Fridays for Future: Perspektiven in Zeiten der Pandemie
- Fridays for Future: Perspektiven in Zeiten der Pandemie
- Veränderung von Strukturen – Möglichkeiten von Menschen
- Wie kann F4F die Corona-Zeiten als Bewegung überstehen?
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Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag und der Diskussion mit den Klima-Aktivisten*innen von Fridays for Future (F4F) im Januar 2021, den ich auf Einladung zu einem bundesweiten F4F-Strategiekongress als Mitglied der Scientists for Future sowie als Politikwissenschaftler, der sich mit der Rolle gesellschaftlicher Protestbewegungen befasst hat1, gehalten habe.
Zur Aufgabenstellung des Diskussionsimpulses: Vor allem Veränderung
In einem Vorgespräch wurde ich von der Vertretern*innen der bundesweiten F4F-Strategie-AG gebeten, auf folgende Fragen in meinem Vortrag einzugehen:
- Was ist die treibende Kraft einer gesellschaftlichen Veränderung? Welche theoretischen Ansätze gibt es hierfür?
- Wie kann F4F von erfolgreichen sozialen Bewegungen der Vergangenheit lernen und einen wirksamen Einfluss auf Gegenwart und Zukunft nehmen?
- Was könnten die Kriterien für inhaltliche und strategische Ziele für F4F für das neue Jahr 2021 (und darüber hinaus) sein, die zu einer Veränderung der Klimapolitik führen können?
Im vorliegenden Text gehe ich auf diese Fragen ausführlicher ein, als mir dies während des Vortrags möglich gewesen ist.
Was ist die treibende Kraft einer gesellschaftlichen Veränderung?
Gesellschaftliche Veränderung soll begrifflich mit sozialem Wandel gleichgesetzt werden. Es sollen aus der Vielzahl der theoretischen Ansätze drei Theorien des sozialen Wandels unter der Perspektive ausgewählt und skizziert werden, wie gesellschaftliche Veränderung aus unterschiedlichen Blickwinkeln zustande kommt. Obwohl es sehr schwierig ist, derart komplexe und umfangreiche Theorien zusammenfassend darzustellen, möchte ich dennoch versuchen, ihren theoretischen Kern zu bestimmen. Die ausgewählten Theorieansätze sind m.E. die drei hauptsächlichen Theorierichtungen, die wiederum zahlreiche andere Theorien beeinflusst haben.
Marxistische Theorie: Die insbesondere durch Marx/Engels entwickelte Theorierichtung geht davon aus, dass die Technikentwicklung und die technischen Fähigkeiten nach gesellschaftlichen Verhältnissen verlangen, die der Entwicklung der Produktivkräfte entsprechen müssten. So verlange z.B. im Kapitalismus die ungeheure Produktivität von Maschinen und Arbeitskräften danach, von dem Warencharakter der Produkte, den privaten Eigentumsverhältnissen, der Mehrwertabschöpfung entbunden und auch von staatlichen Organen befreit zu werden, die dies mit Gesetzen und Kontrollen absichern. Es müsse hingegen alles produziert werden, was die Menschen brauchen, ohne darauf zu achten, dass sich etwas als Ware verkaufen, zur Mehrwertgenerierung, privaten Gewinnentnahme der Besitzenden und zur Kapitalaneignung verwenden lasse.
Dieser Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der diese bremsenden Produktionsverhältnisse führe zu einer Zuspitzung des Klassenkampfes im Kapitalismus. Die Träger der historischen Veränderung zu einem System höherer Ordnung seien die Arbeiter, im Jargon von Marx/ Engels: das Proletariat, das die Bourgeoisie in einer disruptiven Entwicklungsphase (Revolution) letztendlich bezwingen würde. Der Einsatz von Gewalt werde hier nicht ausgeschlossen, sondern ist eher wahrscheinlich, da die Bourgeoisie ihre Privilegien nicht freiwillig abgebe. Das gesellschaftliche Ziel sei, über den sozialistischen Übergang einer Diktatur des Proletariats zu einer klassenlosen Gesellschaft zu gelangen: dem Kommunismus.2
Modernisierungstheorie: Modernisierungstheoretische Ansätze sehen ebenfalls die Technikentwicklung als den Motor gesellschaftlicher Entwicklung an und ordnen sie verschiedenen Stadien wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung zu. Insbesondere die Ansicht, dass sich Gesellschaften in Entwicklungsstadien vom niedrigeren zum höheren Niveau entwickeln würden, ist ein gemeinsames Merkmal marxistischer und modernisierungstheoretischer Ansätze.
