Freie Fahrt für Freie Wähler?

Wieder einmal nimmt eine Basisbewegung Anlauf auf die große Politik - Werden bald kommunale Wählergemeinschaften die Altparteien in die Enge treiben?

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Der ehrwürdige Saal mit den roten Tapeten und den Kronleuchtern im dänischen Hotel Borgerforeningen im Zentrum Flensburgs ist voll besetzt. Ergraute Herren im dunklen knitterfreien Anzug nebst Krawatte proben den Aufstand gegen das Polit-Establishment. Hier konstituiert sich nämlich am Samstag, dem 11. Oktober der Dachverband der Freien Wählergemeinschaften für das kleine Bundesland Schleswig-Holstein. Zugleich soll sich der neue schleswig-holsteinische Dachverband FW-SH dem Bundesverband Freie Wähler (FW) unterstellen. Dessen Vorsitzender und Vaterfigur Armin Grein versucht mit leicht grippal angegriffener Stimme die zornigen Graubärte zu einer raschen Abwicklung der Satzung zu bringen. Die geheime Wahl des ersten Vorsitzenden der FW-SH verschlingt wertvolle Zeit.

Wir sind in der Tat in Deutschland. Und der Geburtsschrei einer politischen Organisation besteht hierzulande immer in der Formulierung einer Satzung. Und obwohl die Spannung knistert, herrscht in diesem nordischen Festsaal keine Euphorie, wie sie bei der Gründung der WASG zu spüren war. Der Ton ist eher geprägt von Besserwisserei („Wer sich unseren Satzungsentwurf überhaupt einmal zu Gemüte geführt hätte, dem hätte unschwer sofort auffallen müssen ...“) und angestrengter Deeskalation. Wie sagte Armin Grein in seiner Rede vor den Delegierten: „Der Freie Wähler an sich ist ein eher organisationsskeptisches, frei und manchmal auch quer denkendes politisches Individuum, alles andere als ein uniformer Parteisoldat.“

Keine Frage. Die Freien Wählergemeinschaften verspüren jetzt einen enormen Auftrieb. Dabei gibt es die Gemeinschaften von parteilosen Bürgern, die sich in den Gemeinderäten und Kreistagen für Greifbares wie z.B. neue Schulbauten oder Schwimmbäder, Verordnungen für die Schnitthöhe von Gartenhecken einsetzen, schon seit über 60 Jahren. Im Laufe der Jahrzehnte ging es immer wieder auf und ab. Die Trennlinie zu den etablierten Bundesparteien war nicht immer scharf gezogen: in manchen kommunalen Wählergemeinschaften gaben durchaus Mitglieder von CDU, FDP oder SPD den Ton an. Die Überzeugungen der Freien Wähler unterschieden sich nicht im Grundsatz von denen der Parteien. Der sozialstaatliche Common Sense wurde von den Wählergemeinschaften lediglich vor Ort in einem etwas anderen politischen Akzent vermittelt als in Bonn oder später in Berlin. Alles in Allem rochen die Wählergemeinschaften lange Zeit vor allem bieder und konservativ.

Aufstand der Kommunalpolitik

Doch das hat sich mittlerweile geändert. Die marktradikale Ideologie, die durch neoliberale Netzwerke in sämtliche Parteien gesickert ist, wurde in konkrete politische Beschlüsse gegossen. Immer mehr Aufgaben wurden den Kommunen aufgedonnert, ohne dass Bund oder Länder entsprechende Geldmittel an die Kommunen heruntergereicht hätten. Bund und Länder haben für sich selber die einträglichen und vor allem zuverlässigen Steuerarten reserviert, wie z.B. Tabak-, Alkohol- oder Mineralölsteuer – während die Kommunen ihren Etat aus unzuverlässigen Quellen wie der Gewerbesteuer auffüllen müssen. Die Kommunen sind deshalb pleite, und als ewiges Mantra wird ihnen der Rat erteilt, möglichst alle kommunalen Aufgaben privaten Dienstleistern wie Bertelsmanns Arvato zu überlassen. Und dann ist da der Sachzwang, kommunales Tafelsilber für 'nen Appel und ein Ei zu verkaufen, um überhaupt noch einen Etat für das nächste Jahr aufstellen zu können. Anderenfalls droht die Zwangsverwaltung der Kommune von weiter oben in der Hierarchie.

Und da es noch Kommunalpolitiker gibt, die die Kommunalpolitik nicht in erster Linie als erste Stufe ihrer Karriereleiter zur Landes- und Bundesebene sehen, ist zunächst der Leidensdruck der überzeugten Kommunalpolitiker angeschwollen. Immer mehr Kommunalpolitiker nehmen wahr, dass ihre Interessen den Interessen der Parteipolitiker diametral entgegengesetzt sind, wie es der Hubert Aiwanger, Landesvorsitzender der bayrischen Freien Wähler, in Flensburg auf den Punkt bringt:

Den derzeitig agierenden Parteien unterstellen wir doch zu einem gewissen Anteil, nicht mehr völlig frei für die Bürger zu arbeiten, sondern Lobbyisten zu bedienen, oder die Unabhängigkeit verloren zu haben.

