Friedensaussichten für die Ostukraine besser als seit Jahren

Selenskyi beim Besuch der Region Donetsk am Samstag. Bild: Presidential Administration/ CC B>-SA-2.0

Innerukrainische und weltpolitische Entwicklungen ermöglichen neue Ansätze. Die Chancen werden von den Medien weitgehend nicht beachtet

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Präsident Selenskyi wurde mit überwältigender Mehrheit gewählt. Der Politnovize hat bislang aber keine Strukturen oder hinreichend fachkundige Unterstützung hinter sich, um die Dominanz der Seilschaften brechen zu können. Sie lassen Selenskyis beherzte Initiativen weitgehend ins Leere laufen (Die aktuelle Lage des Kampfes zwischen Selenskyi und den alten Eliten).

Nun auch Selenskyi auf ukrainisch-nationalem Kurs?

Als Wahlkämpfer gab er sich weder betont ukrainisch-national, noch pro-russisch. Auch in dieser Hinsicht unterschied er sich von allen seinen Amtsvorgängern, was zu seinem Wahlsieg beitrug.

In den vergangenen Wochen hingegen gab es Anzeichen, dass Selenskyi auf Poroschenkos Linie eingeschwenkt ist:

- Er bat bei seiner Amtseinführung die anwesenden US-Vertreter um eine weitere Verschärfung der Sanktionen gegen Russland. - Stepan Bandera bezeichnete er als "unbestreitbaren Helden". Vielleicht ein Viertel der Bevölkerung sieht dies nachdrücklich ebenso, Millionen anderen Ukrainern hingegen gilt Bandera als Massenmörder und Nazikollaborateur. - Die Rhetorik Selenskyis bei seinem ersten Auslandsbesuch in Brüssel: Man hätte ihn fast mit seinem Amtsvorgänger verwechseln können.

Der neue Präsident ist aber nicht auf eine nationalistische Linie umgeschwenkt, ihm wurde nicht der Schneid abgekauft. Er setzt diese Akzente aus taktischen Gründen. Er will die Anzahl seiner Feinde verringern, d.h. die Nationalisten beruhigen, denn sie sind einflussreicher als der pro-russische Teil der Bevölkerung. Dies scheint taktisch klug, wenn nicht notwendig zu sein.

Selenskij mangelt es nicht nur derzeit, sondern vermutlich auch in Zukunft an den notwendigen politischen Instrumenten für einen Umbau der Ukraine. Er muss einen Umweg gehen, um den Widerstand des Establishments überwinden zu können.

Der Konflikt in der Ostukraine

Der neue Präsident kündigte bereits in seiner Antrittsrede an, sich zunächst stärker der Lösung des Konflikts im Donbas als der Korruptionsbekämpfung widmen zu wollen. Hiermit weicht er nicht vor den Seilschaften zurück, sondern trifft aus drei Gründen eine kluge Wahl der Prioritäten:

- Auch in diesen Wochen gibt es Verletzte und Tote. Millionen sind geflüchtet oder müssen im Krisengebiet selbst unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. Dies gilt für die Ukrainer beiderseits der Front, vor allem aber für die Bewohner der Rebellengebiete. - Ein Ende der immer wieder aufflackernden Kämpfe und eine Entspannung mit Russland dürfte die Wirtschaft beflügeln, die hohen Militärausgaben könnten reduziert werden.

Die beiden genannten Gründe sind bereits von großem Gewicht, der dritte dürfte für Selenskyi unter politischen Gesichtspunkten noch wichtiger sein:

- Ein Frieden im Donbas hätte große Auswirkungen auf das innerukrainische Machtgefüge und würde die Erfolgsaussichten für wirkliche Reformen erhöhen. Selenskyis Hauptgegner würden geschwächt: die Oligarchen und die Rechtsradikalen. Erstere profitierten vom Konflikt, denn er lenkte von Reformen ab, Rechtsradikale steigerten Macht und Ansehen als entschlossene Verteidiger der Ukraine.

