Frontberichte aus Lateinamerika
Die Wikileaks-Veröffentlichungen der diplomatischen Depeschen Washingtons liefern auch Details über die Machtpolitik südlich der US-Grenze
Cablegate, die jüngste Veröffentlichung von Wikileaks, verspricht auch neue Informationen über die Politik der USA in Lateinamerika. Schon unter den rund 250 bislang veröffentlichten Dokumenten finden sich neue Erkenntnisse zum aktuellen und historischen Charakter der Washingtoner Lateinamerika-Politik. So berichten europäische und US-amerikanische Partnermedien der Internetplattform, die vorab alle gut 250.000 Datensätze erhalten haben, von Spionageanweisungen gegen lateinamerikanische Regierungen und Politiker. Auch wurde offenbar aktiv versucht, die venezolanische Regierung unter Präsident Hugo Chávez zu isolieren.
Zum Teil enthalten die Meldungen der Botschaften in Lateinamerika an das US-Außenministerium Material, das eher für Klatsch-und-Tratsch-Meldungen dient, die derzeit auch noch die deutsche Presse - etwa in Bezug auf die despektierlichen Einschätzung des deutschen Außenministers Guido Westerwelle - dominieren. So berichtet die spanische Tageszeitung El País, dass US-Außenministerin Hillary Clinton von ihren Diplomaten in Argentinien eine Einschätzung über den psychischen Zustand der Präsidentin Cristina Fernández verlangte. Das spanische Blatt schreibt zudem von US-Versuchen, "lateinamerikanische Staaten zu umwerben, um Venezuelas Präsidenten Hugo Chávez zu isolieren".
Die Originaldokumente zu diesen Fällen sind jedoch noch nicht online gestellt worden. Bis zum Montagnachmittag waren erst rund 250 Datensätze öffentlich einsehbar. Die restlichen Daten sollen, so heißt es im Twitter von Wikileaks, nach und nach ins Internet gestellt werden.
El País hat als Partnermedium von Wikileaks alle 251.287 diplomatischen Depeschen an das US-Außenamt vorab komplett zur Verfügung gestellt bekommen. Zu den weiteren Redaktionen gehören das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel, der britische Guardian das französische Blatt Le Monde und die New York Times.
Paraguay: Personendaten von Politikern und Angaben zu Erdöl
Eines der deutlichsten Beispiele der Macht- und Geheimdienstpolitik zur Wahrung der eigenen Interessen in Lateinamerika bieten offenbar die Dokumente zu Paraguay. Ebenso wie die UN-Vertretung Washingtons sei die Botschaft in der paraguayischen Hauptstadt Asunción Anfang 2008 angewiesen worden, detaillierte Informationen über die Kandidaten für die Präsidentschaftswahl im April jenes Jahres zu besorgen, heißt es in bisherigen Presseberichten. Angefordert wurden per Anweisung aus Washington ein Scanbild der Iris, Fingerabdrücke und DNA-Proben von vier Politikern. Betroffen waren die damalige Bildungsministerin Blanca Ovelar, der damalige Vizepräsident Luis Alberto Castiglioni, General a. D. Lino Oviedo und der spätere Wahlsieger sowie amtierende Präsident Fernando Lugo.
Zugleich forderte das US-Außenamt von seiner Vertretung in Asunción zahlreiche Informationen über die Außenpolitik des südamerikanischen Staates an. So sollten die Diplomaten Informationen darüber einholen, wie sich die Außenpolitik Paraguays gegenüber den beiden sozialistischen Regierungen in Kuba und Venezuela entwickelt. Auch über die Beziehungen zu China, Taiwan und Russland sollte Protokoll geführt werden.
Für besonderes Aufsehen in Lateinamerika sorgt seit gestern die Meldung der Zeitung El País, dass vom US-Außenministerium auch Nachrichten über Erdölvorkommen in der paraguayischen Region Chaco angefordert wurden. Der Zugang zu den Bodenschätzen in Lateinamerika zählt zu einer der Hauptmotivationen der USA, gegen linke und anti-neoliberale Staaten in der Region vorzugehen. So haben Vertreter beider US-Parteien die Nationalisierung von Naturressourcen in den Staaten Lateinamerikas wiederholt als Bedrohung für die eigene Nationale Sicherheit bezeichnet. Das verstärkte Engagement in Paraguay sorgt dabei auch für Unruhe, weil das Land an drei Länder grenzt, die den USA kritisch gegenüberstehen: Argentinien, Brasilien und Bolivien.
Putsch in Honduras trotz Warnungen der Botschaft unterstützt
Auch im Fall von Honduras sind die Veröffentlichungen wenig schmeichelhaft für die amtierende US-Regierung. Denn offenbar wurde das Putschregime in dem mittelamerikanischen Land politisch und finanziell unterstützt, obwohl die Botschaft in Tegucigalpa den Sturz von Präsident Manuel Zelaya am 28. Juni 2009 eindeutig als illegal bezeichnete. Das geht aus einer Depesche hervor, die der damalige US-Botschafter, Hugo Llorens, am 24. Juli 2010 an das US-Außenministerium sandte.
Das ausführliche Dokument war knapp einen Monat nach dem gewaltsamen Sturz der letzten demokratisch gewählten Regierung des mittelamerikanischen Landes dem damaligen Lateinamerika-Beauftragten im US-Außenministerium, Tom Shannon, zugegangen, der inzwischen die US-Botschaft in Brasilien leitet. Weitere Adressaten waren der Rechtsberater des Außenamtes, Harold Koh, und seine Kollegin Joan Donoghue, die inzwischen als Richterin beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag arbeitet. Vierter Empfänger der Analyse war Dan Restrepo, der dem Nationalen Sicherheitsrat der USA angehört und Präsident Barack Obama bis heute in Lateinamerika-Fragen berät.
Nach Einschätzung der US-Botschaft in Tegucigalpa bestand einen Monat nach dem Putsch "kein Zweifel mehr daran, dass die Amtsübernahme durch (Diktator, d. Red.) Roberto Micheletti illegitim war". Auch gebe es "keinen Zweifel daran, dass das Militär, der Oberste Gerichtshof und der Kongress den Putsch gegen die Regierung geplant haben", heißt es in dem als vertraulich eingestuften Dokument, das gleichsam Unklarheiten der honduranischen Verfassung in Fragen der Ablösung des Präsidenten eingesteht. Dennoch verwarf Botschafter Llorens en detail die zentralen Argumente der Putschisten. Der Vorwurf, Präsident Zelaya habe das Gesetz gebrochen, belegte er mit dem Vermerk "nicht belegte Annahme". Den angeblich freiwilligen Rücktritt Zelayas vom höchsten Staatsamt bezeichnete er als "klare Fälschung".
Dieser Einschätzung ungeachtet hatte die US-Regierung die Putschregierung anerkannt und auch den Übergang von der Diktatur unter Machthaber Roberto Micheletti zum amtierenden De-facto-Regime unterstützt. Das nun von "Wikileaks" veröffentlichte Geheimdokument belegt damit die These, dass die US-Führung wider besseres Wissens eine politische Entscheidung gegen die anti-neoliberalen Kräfte in den USA getroffen hat.