Und so ändert sich zwangsläufig, in Reaktion auf den Druck von Bundes- und Landespolitik, großdimensioniert und renditefreundlich anstatt klein und bürgernah zu arbeiten, die politische Grundposition der Freien Wähler. Im Flensburger Borgerforeningen wird der Widerstand vor allem der 50- bis 70-Jährigen sichtbar. Jahrzehntelang haben sie das Konsens- und Kompromisssystem mitgetragen. Jetzt suchen sie nach neuen Wegen, denn sie machen sich ernste Sorgen um das Funktionieren der Zivilgesellschaft. Und die Wähler teilen ihre Sorgen. Das zeigt sich am hervorragenden Abschneiden der Freien Wähler bei der bayrischen Landtagswahl. Und in Flensburg versammelt man sich nicht zuletzt, weil hier die Wählerinitiative Wir in Flensburg (WiF) bei der letzten Kommunalwahl aus dem Stand stärkste Fraktion in der Ratsversammlung geworden ist und jetzt mit dem 32-jährigen Tai-Chi-Lehrer Christian Dewanger den Stadtpräsidenten stellt und den Vorsitz im entscheidenden Hauptausschuss innehat.

Die WiF ist eine Freie Wählergruppe neuen Typs. Die großen Medien verkennen die Situation, wenn sie meinen, die WiF sei lediglich eine Protestpartei. Tatsächlich jedoch positioniert sich die Flensburger Wählergruppe sehr bewusst und auf hohem Reflexionsniveau gegen Privatisierungswahn und Gigantomanie, und bezieht sehr planvoll und interaktiv die Menschen in den Stadtteilen in ihre Arbeit ein. Und da die WiF-Leute erkannt haben, dass ihre eigene Reichweite an der Stadtgrenze endet, die von „Investoren“ eingeschleusten Gelder jedoch global agieren, ging die Initiative zur Gründung eines Dachverbandes kommunaler Wählerinitiativen in Schleswig-Holstein von der den Flensburgern aus. Wo früher Kommunale Wählergruppen nicht um den Bestand der Grundfesten ihrer Arbeit in den Gemeinden fürchten mussten und sie deswegen auch keinen Bedarf sahen, sich überregional zu vernetzen, führt die Dynamik der Privatisierungs- und Kapitalisierungswellen nun zu einer raschen Vernetzung der örtlich begrenzten Wählerinitiativen.

Überschaubare Strukturen vor Ort

So waren in Bayern im Jahre 1978 gerade mal 40 Freie Wählergruppen im Landesverband vertreten. Heute sind es allein in Bayern über 900 – Tendenz steigend. Und so nimmt es Bundesvorsitzender Armin Grein mit Gelassenheit, dass von den zahlreichen Wählergruppen gerade mal 40 Delegierte nach Flensburg gekommen sind: „Das kann man ja nun nicht wie ein Mufti verordnen. Da hilft nur geduldige Überzeugungsarbeit.“ Mittlerweile gibt es Dachverbände der Freien Wählergruppen in allen Bundesländern, außer in Hamburg und Berlin, was Grein als Strukturmerkmal ansieht: „In den Stadtstaaten dominieren nicht Personen die politische Szene, sondern Parteien.“

Das Treffen der Freien Wählergruppen in Flensburg litt daran, dass die Macher sich zu viel auf einmal vorgenommen hatten. Anstatt sich zunächst einmal darauf zu konzentrieren, funktionstüchtige landesweite Dachverbände zu schmieden, überlud man sich noch gleichzeitig mit der Frage, ob man als politische Partei bei Landtags-, Bundestags- oder sogar bei der Wahl zum Europaparlament antreten sollte. Wenngleich das nicht ausdrücklich die Aufgabe dieses Treffens war, schwang dieser neue Gedanke doch überall mit rein und sorgte nach außen hin für Verwirrung. Tatsächlich sind die Landesverbände tief gespalten in der Frage, ob man den Altparteien in den Parlamenten Konkurrenz machen soll. Heinz Kälberer lehnt für seinen Landesverband Baden-Württemberg jede parteipolitische Betätigung der Freien Wähler ab. Und in Bayern ist etwa ein Viertel der Verbandsmitglieder aktiv in der Parteiorganisation, die jetzt eine Fraktion im bayrischen Landtag stellt und sogar bereits Koalitionsverhandlungen mit der CSU geführt hatte. Grundsätzlich könnte es Sinn machen, auf Landesebene vertreten zu sein, um das Abwälzen unangenehmer Aufgaben auf die politisch schwachen Kommunen zu verhindern. Fragt sich nur, ob die Freien Wähler sich nicht zum jetzigen Zeitpunkt mit dieser Aufgabe übernehmen und die Mitglieder nicht einer unnötigen Zerreißprobe aussetzen.

Die Freien Wählergruppen bekommen jetzt mehr Aufnahmeanträge zugeschickt, als sie bewältigen können. Die Altparteien stecken bekanntlich in einer Talsohle. Selbst ein Horst Seehofer kann in bayrischen Bierzelten keine Euphorie mehr erzeugen, wie er dem Stern neulich anvertraute. Die Leute stehen den kompromittierten Politikern reserviert gegenüber, und diese Lücke füllen die greifbaren Politiker aus der Nachbarschaft jetzt aus. Der Finanzcrash hat den Rest besorgt.