Ein Ansatz für den Frieden liegt vor: Die Vereinbarungen von Minsk

Sie wurden im Februar 2015 abgeschlossen und beinhalten insbesondere:

- Ein Ende der militärischen Auseinandersetzungen und den Abzug schwerer Waffen; - eine Amnestie für die am Krieg beteiligten Kämpfer; - eine erweiterte Autonomie für die Rebellengebiete, die Teil der Ukraine verbleiben. Details hat Kiew mit den Rebellen abzustimmen.

Nach dem Vollzug dieser Prozesse sollen sich ausländische Kämpfer zurückziehen und Kiew die Kontrolle über die gesamte Grenze zu Russland übernehmen.

Die Ukraine ist zu direkten Gesprächen mit der Führung der Rebellen aber nicht bereit. Das ukrainische Parlament verweigerte sich auch einem Amnestiegesetz und hat im August 2015 ihre Beratungen über Verfassungsänderungen, die für die vereinbarte Autonomie erforderlich wären, eingestellt. Gut organisierte und gewalttätige Nationalisten übten zu starken Druck aus. Diese Situation dürfte sich auch nach einer Parlamentsneuwahl nicht ändern.

Auch die Rebellen verletzen Minsk. Sie halten Gebiete, die ihnen nach der Vereinbarung nicht zustehen. Ukrainische Streitkräfte verletzen den Waffenstillstand, indem sie seit 2016 Stück für Stück vorrücken. Die damit verbundenen Kämpfe fordern weiterhin Menschenleben. In den ersten Monaten dieses Jahres haben sie weitere 20 Quadratkilometer übernommen.

Kurz zusammengefasst: Ein Frieden in der Ostukraine würde die Erfolgsaussichten Selenskyis deutlich erhöhen. Aber auch ein neugewähltes Parlament wird vermutlich nicht bereit sein, Minsk umzusetzen. Die Parlamentarier müssten Sorge vor gewalttätigen Nationalisten haben. Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Es sieht seit kurzen danach aus.

Der neue Präsident hat Ende Mai die Bereitschaft Kiews zu schmerzhaften Zugeständnissen angekündigt und strebt anscheinend eine Volksabstimmung zu Minsk an. Hierfür bekäme Selenskyi eine Mehrheit, vermutlich ein deutliche. Dies brächte die Nationalisten in die Defensive und die Volksvertretung dürfte sich kaum weiter verweigern können.

Ein Frieden im Donbas hängt nicht allein von der Ukraine ab, sondern auch - und wohl noch stärker - von den weltpolitischen Akteuren. Beginnen wir mit dem großen Nachbarn:

Russland und der neue ukrainische Präsident

Die Signale des Kremls scheinen nicht auf Entspannung angelegt: Ab 1. Juni sind Kohle- und Ölexporte in die Ukraine grundsätzlich verboten. Dies bereitet der Ukraine zwar lösbare, aber nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Moskau bezeichnet den Lieferboykott als Reaktion, denn Kiew hatte kurz vor der Amtsübernahme Selenskyis weitere Beschränkungen für die Ausfuhr von Maschinen nach Russland verfügt.

Der russische Präsident unterließ es, Selenskyi zu seinem Wahlsieg zu gratulieren, ein ungewöhnlicher diplomatischer Affront. Daneben wiederholte Wladimir Putin seine bereits mehrfach geäußerte Ansicht, dass Russen und Ukrainer, ungeachtet aller Besonderheiten, derselben ethnischen Gruppe angehören. Das schürt bei Millionen Ukrainern Abwehrreflexe. Zudem würde es den Bewohnern der Rebellengebiete wesentlich erleichtert, die russische Staatsangehörigkeit zu erlangen.

Es gibt zwei Deutungsmuster für die erwähnten russischen Signale:

- Russland will weder mit dem neuen ukrainischen Staatsoberhaupt noch mit dessen Land ein konstruktives Verhältnis. Es will die Rebellengebiete verstärkt an sich binden und hat kein Interesse an einer Konfliktlösung des Konflikts. Die zweite Variante lautet: - Sobald ein Verhandlungsbeginn näher rückt, zeigen die künftigen Vertragspartner besondere Härte, um ihre Position in den angestrebten Gesprächen zu verbessern.

