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Game Over

Wenn die USA nicht mehr führen: Was zeigt sich dann im frühen Licht der Morgendämmerung? Bild: Gilbert Mercier, CC BY-NC-ND 2.0

Die USA sind nicht mehr die Weltmacht. Das hat viel mit den doppelten Maßstäben des Westens zu tun. Und mit einer russischen Innovation (Teil 1)

In den westlichen Medien hört man ein Crescendo von Warnungen: Russlands Einmarsch in die Ukraine stehe bevor, der Ton wird täglich schärfer: "Putin werde einen Preis dafür bezahlen", dass er "unserer Werte zerstört" usw. Zu rationalen Einschätzungen [1] gelangt man aber nur, wenn man auf der anderen Seite zuhört, etwa der populären russischen Sendung Vetcher (Abend) [2].

Tatsächlich kündigen die derzeitigen Ereignisse eine weltpolitische Zäsur an. Russland sitzt militärisch am längeren Hebel, wenn auch in ganz anderer Weise, als dies dargestellt wird. Es geht in erster Linie nicht um die Ukraine.

Eine Analyse dieser Situation gelingt am besten, wenn man sich ein paar geopolitische Fakten der jüngeren Geschichte [3] vor Augen hält. Die USA haben 2003, unter einem Vorwand, den Irak überfallen und dabei hunderttausende getötet, zwanzig Jahre lang einen sinnlosen Krieg in Afghanistan geführt, völkerrechtswidrig Libyen zerstört, in Syrien mit Hilfe des IS einen regime change versucht, schließlich den Putsch in der Ukraine orchestriert.

Die Liste [4] ist bei Weitem nicht vollständig, schon allein wegen der zahlreichen Drohnenmorde, aber das Muster immer das gleiche: Chaos erzeugen, notfalls auch mit Terroristen, Waffen verkaufen, Einfluss sichern. Teile und herrsche.

Seit über zwanzig Jahren geschieht dies in einer überparteilichen Kontinuität eines permanent state in den USA. Einzelne Präsidenten setzen nur Nuancen in der großen Linie des militärisch-industriellen Komplexes, der ein Imperium mit weltweit 800 Militärbasen, Stationierung von US-Truppen und Söldnern in 170 Ländern [5] mit einem Budget von zuletzt 800 Milliarden US-Dollar errichtet hat, die Nato-Staaten noch nicht mitgerechnet. Doch die Zeit dieser Hasardeure endet.

Der Bär blieb lange ruhig

Russland hat den fünf Wellen der Nato-Osterweiterung und anderen Aggressionen an seinen Grenzen wie in Georgien 2008 lange geduldig zugesehen, wahrscheinlich mit zusammengebissenen Zähnen [6], aber doch mit einer langfristigen Strategie. Denn die Abermilliarden, die die USA für, wie man in Russland spottet, "Klopapier seiner Besatzungstruppen" ausgibt, hinderten Russlands Ingenieure nicht daran, mit einem Bruchteil des Aufwands Hyperschallraketen zu entwickeln, die aufgrund ihrer Schnelligkeit jedem Abwehrsystem zuvorkommen können [7].

Mit Schiffen und U-Booten als Trägersystemen hat Russland damit die Möglichkeit, Ziele in den USA an deren Ostküste innerhalb von Minuten zu zerstören oder, nur beispielsweise, mit den langreichweitigen Systemen Kinshal und Zircon ihre elf Flugzeugträger ausknipsen.

Die USA verfügen immer noch über einen großen Raumvorteil auf dem geopolitischen Schachbrett, aber noch nicht gemerkt, dass sie im kommenden Endspiel einen Turm weniger haben.

Russland weiß um seine Stärke

In Russland ist man über diese neuen Technologien informiert und bewertet die weltpolitische Lage entsprechend selbstbewusst. Der Zeitpunkt zum Handeln sei jetzt. Tatsächlich lautet die Frage: Soll man warten, bis die USA möglicherweise in der Hyperschalltechnologie nachziehen und diese Raketen dann in der Ukraine aufstellen, noch näher als die bereits platzierten Systeme in Polen und Rumänien?

Die fast einhellige Antwort lautet: Nein, dies würde die ohnehin kurzen Vorwarnzeiten nochmals verringern und Russland einen strategischen Nachteil verschaffen. Entgegen der westlichen Propaganda interessiert zwar die Russen ein Einmarsch in der Ukraine nicht, aber eine Zerstörung von aus dem Ausland dorthin gelieferter militärischer Infrastruktur wird offen diskutiert.

Bevor es eine Bedrohung für Russland darstelle, sei ein vorbeugender Präzisionsschlag vorzuziehen; ein Diskussionsteilnehmer nannte dies nicht ganz unzutreffend als "die amerikanische Art". Ja, gegen das Völkerrecht wäre es wahrscheinlich schon. Aber es würde in Russland wahrscheinlich einen landesweiten Lachkrampf auslösen, sollte ausgerechnet der Westen sich auf dieses berufen.

Dass die USA seit Jahrzehnten internationale Normen mit Füßen treten und das Recht des Stärkeren praktizieren, könnte sich nun als Bumerang erweisen.

Die politische Klasse nimmt es als völlig normal hin, dass die USA eine Terror-Supermacht sein soll, immun gegen Gesetz und zivilisierte Normen.

Noam Chomsky

Super, die russische Opposition

Die neue militärische Potenz scheint den Radikalen im Land Appetit zu machen. Der russische Nationalist Schirinowski, mit seiner Partei immerhin zu acht Prozent im Parlament vertreten, fordert einen kompletten Rollback der Nato-Expansion und die Denuklearisierung Europas inklusive der britischen und französischen Waffen.