Kommunalpolitik gegen Neoliberalismus

Doch sind denn die Freien Wähler überhaupt gewappnet, um den geistigen Bankrott des Neoliberalismus zu realisieren und neue Strategien und Politikansätze zu entwickeln? So wie es 1933 Franklin Delano Roosevelt in den Vereinigten Staaten mit seinem Braintrust geschafft hat? Reicht es aus, gegen den „Neoliberalismus“ zu sein und auf Defensive zu schalten? Es gibt heute in den westlichen Ländern fein gesponnene Netze marktradikaler Seilschaften, die allüberall das ewige Mantra aussenden, der Markt werde alles richten, und der Staat müsse sich auf Nachtwächteraufgaben beschränken. Bis auf ganz wenige Einrichtungen wie z.B. die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung oder Attac, gibt es kaum Denkwerkstätten, die an der Seite der Freien Wähler tragfähige Konzepte der Konnexität, der Rekommunalisierung von städtischen Betrieben, der Stärkung und dem Neuaufbau von Genossenschaften oder der massiven Unterstützung von Sparkassen als Garanten einer bedarfsorientierten Wirtschaftsweise unterstützen könnten.

Hubert Aiwanger reagiert auf meine diesbezügliche Frage allergisch, denn man hat von Think Tanks und „Experten“ in den Kommunen zunächst einmal den Kanal voll:

Da braucht man keine Wissenschaftler. Jahrzehntelang hat es eine falsche Politik gegeben, und jetzt sehen sich die Freien Wähler bestätigt ... Die Sparkassen stehen vielleicht kurz vor dem Kollaps, weil sie an die Wand spekuliert worden sind usw. Bestätigt eigentlich unsere Politik: überschaubare Strukturen vor Ort, wo sich der Bürger sicher fühlen kann. Wo sich der Bürger mit einbringen kann und nicht irgendwelche weit entfernten Investmentgruppen, die uns nachher bestimmen, ob wir den Boden vor unseren Füßen noch selber betreten dürfen oder nicht. Hier findet sich die Basisdemokratie wieder ... Also dazu brauch ich keine Wissenschaftler und keine Experten. Wenn der gesunde Menschenverstand vorhanden ist dann bringen wir das schon auf die Reihe.

Gesunder Menschenverstand in Ehren. Aber ein bisschen mehr Arbeit, um die omnipräsente Diskurshoheit der Neoliberalen zu brechen, braucht es schon. Bernd Gerber vom Landesvorstand der Freien Wähler in Sachsen veranstaltet deswegen in seiner Heimatgemeinde Werdau immer wieder Schulungswochenenden zu Schwerpunktthemen einer unabhängigen Kommunalpolitik. Und der Flensburger WiF steht ein parteiunabhängiger Arbeitskreis Kommunalpolitik (Akopol) nahe, in dem unabhängig von Tagesgeschäften über langfristige Politikansätze nachgedacht wird.

Es gibt Einflüsse von außen, die das Selbstverständnis der Freien Wähler in bestimmte Richtungen drängen könnten: die Medien. Das wurde bei der amateurhaft aufgezogenen Pressekonferenz im Borgerforeningen eindrucksvoll vorgeführt. Die anwesenden Presseleute von öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten und die Herren und Damen von angesehenen Tageszeitungen und Nachrichtenmagazinen interessierten sich ausschließlich für ein Thema, das hier gar nicht im Vordergrund stand: werden die Freien Wähler zur nächsten Bundestagswahl antreten? Zu Landtagswahlen? Gar zu Europawahlen? Der Vertreter einer Zeitung, hinter der immer ein kluger Kopf steckt, wollte unablässig wissen, ob die Freien Wähler bei der Europawahl antreten werden. Genervt wiederholten die anwesenden Vertreter der Freien Wähler, dieses stünde momentan nicht auf der Tagesordnung. Und so erfährt der Leser aus der Online-Ausgabe jener Zeitung vornehmlich, dass sich der Delegierte Heinz Kälberer aus Baden-Württemberg energisch gegen eine Teilnahme an der Bundestagswahl sträubt.

Andere Medienleute sahen in dem Treffen der Freien Wähler nur die Option, dass nun wohl bald neue Gesichter in den Talkshows erscheinen werden. Als der frisch gekürte Landesvorsitzende des neugebildeten Dachverbandes der Freien Wähler in Schleswig-Holstein, Helmut Andresen, zur Pressekonferenz stieß, war die Pressefrage: „Herr Andresen, wie alt sind Sie?“ Andresen: „Eine Frau fragt man ja auch nicht nach ihrem Alter.“ Nun, wir werden in den nächsten Tagen sicher noch erfahren, dass Helmut Andresen 56 Jahre alt ist, drei Kinder hat und Ferienwohnungen in seinem entzückenden Heimatdörfchen Grödersby vermietet.