Letzteres scheint mir auch in diesem Fall zuzutreffen. Gehen wir etwas ins Detail.

Russlands Interesse an einer Lösung des Konflikts

Georgien erlebte 2012 auch deshalb einen Machtwechsel, weil die Mehrheit der Bevölkerung die Russlandfeindlichkeit der bisherigen Führung nicht mehr mittragen wollte. 2019 war die Situation in der Ukraine ähnlich. In den vergangenen Jahren wuchs der russisch-georgische Handel und Tourismus stark an. Russische Investitionen strömen ins Land.

Tiflis ist keineswegs zum Gefolgsmann Moskaus geworden, die Beziehungen haben sich aber spürbar entspannt, zu beiderseitigem Vorteil. Es hat sich entspannt, obgleich sich der Kreml kategorisch weigert, seine schützende Hand von Abchasien und Südossetien abzuziehen. Beide Gebiete haben sich von Georgien in Kriegen abgespalten, was Tiflis rückgängig machen will.

Moskau bestreitet hingegen nicht, dass die Rebellengebiete im Donbas in den ukrainischen Staatsverband zurückkehren sollen. Sie erfüllen für den Kreml einen Zweck: Zu verhindern, dass die Ukraine einen dauerhaft innen- und außenpolitisch russlandfeindlichen Kurs fährt. Voraussetzung einer Re-Integration der Rebellengebiete, so der Kreml, sei die Umsetzung der Minsk-Vereinbarungen.

Obwohl Russland die Separatisten offensichtlich stützt und die Krim einverleibt hat, wachsen seine Sympathiewerte in der Ukraine an: Im Februar 2016 hatten 36% der Befragten in der Ukraine ein sehr oder eher positives Bild vom großen Nachbarn. Im Februar 2017 lautete der Wert 40%, ein Jahr später 45% und im Februar 2019 waren es 57%. Diese Zahlen hat das kremlkritische "Lewada"-Meinungsforschungsinstitut veröffentlicht. Eine breite Mehrheit der Ukrainer wünscht eine tiefgreifende Entspannung der Beziehungen mit Russland.

Aber selbst wenn sich Putins Russland und Selenskyis Ukraine einig werden, was ist mit der Weltmacht Nr. 1?

Die Haltung der USA

Kurt Volker, der US-Ukrainebeauftragte, erklärte am 29. Mai 2019, nicht Kiew, sondern Moskau müsse Anforderungen der Minsk-Vereinbarung erfüllen. Die Ukraine habe das ihr Möglich getan. Diese Ansicht (die sich mit der Obamas deckt) ist zwar nicht faktenbasiert, aber ohne die Zustimmung Washingtons ist ein Frieden in der Ostukraine nicht denkbar.

Washington ist jedoch gleich mehrfach auf russische Unterstützung angewiesen:

Nordkorea: Eine US-Einigung mit Pjöngjang ist mittlerweile nur noch dann denkbar, wenn China und Russland das Abkommen garantieren. Die Glaubwürdigkeit der USA ist durch ihre Kündigung des Iran-Atomabkommens beschädigt. Sie sind in zentralen Fragen nur noch bedingt in der Lage, bilaterale Verträge abzuschließen.

Afghanistan: Russland ist das einzige Land, das tragfähige bis gute Beziehungen sowohl zur afghanischen Führung als auch zu den Taliban pflegt. Und zu sämtlichen Nachbarn Afghanistans (sowie Indien). Ende April erkannten führende US-Diplomaten bei ihrem Moskauaufenthalt faktisch die russische Federführung im Afghanistan-Friedensprozess an.

Syrien: Nur Moskau unterhält tragfähige bis gute Beziehungen zu allen Akteuren im Nahen und Mittleren Osten. Brett McGurk, bis 2018 US-Gesandter in der Koalition gegen den "Islamischen Staat", erklärt, dass sein Land Russlands führende Rolle für eine Lösung anerkennen müsse. Jim Jeffrey, der gegenwärtige US-Beauftragte für Syrien, spricht immerhin von der Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit mit dem Kreml.

