Frieden im Niemandsland

"Den Namenlosen 1914". Gemälde von Albin Egger-Lienz, 1916. Foto: Pappenheim

Ein Buch über die Minderheit der christlichen Friedensbotschafter im Ersten Weltkrieg, Kirche & Weltkrieg (Teil 4)

Die großen Kirchen in Deutschland folgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts einem nationalen, staatskirchlichen Paradigma und unterstützten mit ihrer "geistlichen Assistenz" das militärische Massenmorden 1914 bis 1918. Erschütternd ist es, wie blind und willig - ja geradezu manisch - sich die nationalkirchlichen Komplexe unter Anstiftung ihrer geistlichen Leitungen auf das Schlachtfeld begaben.

Hätte man - eingedenk des vom Hohenzollernkaiser 1900 befohlenen Abschlachtens in China und des vom deutschen Kolonialregime in Deutsch-Südwestafrika begangenen Völkermords an bis zu 100.000 Herero und Nama (1904-1908) - nicht wissen können, wie es um die "Sittlichkeit" des zu Vernichtungspolitik bereiten, von der dunkelsten Seite des Preußentums durchdrungenen Staatswesens bestellt war?

Missionare, Militärgeistliche, christliche Politiker und Abonnenten nonkonformer Presseerzeugnisse gehörten jedenfalls zu den Informierten. Schon 1912 war auch ein Roman des Reformpädagogen Wilhelm Lamszus (1881-1965) erschienen, der die Hölle des hochtechnisierten Gemetzels 1914-1918 in einer leider nur allzu realistischen Weise "vorwegnahm". Die Staatstheologen gehörten in der Regel wohl kaum zur Leserschaft eines solchen Werkes.

Europäische Pazifist:innen, als Utopisten und Träumer ohne Wirklichkeitssinn angefeindet, hatten seit zwei Jahrzehnten angesichts von Militarismus und Aufrüstung vor einem großen Krieg gewarnt! Christliche Stimmen, eine Minderheit in der friedensbewegten Minderheit, waren beteiligt. Sie setzten am Vorabend des Ersten Weltkrieges auf eine völkerübergreifende Ökumene und entlarvten das kriegstrunkene Nationalkirchentum als Gotteslästerung.

Die Militärreligion blieb - bis zum bitteren Ende und darüber hinaus - übermächtig. Doch bisweilen kam es zu Unterbrechungen der Gewalt und zur Umkehr einiger Kriegsprediger. Von dieser nonkonformen Friedenschristenheit handelt der neue Band "Frieden im Niemandsland", der hier auf der Grundlage der Einleitung vorgestellt wird.

Ansage der Zeitzeugen

Die Tendenz der revisionistischen Formung des öffentlichen Geschichtsgedenkens in den Jahren 2014 bis 2018 war allzu offenkundig: Mehr folkloristisch gestaltet man die Ausstellung im Heimatmuseum. Preußischer Militarismus, deutsche Waffenproduktion und Rüstungspolitik, edierte Voten für eine aggressive Eroberungspolitik (Annexionismus) aus allen gesellschaftlichen Gruppen und "außerordentliche" Kriegsverbrechen (zunächst in Belgien) sollen nicht ins Scheinwerferlicht geraten.

Das Deutsche Reich habe sich 1914 lediglich im "Schlafwandel" befunden, genau so wie alle anderen europäischen Großmächte auch. (Die Nationalsozialisten muss man nach solcher "Entschärfung" des Ersten Weltkrieges nur noch von einem fremden Planeten in eine an sich gut funktionierende Weimarer Demokratie einfliegen lassen. "Hitler war's" - und der Antihitlerismus ist doch schon seit 1945 Staatsdoktrin. Somit spricht nichts dagegen, dass die Großmacht Deutschland heute wie alle anderen, die es können, ihre ökonomischen wie geostrategischen Interessen im Rahmen einer transformierten, den modernen Erfordernissen angepassten Militärdoktrin verfolgt.)

Wache Zeitzeugen des frühen 20. Jahrhunderts wie Hellmut von Gerlach (1866-1935) und Hermann Fernau (1883-1935), die in unserem Band sehr ausführlich "zu Wort" kommen, wussten mehr und anderes. Ihre Darlegungen sind mitnichten durch die geschichtspolitischen Projekte des letzten Jahrzehnts widerlegt.

Klassische Texte wie Heinrich Vogelers "Märchen vom lieben Gott" (1918), Erik Petersons "Christus des Garnisonspfarrers" (1919) und Kurt Tucholskys Rückblende zur Sichtweise des "Friedenspapstes" (1931) führen uns sodann zum eigentlichen Thema der ganzen Sammlung. Sie erinnern uns daran, dass die Gottesgelehrten noch immer die deutsche Kriegstheologie aufzuarbeiten hätten und sich nicht in den länderspezifischen Ästhetiken der Herz-Jesu-Verehrung 1914-1918 etc. etc. verlieren sollten.

Erster Weltkrieg und "Friedens-Bewegungen"

Einen umfangreichen Überblick über Friedensbemühungen in der Ökumene hat der Magdeburger Theologe Eberhard Bürger 2014 zum hundertjährigen "Jubiläum" der Anfänge des "Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen" erarbeitet und nachträglich durch erhellende Exkurse ergänzt.

