Frieden durch Weltkrieg?

Alles weg – Putin weg! Problem gelöst? Symbolbild: DeSa81 auf Pixabay (Public Domain)

Wenn Schicksalsgemeinschaften aufeinanderprallen: Warum die Atomkriegsgefahr steigt, wenn der Gegner gedemütigt werden soll – und wie Putin sich selbst und sein Land sieht.

Putin sei "überzeugt, dass die USA darauf aus seien, Russland nicht nur zu besiegen, sondern es als Großmachtrivalen ganz zu eliminieren", erklärte am 11. Oktober George Beebe, früherer CIA-Abteilungsleiter für Russland.

Das wäre ohne einen atomaren Weltkrieg kaum zu haben. Herbert Hochheimer, Mitglied der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) kritisierte in der taz die deutsche Beteiligung an diesem Kriegsprogramm: "Sehr schade, dass von Deutschland trotz grüner Regierungsbeteiligung keine Tendenz zur Abkoppelung von der mörderischen geopolitischen Konkurrenz zu erwarten ist, sondern täglich unaufgefordert glühende Bekenntnisse zur US-geführten Weltordnung."

Dagegen meinte der Ukraine-Freund und Buchautor ("111 Gründe, die Ukraine zu lieben") Christoph Brumme am 20. Oktober 2022:

Man darf keine Angst haben vor dem Feind, man muss ihn bekämpfen. ... Ach ja ... die Drohung mit den Atomwaffen. Der Westen hat auch Atomwaffen. Dann wären Herr Putin und seine Leute im nächsten Moment auch tot.


Christoph Brumme

Also Frieden durch Weltkrieg?

Die Alternative wäre, was John F. Kennedy als wichtigste Lektion aus der Kubakrise zog:

Dass die Führer von Nuklearmächten sich nicht gegenseitig in die Lage bringen dürfen, dass es nur noch die Wahl zwischen Demütigung und Atomkrieg gibt. Die heutige Generation von Politikern glaube aber, militärische Auseinandersetzungen gewinnen zu können und dass nukleare Supermächte wie Russland besiegt werden könnten.


George Beebe über die Erkenntnis John F. Kennedys

In der Kubakrise, dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, zog bekanntlich die Sowjetunion ihre Raketen von Kuba ab, nachdem die Kennedys in Geheimverhandlungen dem sowjetischen Botschafter Anatoli Dobrynin versicherten, ihre Raketenbasen in der Türkei abzubauen.

Im Aufruf zu den Demonstrationen am Samstag, 19. November "Stoppt das Töten in der Ukraine – Aufrüstung ist nicht die Lösung!" heißt es:

Wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand mit einem Rückzug des russischen Militärs aus der Ukraine. Es braucht Friedensverhandlungen.


Aufruf "Stoppt das Töten in der Ukraine – Aufrüstung ist nicht die Lösung!"

Okay, aber wie könnten solche Friedensverhandlungen aussehen, dass sie den Despoten Putin und sein Regime nicht als gedemütigten Verlierer dastehen lassen? Mindestens müssten sie wohl eine Neutralität der Ukraine beinhalten. Die wurde schon in den russisch-ukrainischen Gesprächen ab dem 29. März 2022 in Istanbul kontrovers verhandelt – bis Boris Johnson am 9. April von Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew verlangte, die Verhandlungen mit Russland abzubrechen und "keine Zugeständnisse an Putin zu machen".

Trost für die beleidigte russische Seele

"Was will Putin?" fragte der konservative Journalist, Focus- (und frühere Spiegel-) Kolumnist Jan Fleischhauer schon vier Tage nach Russlands Einmarsch in die Ukraine in seinem "Schwarzen Kanal" Nein, Putin müsse sich nicht gegen eine Umzingelung durch die Nato wehren, meint Fleischhauer. Russland werde weder bedroht noch sei es umzingelt:

Die Stellen, an denen sich Russland und die Nato berühren, machen gerade mal sechs Prozent der russischen Grenze aus. Wie soll man auch ein Land einkreisen, das elf Zeitzonen umfasst und von der Ostsee bis nach China reicht? Aber wie das so ist mit Wahnideen, da hilft ein Blick auf die Realität nur bedingt.


