Frieden in der Ukraine ist möglich: So könnte er aussehen
Der Krieg in der Ukraine ist ein äußerst gefährlicher Krieg zwischen atomaren Supermächten. Nun gibt es positive Signale aus Washington und Moskau für Verhandlungen. Die Fehler der Vergangenheit müssen korrigiert werden.
Es gibt einen neuen Hoffnungsschimmer für ein schnelles Ende des Krieges in der Ukraine im Zuge von Verhandlungen.
In seiner Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron erklärte Präsident Joe Biden:
Ich bin bereit, mit Herrn Putin zu sprechen, wenn er tatsächlich ein Interesse daran hat, einen Weg zur Beendigung des Krieges zu finden. Das hat er bisher nicht getan. Wenn das der Fall ist, bin ich in Absprache mit meinen französischen und meinen Nato-Freunden offen dafür, mich mit Putin zusammenzusetzen, um zu sehen, was er will, was ihm vorschwebt.
Der Sprecher von Präsident Wladimir Putin entgegnete, Russland sei zu Verhandlungen bereit, die darauf abzielten, "unsere Interessen zu wahren".
Jetzt ist es an der Zeit für eine Vermittlung, die sich auf die Kerninteressen und den Verhandlungsspielraum der drei Hauptkonfliktparteien stützt: Russland, der Ukraine und den Vereinigten Staaten.
Der Krieg ist für die Ukraine verheerend. Laut EU-Präsidentin Ursula von der Leyen hat die Ukraine bereits 100.000 Soldaten und 20.000 Zivilisten verloren. Nicht nur die Ukraine, sondern auch Russland, die USA und die EU – ja die ganze Welt – könnten von einer Beendigung des Konflikts enorm profitieren, da sowohl die nukleare Bedrohung, die heute über der Welt schwebt, als auch die verheerenden wirtschaftlichen Folgen des Krieges beseitigt würden.
Kein Geringerer als der Vorsitzende der US-Generalstabschefs General Mark A. Milley hat auf eine politische Lösung des Konflikts auf dem Weg von Verhandlungen gedrängt und festgestellt, dass die Chancen der Ukraine auf einen militärischen Sieg "nicht hoch" sind.
Es gibt vier Kernfragen, über die verhandelt werden muss: Die Souveränität und Sicherheit der Ukraine, die heikle Frage der Nato-Erweiterung, das Schicksal der Krim und die Zukunft des Donbass.
Die Ukraine fordert vor allem, ein souveränes Land zu sein, frei von russischer Vorherrschaft und mit sicheren Grenzen. In Russland gibt es einige, vielleicht auch Putin selbst, die glauben, dass die Ukraine wirklich ein Teil Russlands ist.
Es wird keinen Verhandlungsfrieden geben, wenn Russland nicht die Souveränität und die nationale Sicherheit der Ukraine anerkennt, die durch ausdrückliche internationale Garantien des UN-Sicherheitsrats und von Staaten wie Deutschland, Indien und der Türkei gestützt werden.
Russland fordert vor allem, dass die Nato ihre Absicht fallen lässt, sich auf die Ukraine und Georgien auszudehnen, was Russland im Schwarzen Meer vollständig einkreisen würde (wobei die Ukraine und Georgien zu den bestehenden Schwarzmeer-Nato-Mitgliedern Bulgarien, Rumänien und Türkei hinzukämen).
Die Nato bezeichnet sich selbst als Verteidigungsbündnis, doch Russland sieht das anders, denn es weiß sehr wohl um den Hang der USA für Regimewechsel-Operationen gegen Regierungen, die es ablehnt (so auch in der Ukraine im Jahr 2014, als die USA am Sturz des damaligen prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch beteiligt waren).
Außerdem beansprucht Russland die Krim, wo man seit 1783 die russische Schwarzmeerflotte stationiert. Putin warnte George Bush Jr. 2008, dass Russland die Krim zurückerobern würde, wenn die USA die Nato bis in die Ukraine ausdehnten. Die Krim war 1954 von Sowjetführer Nikita Chruschtschow von Russland an die Ukraine übergeben worden. Bis zu Janukowitschs Sturz wurde die Krim-Frage durch russisch-ukrainische Vereinbarungen, die Russland einen langfristigen Pachtvertrag für seine Marineeinrichtungen in Sewastopol auf der Krim einräumten, umsichtig gehandhabt.
Großmächte müssen Größe zeigen
Zwischen der Ukraine und Russland gibt es heftige Meinungsverschiedenheiten über den Donbass mit seiner überwiegend russischstämmigen Bevölkerung. Während im größten Teil der Ukraine die ukrainische Sprache und kulturelle Identität vorherrscht, sind im Donbass kulturelle Identität und Sprache russisch geprägt. Nach dem Sturz Janukowitschs wurde der Donbass zu einem Schlachtfeld zwischen pro-russischen und pro-ukrainischen Paramilitärs, wobei die pro-russischen Kräfte die Unabhängigkeit des Donbass erklärten.
Das Minsk-II-Abkommen von 2015 war eine diplomatische Vereinbarung zur Beendigung der Kämpfe, die auf Autonomie (Selbstverwaltung) für die Region Donbass innerhalb der ukrainischen Grenzen und auf der Achtung der russischen Sprache und Kultur beruhte.