Aber Modernisierungstheoretiker fügen dies in eine andere historische Erzählung und in eine andere gesellschaftliche Entwicklungslogik im Unterschied zur marxistischen Geschichtsauffassung des historischen Materialismus ein. Die Modernisierung der Technik im Rahmen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses über Bildungsprozesse, Wertschätzung des Leistungsgedankens, über das Engagement tatkräftiger Männer (!) und sich entwickelnde Verwaltungsstrukturen würden zu einer sich verstärkenden Fähigkeit zur Akkumulation von Investitionskapital und zu mutigeren Investitionsentscheidungen führen. Diese Entscheidungen seien die volkswirtschaftliche Grundlage für ein verstärktes Wirtschaftswachstum, was wiederum zu einer erhöhten Kapitalakkumulation führe.
Ab einer bestimmten Investitionsquote gelinge der Übergang in die nächste und qualitativ höhere Entwicklungsphase einer Gesellschaft. Das Wirtschaftswachstum beruhe des Weiteren auf einer effizienten Ausbeutung natürlicher Ressourcen, so dass sich eine Gesellschaft durch verschiedene Entwicklungsstadien hinweg in Richtung auf eine Gesellschaftformation nach dem westlichen Vorbild einer hochindustrialisierten Industriegesellschaft mit modernisierten staatlichen Verwaltungsstrukturen weiterentwickeln könne.
In der Regel gelänge die Veränderung über Reformen ohne den Einsatz von Gewalt, da die Menschen die nächste Entwicklungsphase aufgrund deren verbesserten Produktions- und Konsumtionsmöglichkeiten von sich aus anstreben würden. Die Träger der Entwicklung hin zum Kapitalismus moderner Prägung seien innovative und leistungsbereite Unternehmer und die damit kooperierende technisch-wissenschaftliche Intelligenz, welche die Zeichen der Zeit zur Veränderung erkannt hätten und hierfür die notwendigen Kompetenzen besäßen.3
Theorie der nachhaltigen Entwicklung: Die Klimagase erzeugende und giftige Abfälle produzierende Technikentwicklung, das mit der Technikentwicklung verbundene Wirtschaftswachstums, die imperiale Lebensweise der Menschen4 und deren problematische Folgen zerstören die Regenerationsfähigkeit des Planeten. Die ökologische Destruktion aber wiederum führe zu intra- und intergenerativer Ungerechtigkeit und zu gesellschaftlichem Widerstand hiervon betroffener Gruppen. Die drohende Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und insbesondere die bereits eintretende Klimakrise schaffen über die damit verbundenen Realängste die Motivation und die Kraft zur gesellschaftlichen Veränderung im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung. Das gesellschaftliche Ziel nachhaltiger Entwicklung ist: Die aktuellen Generationen sollen ihre Grundbedürfnisse erfüllen können, aber sie sollen so mit den planetaren Ressourcen umgehen, dass die nächsten Generationen ebenfalls sicher und auskömmlich leben können. Hierzu müssten mehrere Sektoren gesellschaftlicher Entwicklung betrachtet und auch miteinander in Verbindung gebracht werden. Ökonomische, ökologische, politische und kulturelle Entwicklung stehen in einen Zusammenhang und beeinflussen sich gegenseitig.
Wenn die aufgrund der vorherrschenden Fossilindustrie ausgelöste übermäßige Emission von Klimagasen zur Klimaerhitzung führt, hat dies massive Folgen in vielerlei Hinsicht. Die Klimaerwärmung führt zu Dürren, Hitzewellen, in anderen Breitengraden zu verheerenden Stürmen, woanders wiederum zu massiven Regenfällen und Überschwemmungen. Hierdurch werden Häuser, Fabriken und Felder, d.h. die Lebensgrundlagen, in den betroffenen Regionen zerstört. Wenn aber die Lebensbedingungen in einer Region zerstört werden, kommt es zu Massenmigration, zu Verdrängungs- und Ressourcenkonflikten in anderen Regionen. Die Mehrzahl der dort lebenden Menschen besteht auf Einheimischenvorrechten, Rassismus und Rechtsextremismus sind die Folgen.
Die Kosten der Klimazerstörung aufgrund des systemimmanenten ungebremsten Wachstumsdenkens übersteigen um ein Vielfaches die Kosten einer vernünftigen Klimaprävention. Auch könnten sich nur die reichen Länder des globalen Nordens Dämme, Befestigungen, stabile Häuser und militärisch abgesicherten Grenzschutz leisten.
