Fruchtfliegen im Flugsimulator

Erinnerungen einer Fruchtfliege im Labor untersucht

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Die Fruchtfliege kann Muster erkennen und sie sich merken. Jetzt haben Neurowissenschaftler der Universität Würzburg herausgefunden, wo dieser Prozess im Gehirn stattfindet und welche Nervenzellen daran beteiligt sind.

Drosophila melanogaster verfügt über ein visuelles Gedächtnis. Sie erkennt Muster und kann sie sich merken, indem sie sie anhand von fünf verschiedenen Parametern analysiert. Wie der Mensch ist die Fruchtfliege in der Lage, optische Eindrücke auch dann wiederzuerkennen, wenn sie an einer ganz anderen Stelle im Sehfeld erscheinen. Mittels gentechnisch veränderter Fruchtfliegenstämme haben Forscher des Biozentrums in Würzburg nun die Neuronengruppen entdeckt, die an der Erinnerung von zwei dieser Parameter beteiligt sind. In der aktuellen Ausgabe von Nature (Vol. 439, Nr. 7076 vom 2.2.2006) berichten sie.

Kein Gedächtnis ohne Rutabaga-Gen

Neurowissenschaftler verfügen bereits über ein ziemlich gutes Verständnis darüber, wie einzelne Neuronen funktionieren und wie sie mit ihrer unmittelbaren Umgebung kommunizieren. Auf der nächst höheren Ebene der Organisation hingegen gibt es noch viele Frage: Welche Neuronen bilden Funktionsnetzwerke, wie kodieren sie Verhalten und wie verändert Erfahrung die Aktivität und die Verbindungen in diesen Netzwerken, so dass sich das Verhalten ändert. Um solchen Fragen nachzugehen, eignet sich Drosophila vorzüglich, weil dieser Organismus mittlerweile sehr gut bekannt und beherrschbar ist.

Drosophila im Flugsimulator. Man sieht wie die Fliege mittels eines kleinen Drahtbügels, der an Hinterkopf und Thorax (Rücken) der Fliege angeklebt ist, in einer Klammer gehalten wird, die dann an dem Drehmoment-Messgerät befestigt wird. (Bild: Reinhard Wolf)

Seit mehr als 100 Jahren ist bekannt, dass Insekten Muster sehen können. Zu Beginn der 80er-Jahre wurden bei der Fruchtfliege mehrere Gene entdeckt, die für die synaptische Plastizität und das Lernen zuständig sind. Eines davon ist das Rutabaga-Gen. Mit ihm haben Martin Heisenberg und seine Gruppe vom Biozentrum der Universität Würzburg zusammen mit Kollegen in Peking jetzt Versuche zur Lokalisation des Mustergedächtnisses durchgeführt.

Wir haben eine Fliegensorte gezüchtet, die fast nichts mehr lernen konnte, weil ihr Rutabaga-Gen ausgeschaltet war. Mit ihrer Hilfe wollten wir herausfinden, wo die Gedächtnisspur für das visuelle Musterlernen der Fliege sitzt. Die Frage, die es dabei zu beantworten galt, lautete: „Wo muss das fehlende Enzym des Rutabaga-Gens im Gehirn zur Verfügung gestellt werden, damit die Fliege sich wieder an Muster erinnern kann?“

Martin Heisenberg

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Bei ihren Experimenten kam den Forschern eines zu Gute: Drosophila ist ein Lebewesen, das über Transposons verfügt, springende Gene, die ihren Ort im Genom verändern und dabei auch andere Gene transportieren können (sog. Transgene). Auf diese Weise gelang es ihnen, das Rutabaga-Enzym in verschiedenen Gehirnregionen der Fliegen zu reaktivieren und so schließlich herauszufinden, in welchen Gehirnzellen das Rutabaga-Enzym für das visuelle Erinnerungsvermögen gebraucht wird. Um das Gedächtnis für Muster zu messen, ließen sie Drosophila in einem Flugsimulator fliegen.

Künstliches Panorama

Der Flugsimulator ist computergesteuert und besteht aus einer zylinderförmigen Trommel, deren Wand mit einem Display ausgestattet ist. Auf ihm lassen sich Panoramen mit verschiedensten Mustern erschaffen und bewegen. In dieser Trommel hängt die Fliege, an einem dünnen Draht fixiert und mit einem Sensor verbunden, der die Drehkräfte erfasst und in den Computer einspeist, die die Fliege mit ihren Flügeln erzeugt. Er berechnet in Echtzeit, wie sich die Fliege beim gleichen Manöver im Freiflug gedreht hätte – und verschiebt dann die künstliche Umwelt um genau diesen Betrag um die Fliege herum. Das Insekt erhält so den visuellen Eindruck, tatsächlich die Richtung geändert zu haben. „Die Fliege glaubt, was sie sieht, das erkennt man, an der Art wie sie fliegt. Sie nimmt die Situation ernst“, so Heisenberg.

Die Fliege fliegt an dem Drehmoment-Messgerät im Zentrum eines künstlichen 360°-Panoramas (grüne Leuchtdioden), in dem sie ihre Flugrichtung in Bezug auf verschiedene visuelle Muster (hier: verschieden schräge Balken) selbst bestimmen kann. (Bild: Reinhard Wolf)

Um die Fliege auf optische Eindrücke zu trainieren, werden unterschiedliche Muster auf dem Display gezeigt. Fliegt sie auf ein bestimmtes Muster zu, wird sie durch einen Laserstrahl erhitzt. Weil ihr das nicht behagt, ändert sie die Flugrichtung. So lernt sie schnell, was sie machen muss, um nicht erhitzt zu werden und das behält sie auch bei, wenn der Laserstrahl ausgeschaltet ist.

Wie Heisenbergs Gruppe bereits in früheren Experimenten herausfand, ist das Interessante daran, dass die Fruchtfliege ihre Umwelt nicht fotografisch im Gedächtnis speichert, sondern nach bestimmten Merkmalen. Fünf haben die Forscher bisher identifiziert: den Schwerpunkt des Musters, die Neigung von Kanten (Kantenorientierung), die Größe, die vertikale Dichteverteilung und die Farbe. Fruchtfliegen merken sich optische Eindrücke, indem sie sie anhand dieser Parameter analysieren und deren Werte abspeichern. Damit sind sie in der Lage, Muster auch dann wieder zu erkennen, wenn sie später an einer anderen Stelle erscheinen. Wissenschaftlich heißt das Translationsinvarianz.

Der Flugsimulator mit der dazu gehörenden Elektronik. (Bild: Reinhard Wolf)

Bei ihren aktuellen Experimenten haben Heisenberg und Kollegen nur Muster präsentiert, die sich entweder in der Höhe oder der Kantenorientierung unterschieden. Diese Auswahl führte zu unterschiedlichen Antworten und damit zu den Orten im Gehirn, die für die Wiedererkennung dieser beiden Parameter zuständig sind: jeweils eine Neuronengruppe im fächerförmigen Körpers (fan-shaped body) des Zentralkomplexes.

„Wir können den Ort des visuellen Gedächtnisses momentan nur für diese zwei Parameter herausfinden, aber das Prinzip ist deutlich geworden“, kommentiert Heisenberg das Ergebnis. „Damit sind wir schon sehr viel weiter. Außerdem bilden diese beiden Zellenarten zwei Schichten in einem Gehirnteil, von dem man gerade anfängt zu verstehen, wofür er gut ist. Es ist das erste Mal, dass man bei einem Verhaltensexperiment zum Mustersehen etwas über die Nervennetze erfahren hat, die daran beteiligt sind. Das ist die wichtigste Erkenntnis.“