Zusammensetzung?

Manche bürgerlichen Medien versuchen der Protestbewegung zu schaden, indem sie diese als eine Angelegenheit von Mittelschichtsangehörigen, Yuppies und Intellektuellen behandeln, und gegenüber der lohnabhängigen Bevölkerung eher als eine Art Luxushobby darstellen.

Die convergence des luttes, also das Zusammengehen der Kämpfe in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, wird unterdessen von vielen Rednerinnen und Rednern am offenen Mikrophon der Platzbesetzerbewegung immer wieder beschworen. Der linke Wirtschaftswissenschaftler Frédéric Lordon, einer der prominenten Köpfe in einer Bewegung, die keine Chefs haben möchte, beschwor die Versammelten schon in den ersten Tagen, auf diverse andere soziale Milieus zuzugehen, um die Bewegung tunlichst zu verbreitern.

Ein stärkerer Brückenschlag als bislang auch zu den Gewerkschaften und Lohnabhängigen sei nötig, betonen viele. Vielen abhängig Beschäftigten ist es de facto relativ schwierig, an allen Ereignissen teilzunehmen, wenn die einzelnen Kommissionen der Platzbesetzung - "Aktion", "Kommunikation", "internationale Kontakte", "Logistik" und andere - schon inmitten des Nachmittags zu arbeiten beginnen und danach die Vollversammlungen bis Mitternacht dauern.

Deswegen setzt sich die Mehrzahl der Teilnehmenden tatsächlich aus Studierenden, prekär Beschäftigten sowie Intellektuellen zusammen; ihre Erfahrungshintergründe, sofern sie zuvor gesellschaftlich engagiert waren, bringen sie oft aus der Ökologie- und Anti-Atomkraft-Bewegung mit oder aber aus der Migranten-Solidarität und dem antirassistischen Spektrum.

Mohammed ist etwa Mathematiklehrer, Stéphane ist Jurastudent und will sich auf Arbeitsrecht zur Verteidigung der Beschäftigten spezialisieren. Dennoch finden sich auch gewerkschaftlich aktive abhängig Beschäftigte. Zu ihnen gesellen sich auf dem Pariser Platz Hunderte der intermittents du spectacle genannten Prekären der Kulturindustrie, die in Frankreich nicht festangestellt werden, aber in auftrittslosen Zeiten Ansprüche auf Überbrückungsgelder aus einer gesonderten Arbeitslosenkasse haben.

Wie alle zwei Jahre, müssen diese Künstlerinnen, Filmemacher oder auch Fernsehtechnikerinnen auch in diesem Frühjahr darum kämpfen, dass ihr sozialer Sonderstatus nicht beseitigt oder stark eingeschränkt wird. Der Arbeitgeberverband MEDEF und der rechtssozialdemokratische Gewerkschaftsverband CFDT einigten sich soeben auf eine Einschränkung ihrer Ansprüche.

Schafft die soziale Bewegung den Sprung in die Banlieues?

Doch jenseits des Boulevard périphérique - der Ringbauautobahn, die um das 1860 definierte Pariser Stadtgebiet herum geht und das "eigentliche" Paris von den Vor- oder Trabantenstädten trennt - beginnt nochmals eine andere Welt. So sehen es jedenfalls viele Einwohnerinnen und Einwohner der Pariser Kernstadt, vor allem aus bürgerlichen Milieus. Umso wichtiger ist es, sich zu fragen, ob eine in Paris entstandene soziale Bewegung auch den Sprung in die darum herum gelegenen Banlieues schafft.

Von Anfang an war in Redebeiträgen auf der Pariser Place de la République immer wieder gefordert worden, auch in andere Städte und insbesondere in die Banlieues auszustrahlen. Aufgegriffen worden ist der Impuls inzwischen in über sechzig französischen Städten, wo mindestens in einer Nacht eine Platzbesetzung stattfand.

Im südwestfranzösischen Toulouse ist sie seit nunmehr einer Woche ebenfalls permanent, auf dem dortigen Kapitol-Platz nahmen bis zu 800 Menschen an Vollversammlungen statt. Selbst kleinere Städte wie Saint-Aubin-du-Cormier mit 3.000 Einwohnerinnen und Einwohnern sind mittlerweile berührt, nach den Regionalmetropolen Marseille, Lyon oder Lille.

Es blieb die Frage nach dem Übergreifen auch auf die Banlieues, denn neben der geographischen Distanz kommt hier eine handfeste soziale Spaltung hinzu.

Am Mittwoch (13. April) wurde der Sprung dorthin unternommen. Am Vormittag besetzten erzürnte Eltern in Saint-Denis, der alten Königsstadt in der nördlichen Pariser Vorstadtzone, insgesamt 200 Schulen. Sie protestieren gegen Einsparungen in ihrem krisengeprägten Département, gegen zahllose Unterrichtsausfälle mangels Ersetzung fehlender Lehrkräfte, und allgemein die systematische Vernachlässigung des ärmsten Verwaltungsbezirks Frankreichs (ohne Überseegebiete). Am Spätnachmittag dann riefen sie zu einem öffentlichen Sit-in auf. 400 Menschen kamen zum Debattieren bei einer Vollversammlung unter freiem Himmel, was kein schlechter Anfang ist.

Anderswo hatte es bereits Anläufe zur Organisierung von Vollversammlungen in den Vorstädten gegeben, in Montreuil östlich von Paris seit dem Freitag voriger Woche. Diese Stadt befindet sich jedoch bereits voll in der Gentrifizierung. Andernorts bleibt es jedoch schwierig. Aus Noisy-les-Champs berichten Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie die bürgerliche Presse, es seien nur 30 bis 40 Menschen gekommen, und die linksliberale Zeitung Le Monde zitiert einen schwarzen Passanten:

Wen wollt Ihr denn repräsentieren, es sind überhaupt keine Afrikaner, Araber oder Asiaten unter Euch?

Die durch die Zeitung selbst publizierten oder im Internet kursierenden Bilder von dem Ereignis widerlegen diese Aussage zwar. Dennoch bleibt es eine Tatsache, dass viele Einwohnerinnen und Einwohner aus sozialen Unterklassen und/oder mit Migrationshintergrund - aufgrund bisheriger gesellschaftlicher Erfahrung - politischer Repräsentation eher grundsätzlich skeptisch gegenüber stehen. Bislang schlägt dieses Misstrauen in den Trabantenstädten zum Teil auch der Platzbesetzerbewegung entgegen.

In Paris hingegen ist es eher die Staatsmacht, die ihr zu schaffen macht. Seit Tagen häufen sich polizeiliche Provokationen, am Montag der abgelaufenen Woche schüttete die Bereitschaftspolizei CRS etwa einen Riesentopf mit Suppe aus der Essenausgabestelle - der "Kantine" - einfach in die Gosse.

Am Dienstagabend fiel auch die Straßenbeleuchtung auf dem und rund um den Platz zeitweilig völlig aus; das Pariser Rathaus behauptet allerdings, die Verdunkelung gehe auf eine Panne zurück. Die Staatsmacht möchte vor allem festere Aufbauen auf dem Platz wie die "Kantine", die Krankenstation oder die Lautsprecheranlage verhindern oder vertreiben. Der Parteichef der regierenden Sozialdemokratie Jean-Christophe Cambadélis erklärte, "um einen Rahmen zu wahren", brauche es "CRS debout", also wachende Bereitschaftspolizisten.

Die Besetzerinnen und Besetzer wollen dem widerstehen.