So sei im Gegensatz hierzu eine die planetare Ökologie schonende Postwachstumsgesellschaft erstrebenswert, in der die natürlichen Ressourcen genügsam beansprucht, die planetare Resilienz nicht überfordert werde und die Konsumtionsbedürfnisse im Sinne von Suffizienz zurückgefahren werden müssten. Eine gemeinwohlorientierte Ökonomie beinhalte einen nachhaltigen Umgang mit den natürlichen Ressourcen. Bildungsprozesse seien verstärkt als eine Bildung für nachhaltige Entwicklung zu konzipieren.
Die hierfür notwendige systemische Veränderung müsse über eine schrittweise sozialökologische Transformation erfolgen, deren zeitliche Dynamik allerdings aufgrund der aktuellen Entwicklung, insbesondere der bereits eintretenden Klimakrise, unter massivem Druck stehe. Die Transformation müsse sowohl auf der lokalen und der überregionalen Ebene erfolgen, da die Probleme einerseits global auftreten aber auch in den lokalen Kontext hineinwirken. Die Trägerin einer derartigen Transformation ist die sozialökologisch orientierte Zivilbevölkerung und ihre institutionellen Kooperationspartner*innen, die sich örtlich, regional und global vernetzen und gemeinsam entsprechenden politischen Druck auf die Entscheidungsträger auf allen Ebenen ausüben.5
Von diesen drei ausgewählten theoretischen Richtungen, die wiederum ideengebend für zahlreiche weitere Theorien sozialen Wandels sind, scheint mir die Theorie nachhaltiger Entwicklung als besonders geeignet für die Beantwortung der Frage nach dem sozialökologischen Wandel, da sie als Einzige die ökologische Thematik in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen nimmt. Auch werden hier ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Dimensionen thematisiert und miteinander verknüpft, so dass sich hieraus ganzheitliche Handlungsstrategien entwickeln lassen können.6
Hinzu kommt, dass die gesellschaftliche Utopie des Marxismus angesichts der historischen Entwicklungen und auch der gedanklichen Engführung als gesellschaftliche Leitvorstellung ausfällt. Zwar finden sich hier immer wieder einige Passagen einer auch heute noch zutreffenden Kapitalismuskritik. Aber allein der Gedanke, über eine Diktatur des Proletariats, also einer die demokratischen Freiheitsrechte extrem einschränkenden Gesellschaftsphase, zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit kommen zu wollen, ist abwegig und historisch mit den verschiedenen Versionen marxistisch inspirierter Diktaturen und deren Millionen Menschenopfer vielfach widerlegt. Gewalt provoziert Gegengewalt. Über Gewalt lässt sich keine gewaltlose Gesellschaft erreichen. Diktaturen und ihre Herrscher geben - auch in einer sozialistischen Diktatur - nicht freiwillig ihre Macht ab. Den Weg über eine Diktatur des Proletariats zu Freiheit, Solidarität und Demokratie wählen zu wollen ist daher absurd.
Auch die modernisierungstheoretischen Ansätze sind abwegig und natürlich auch in ideologischer Absicht konstruiert. Gesellschaftliche Entwicklung verläuft nur selten planmäßig im Sinne einer festgelegten Folge von Wachstumsstadien. Die moderne westliche Gesellschaft als unhinterfragtes Vorbild zu nehmen, übersieht zahlreiche Systemfehler, wie z.B. die Ausbeutung der Natur, die Einkommensschere und die damit verbundene soziale Ungerechtigkeit, sowie die Aktivitäten eines profitorientierten militärisch-industriellen Komplexes und seines Kriege provozierenden Einflusses. Insbesondere das gewollte Übersehen der ökologischen Folgen ungebremsten Wirtschaftswachstums angesichts einer bald die acht Milliardengrenze erreichenden globalen Bevölkerungszahl zeigt die Ungeeignetheit dieses Theorieansatzes zur Begründung und Perspektivierung des Selbstverständnisses einer sozialökologischen Bewegung.
Aus der – sicherlich sehr knappen – Abwägung dieser Theorieansätze möchte ich der klimapolitischen Bewegung von Fridays for Future die Theorie der Nachhaltigkeit als theoretischen Bezugsrahmen für die Analyse des gesellschaftlichen Ist-Zustands und für die Entwicklung geeigneter, also wirksamer, Strategien sozialökologischen Wandels nahelegen.
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