Jan Fleischhauer

Putin wehre sich stattdessen gegen einen Verfall russischer Werte durch westlichen Kulturimperialismus. Putin sagt, der Mensch in der russischen Welt denke vor allem anderen an seine moralische Verpflichtung, an eine "höchste moralische Wahrheit". Im Gegensatz dazu stehe der Westen mit seiner Fixierung auf Erfolg und Wohlstand.

Es ist also ein ideologischer Kampf, den Russland aus Sicht seines Präsidenten kämpft: gegen die Oberflächlichkeit des Materialismus, gegen den Verfall der Werte, gegen die Verweiblichung und Verweichlichung der Gesellschaft, die mit der Auflösung traditioneller Bindungen einhergeht, kurz: gegen alles Unrussische.

Übrigens: Bei den Freiheitsfeinden am rechten Rand hat man sofort verstanden, dass Putin ihre Zwangsvorstellungen und Ressentiments teilt. Deshalb stehen sie auch in dieser Stunde treu an seiner Seite.

Putins Kampf "gegen alles Unrussische" klingt verrückt, ist aber vielleicht geeignet, der "erniedrigten und beleidigten" russischen Seele (Swetlana Alexijewitsch) Trost zu spenden. Dass viele Russen sich als am Krieg Unbeteiligte sehen oder gar Kriegsunterstützer sind ("Lasst uns die Ukraine zerschlagen und eine neue Ordnung errichten!"), liegt ja nicht nur an der massiven staatlichen Repression mit mehr als 16.000 Verhaftungen. Viele genießen nach dem traumatischen Ende der Sowjetunion Putins Stabilität, einen wesentlich höheren Lebensstandard und ein dreimal so hohes Durchschnittseinkommen wie in der Ukraine.

Schicksalsgemeinschaft und Liebe zur Nation

Am 30. September begründete Wladimir Putin die "völkerrechtswidrigen Angliederungen" (tagesschau.de) in einer "Brandrede gegen den Westen" so:

Hinter der Entscheidung von Millionen Bewohnern der Volksrepubliken (…) steht unser gemeinsames Schicksal und unsere tausendjährige Geschichte. Dieses geistige Band haben die Menschen ihren Kindern und Enkeln weitergegeben. Allen Versuchungen und Prüfungen zum Trotz haben sie die Liebe zu Russland über die Jahre getragen. (…) Es gibt nichts Stärkeres als den Willen dieser Menschen, in ihr eigentliches, historisches Vaterland zurückzukehren.


Wladimir Putin

Der Westen habe beim Zerfall der Sowjetunion entschieden, die Welt mit seiner Diktatur zu überziehen. Russlands Entwicklung und seine Kultur werde als Bedrohung angesehen. Russland werde aber seine Werte, die auf orthodoxem Christentum, Judentum und Islam beruhten, und "sein Territorium verteidigen".

Ist Putin also ein Werteverteidiger? Dann könnte er sich – sarkastisch gesehen – vielleicht gut mit unseren eigenen regierenden Werteverteidigern bei einem Gläschen Wodka über allseitigen Werteverfall und Coca-Cola-McDoof-US-Kulturimperialismus unterhalten.

Selenskyj und "seine" Ukrainer können sich natürlich nicht damit abfinden, dass Putin "seine" Volksrepublikaner von der ukrainischen in die russische Schicksalsgemeinschaft überführt hat.

Und "wir" , die Ganz-Europa-ohne-Russland–Wertegemeinschaft, können diese Überführung, so sagen unsere Politiker & Medien, auch nicht akzeptieren. Und die Ganze-Welt-ohne-die-Achse-des-Bösen–US-Amerikaner können das schon gar nicht.

Dumm gelaufen, wenn so viel Liebe und Patriotismus aufeinanderprallen.