Nach der Unterzeichnung machte die ukrainische Führung deutlich, dass sie das Abkommen ablehne und es nicht einhalten werde. Obwohl Frankreich und Deutschland für das Abkommen bürgten, drängten sie die Ukraine nicht zur Einhaltung. Aus der Sicht Russlands haben die Ukraine und der Westen damit eine diplomatische Lösung des Konflikts abgelehnt.
Ende 2021 bekräftigte Putin die Forderung Russlands, die Nato nicht weiter zu erweitern, insbesondere nicht auf die Ukraine. Die USA weigerten sich, über die Nato-Erweiterung zu verhandeln. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erklärte damals provokativ, dass Russland in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht habe und dass nur die Nato-Mitglieder entscheiden würden, ob Russland im Schwarzen Meer eingekreist werden solle oder nicht.
Im März 2022, einen Monat nach der russischen Invasion, erzielten Putin und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wesentliche Fortschritte in Hinsicht auf eine pragmatische Beendigung des Krieges durch Verhandlungen, die auf einer Nichterweiterung der Nato, internationalen Garantien für die Souveränität und Sicherheit der Ukraine und einer späteren friedlichen Lösung der Probleme auf der Krim und im Donbass beruhte. Türkische Diplomaten waren die sehr geschickten Vermittler.
Doch dann verließ die Ukraine den Verhandlungstisch, vielleicht auf Drängen Großbritanniens und der USA, und verfolgte eine Politik, Verhandlungen so lange zu blockieren, bis Russland militärisch aus der Ukraine vertrieben werde. Daraufhin eskalierte der Konflikt, und Russland annektierte nicht nur die beiden Regionen des Donbass (Luhansk und Donezk), sondern auch die Regionen Cherson und Saporischschja.
Kürzlich heizte Selenskyj die Situation weiter an, indem er forderte, die ukrainischen Verbindungen zu russisch-orthodoxen Einrichtungen zu kappen und damit die religiösen Brücken zwischen ethnischen Russen und vielen ethnischen Ukrainern abzubrechen, die ein Jahrtausend zurückreichen.
Da sich nun sowohl die USA als auch Russland vorsichtig an den Verhandlungstisch herantasten, ist es an der Zeit, zu vermitteln. Zu den möglichen Vermittlern zählen die Vereinten Nationen, die Türkei, Papst Franziskus, China und vielleicht auch andere, in welcher Mischung auch immer. Die Konturen einer erfolgreichen Mediation sind eigentlich klar, ebenso wie die Grundlage für eine Friedensregelung.
Der wichtigste Punkt für eine Vermittlung ist anzuerkennen, dass alle Parteien legitime Interessen haben und berechtigte Missstände zu beklagen haben. Russland ist zu Unrecht und gewaltsam in die Ukraine eingedrungen. Die USA haben unrechtmäßig den Sturz Janukowitschs im Jahr 2014 konspirativ gepusht und die Ukraine anschließend schwer bewaffnet, während sie die Nato-Erweiterung vorantrieben, um Russland im Schwarzen Meer einzukreisen. Nach dem Sturz Janukowitschs weigerten sich die ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko und Wolodymyr Selenskyj, das Minsk-II-Abkommen umzusetzen.
Der Frieden wird eintreten, wenn die USA von einer weiteren Nato-Erweiterung in Richtung der russischen Grenzen Abstand nehmen, Russland seine Streitkräfte aus der Ukraine abzieht und von der einseitigen Annexion ukrainischen Territoriums Abstand nimmt. Ebenso muss die Ukraine ihre Versuche beenden, die Krim zurückzuerobern, und den Minsk-II-Rahmen akzeptieren. Alle Parteien müssen sich bereit erklären, die souveränen Grenzen der Ukraine im Rahmen der UN-Charta zu sichern, garantiert durch den UN-Sicherheitsrat und andere Nationen.
Der Ukraine-Krieg ist ein äußerst gefährlicher Krieg zwischen atomaren Supermächten in einer Welt, die dringend Frieden und Zusammenarbeit braucht. Es ist an der Zeit, dass die USA und Russland, zwei Großmächte der Vergangenheit und der Zukunft, ihre Größe durch gegenseitigen Respekt, Diplomatie und gemeinsame Anstrengungen unter Beweis stellen, um eine nachhaltige Entwicklung für alle zu gewährleisten – auch für das ukrainische Volk, das Frieden und Wiederaufbau am dringendsten benötigt.
Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit US-Nachrichtenportal Common Dreams. Das englische Original findet sich hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Jeffrey D. Sachs ist Universitätsprofessor und Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University, wo er von 2002 bis 2016 das Earth Institute leitete. Außerdem ist er Präsident des UN Sustainable Development Solutions Network und Kommissar der UN Broadband Commission for Development. Er war Berater von drei Generalsekretären der Vereinten Nationen und ist derzeit SDG-Beauftragter von Generalsekretär Antonio Guterres. Sachs ist der Autor des kürzlich erschienenen Buches "A New Foreign Policy: Jenseits des amerikanischen Exzeptionalismus" (2020). Zu seinen weiteren Büchern gehören: "Building the New American Economy: Smart, Fair, and Sustainable" (2017) und "The Age of Sustainable Development," (2015) mit Ban Ki-moon.