Iran: An Russland führt auch in dieser Frage kein Weg vorbei (Russland profitiert von der Irankrise). Dies wird z.B. an folgender Entwicklung deutlich, über die m.W. kein deutschsprachiges Leitmedium berichtet hat: Am 6. Juni beriet sich US-Sicherheitsberater John Bolton mit Nikolai Patruschew, dem Sekretär des russischen Sicherheitsrats, in Jerusalem. Dabei wird Patruschew sowohl auf den Sanktionslisten der USA als auch der EU geführt.

Am 13. Juni wurden in der Straße von Hormus zwei Schiffe beschossen, was Washington Teheran zur Last legt. Eine Militäraktion der USA gegen den Iran scheidet aus mehreren Gründen aus, beschränken wir uns auf einen: Er würde tausende amerikanische Soldaten im Irak und in Syrien zu Gejagten weit überlegener pro-iranischer Kämpfer machen.

Der Weltpolizist (USA) hat nach seinen eigenen Angaben einen Übeltäter (Iran) eines weiteren Verbrechens überführt, ist aber nicht imstande, gegen ihn vorzugehen. Der Ölpreis stieg am 13. und 14. Juni zwar merklich an, ist aber weiterhin etwas niedriger als eine Woche zuvor. Öl ist derzeit (am 15. Juni) sogar 15% preiswerter als vor Monatsfrist. Die Märkte erwarten keine Eskalation, weder durch Washington, noch durch Teheran.

Um leidlich gesichtswahrend aus der derzeitigen Situation heraus zu kommen sind die USA noch stärker auf russische Vermittlung angewiesen als vor dem 13. Juni. Moskaus Verhandlungsposition hat sich gegenüber Amerika weiter verbessert.

Die Rolle Deutschlands

Ohne Moskau und Washington ist kein Frieden im Donbas denkbar, Berlin spielt seit Jahren gleichwohl eine zentrale, grundsätzlich auf Ausgleich zielende Rolle.

Der Besuch des neuen ukrainischen Präsidenten in Brüssel war v.a. symbolisch, denn seine Gesprächspartner verlieren in Kürze als Folge der EU-Wahlen ihr Amt. Bedeutsamer waren die vorhergehenden Gespräche Selenskyis mit den Außenministern Deutschlands und Frankreichs in Kiew. Beide erklärten an, sich für ein erneutes Normandie-Gipfeltreffen einzusetzen. Das letzte fand im Oktober 2016 statt. Das Auswärtige Amt betonte zwar seine Solidarität mit Kiew, andererseits aber auch: "Die Regeln der Minsk-Vereinbarung müssen von allen Seiten erfüllt werden." Deutschland sieht also auch Kiew in der Pflicht, anders als Washington.

Die Beziehungen Berlin-Moskau haben sich in den vergangenen Monaten zudem entspannt. Deutsche Spitzenpolitiker reisten so oft nach Russland wie zuletzt vor über fünf Jahren. Dies steigert die Chancen Berlins, sowohl in Kiew als auch in Moskau gehört zu werden.

Die Aussichten

Der Kreml ist auf eine konstruktive US-Haltung in der Donbas-Frage angewiesen, Washington aber braucht mittlerweile Russland in zahlreichen anderen Fragen. Es wird also einen Deal geben.

Nicht nur wünschenswert, sondern auch denkbar wäre: Selenskijs Partei schneidet bei den anstehenden Wahlen gut ab, danach folgen ein Normandie-Gipfel und eine Volksabstimmung in der Ukraine, die die Umsetzung von Minsk ermöglichen. All dies wird begleitet von zahlreichen russisch-amerikanischen Gesprächsrunden und Teil-Übereinkommen über Afghanistan, den Iran, Syrien und die Ukraine. Es ist denkbar, dass 2020 im Donbas Frieden einkehrt. Das würde die Erfolgsaussichten Selenskyi deutlich erhöhen, die Seilschaften entmachten zu können.

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