Hier wird keineswegs suggeriert, die christlichen Friedensarbeiter:innen seien ein besonders wirkungsvoller oder gar der bedeutsamste Teil des pazifistischen Widerspruchs zur Zeit des Ersten Weltkrieges gewesen. In der Geschichtsschreibung Ludwig Quiddes zur deutschen Friedensbewegung 1914-1918 wird der Gründergeneration der deutschen Friedens-Ökumeniker:innen wohl mit Bedacht nur ein bescheidener Raum zugemessen.

Gleichwohl kann uns das Vermittelte noch immer in Staunen versetzen. Mit seiner Darstellung verbindet Eberhard Bürger als Mitglied des Versöhnungsbundes die Perspektive der Ökumenischen Versammlung 1988/89 in Dresden und Magdeburg, also die Betrachtungsweise der ersten nach zwei Weltkriegen vom staatskirchlichen Paradigma befreiten Kirchen in deutschen Landen. Das ist ein großer Glücksfall für unsere Unternehmung. Nach dem "Mauerfall" sicherte sich bekanntlich das weitaus finanzstärkere Kirchentum der alten BRD die Hegemonie. Das Versprechen - "Kirche des Friedens werden" - ist unter gesamtdeutschem Vorzeichen noch immer nicht eingelöst.

Thomas Nauerth beleuchtet einen zentralen Aspekt vieler friedensbewegter Biographien: "Der erste Weltkrieg als pazifistische Lebenswende."

Friedrich Siegmund-Schultze - Licht und Schatten

Dem prominentesten deutschen Friedens-Ökumeniker der Zeit ist eine eigene Abteilung gewidmet. Schon vor 1914 tritt der evangelische Theologe Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969) in der deutsch-britischen Freundschaftsarbeit der Kirchen hervor, die lange vor der "Julikrise" von der Notwendigkeit zeugt, drohenden Kriegsgefahren entgegenzutreten.

Sein Patenonkel - und wohl auch Mentor - ist ausgerechnet der "kaiserliche Hof- und Kriegsprediger" Ernst von Dryander (1843-1922). Gleichsam mitten in der Mobilmachung besiegelt Siegmund-Schultze mit potentiellen ‚Feinden‘ das kirchliche Freundschaftsbündnis - zunächst auf deutschem Boden! Die lichte Seite dieses Christen tritt in den Beiträgen von Thomas Nauerth und Johannes Weissinger hervor.

Doch es gibt den Schatten: Der Fetisch "Nation" übt Macht aus auch über diesen ausgewiesenen Vertreter der pazifistischen Minderheit im Protestantismus. Sein Text "Völkerschlachtdenkmal und Friedenspalast" (1913) markiert schon in der Überschrift die einander widerstreitenden Pole. Gerade auch nach Kriegsende verlagert sich der Schwerpunkt seiner Wortmeldungen im Kontext des "Kriegsschuld"-Diskurses hin zur nationalen Tendenz.

Über die späten Ergebnisse dieser Entwicklung teilt Pastor Hans Francke 1931 in der "Chronik der Menschheit" seine "schmerzliche Enttäuschung" mit. Hier geht es um einen Komplex, der bei der Zerschlagung der Weimarer Republik und der Vorbereitung des nächsten, wiederum kirchlich assistierten Weltkrieges zentral ist!

"Friedens-Pfarrer"

Bis zum letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ist insgesamt nur eine außerordentlich bescheidene Beteiligung von Menschen aus deutschen Landen an pazifistischen Unternehmungen zu konstatieren. (Ein wirklich auffälliges Defizit gerade in Deutschland!) Ab 1892 finden aber evangelische Theologen den Weg zur Deutschen Friedensgesellschaft (DFG). Herausragende Persönlichkeiten wie Otto Umfrid (1857-1920) und Ernst Böhme (1862-1941) werden in unserer Sammlung eingehender vorgestellt von Helmut Donat und Karlheinz Lipp.

Viele Namen von Pastoren - so aus Bremen Albert Kalthoff (1850-1906) und Emil Felden (1874-1959) - ließen sich noch über Beiträge zur lokalen "Geschichtsschreibung im Dienste des Friedens" erschließen. Allein 1907 treten etwa hundert evangelische Theologen nach einer entsprechenden Kampagne der Friedensgesellschaft bei, doch im folgenden Jahrzehnt fällt die Gesamtzahl der sogenannten "Friedenspfarrer" keineswegs viel höher aus.

Immerhin findet ein Friedensappell aus diesem Kreis Anfang 1913 rund 400 Unterschriften (mit bezeichnenden regionalen Schwerpunkten bzw. Unterschieden, insbesondere sehr geringer Beteiligung in "altpreußischen" Gebieten).

Im Einzelfall wird die "Bekehrung" eines Theologen beschrieben:

"1917 unterstützte der Berliner Pfarrer Karl Aner, der bis dato antipazifistisch eingestellt war, das Friedensmanifest des Papstes Benedikt XV. - für nicht wenige Protestanten ein Affront. In den folgenden Monaten entwickelte sich Aner zu einem wichtigen Friedenspfarrer. So trieb er (zusammen mit Martin Rade) die Centralstelle bzw. die ‚lose Vereinigung‘ evangelischer Friedensfreunde inhaltlich und organisatorisch voran."

"Papstfreundlich" in diesem Sinne zeigte sich ebenso der evangelische Pfarrer Paul Knapp (1879-1953), der 1918 in Ravensburg gar eine - nur kurz bestehende - Friedenspartei gründete.