Andernfalls könne man ja zum Beispiel London [8] ausschalten, das "Zentrum der antirussischen Propaganda". Aber auch der durchaus nicht hitzköpfige Diplomat und Militäranalyst Yaakov Kedmi bemerkt [9], ein voller nuklearer Schlagabtausch würde zwar Russland "schweren Schaden" zufügen, aber die USA jedenfalls in dem Erdboden gleichmachen.

Diese Ansichten mag man für verrückt halten und sie sind ganz sicher in Russland nicht mehrheitsfähig, aber sie zeigen doch, wie realitätsfern der Westen mit seiner Dämonisierung Putins [10] agiert. Jeder, der mit wachen Sinnen der letzten Jahre verfolgt hat, erkennt, dass sich der russische Präsident besonnen und deeskalierend verhalten hat und mehr als einmal die härtere Linie seines Verteidigungsministers Sergei Schoigu korrigierte. Es ist aber nicht ausgemacht, dass Putin seine gemäßigte Linie ewig fortführen kann und will, wenn sie keine Erfolge zeigt.

Derweil vermag der Westen nicht zu verstehen, dass die russische Opposition eben nicht aus von ihm selbst finanzierten Marionetten wie Alexej Nawalny besteht, sondern die öffentliche Meinung nicht so friedlich und kompromissbereit ist wie die derzeitige Führung. Schließlich stellt auch der zu Putin völlig loyale Lawrow nüchtern fest [11]: "Unsere Geduld ist zu Ende."

Der Westen stellt sich taub

Putin war – natürlich für die hiesige Propaganda unaussprechlich – stets an Stabilität und Sicherheit interessiert, er war es, der Abrüstungsvereinbarungen vorschlug, welche die USA fast sämtlich aufgekündigt haben. Aber er sagt nun auch:

Wenn sie weiter an unsere Grenzen heranrücken wollen und uns mit neuen Waffen bedrohen, dann halten wir Ihnen eben auch die Pistole an den Kopf. Die Frage ist nur: Warum machen wir das eigentlich alles?

Eine berechtigte Frage.

Washington hat keine gute Antwort darauf, ebenso wie es lange zögerte, die russischen Vorschläge zu einer globalen Sicherheitsordnung zu beantworten. Russland verlangte dabei nichts, was es nicht selbst zu erfüllen bereit wäre, diese Vorschläge sind völlig symmetrisch und eigentlich vernünftig [12], wie auch hier [13] dargestellt, aber eben undenkbar für eine Clique, die gewohnt ist nach Belieben Länder in aller Welt mit Krieg zu überziehen, damit die Kassen der Rüstungsindustrie klingeln.

Nebenbei: Dass ausgerechnet diejenigen Kriegshetzer sich für das Wohlergehen der Menschen in der Ukraine interessieren, die das Land wahrscheinlich nicht einmal auf einer Karte zu finden in der Lage sind, wäre ein guter Witz, würde er nicht mit Menschenleben bezahlt.

Im Moment hört man nur die üblichen Phrasen doppelten Maßstäbe des Westens. Wenn Russland sich dagegen wehrt, dass die mit ihm ethnisch verbundenen Bevölkerungsteile der Nachbarländer unterdrückt und diese zu Nato-Vorposten aufgerüstet werden, dann sind das Putins "Expansionsgelüste". Die wirklichen und dokumentierten Expansionsgelüste der Nato heißen dagegen "offene Tür".

Hochmut kommt vor den Fall

Wahrscheinlich haben es die USA seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt, dass jemand ernsthafte Forderungen an den Hegemon stellt. Man hat den Eindruck, dass es in Washington niemanden gibt, der die Verantwortung für ein aussagekräftiges außenpolitisches Statement übernehmen will [14].

Die Geisteskräfte Bidens, dessen Familie tief im Korruptionssumpf in der Ukraine verstrickt ist [15], werden inzwischen ganz öffentlich angezweifelt. Mit den Ausflüchten, die Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am letzten Mittwoch verkündet hat, wird sich Russland sicher nicht zufriedengeben.

Man diskutiert allenfalls darüber, ob Stoltenberg einfach nur lügt, oder an seine Verdrehungen selbst noch glaubt und "in seinem Gehirn Ursache und Wirkung nicht richtig verknüpft sind". Der sonst diplomatische Lawrow attestiert ihm mittlerweile öffentlich einen "Realitätsverlust" [16].

Teil 2: Next Level [17]

Dr. Alexander Unzicker ist theoretischer Physiker, Jurist und promovierte in der kognitiven Psychologie. Sein Buch "Vom Urknall zum Durchknall" (Springer Verlag), über den Zustand der modernen Physik wurde als "Wissenschaftsbuch des Jahres" gekürt und erschien in den USA unter dem Titel Bankrupting Physics (Macmillan). Zuletzt ist von ihm im Westend-Verlag erschienen: Einsteins Albtraum. Amerikas Aufstieg und der Niedergang der Physik [18].


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6343031

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/NATO-Aggression-und-Russlands-Reaktion-6336014.html
[2] https://www.youtube.com/watch?v=DdlgoWmqhpw&list=LL2r6quRlj_KdT7QBPjB3GsA
[3] https://www.amazon.de/dp/3280056314
[4] https://www.youtube.com/watch?v=0b2gmcD79vM
[5] https://www.der-postillon.com/2019/07/independence-day.html
[6] https://www.youtube.com/watch?v=U4MAsIh3zMA
[7] https://www.moonofalabama.org/2021/08/hypersonic-missiles-are-they-a-gamechanger-by-gordog.html
[8] https://www.youtube.com/watch?v=DdlgoWmqhpw&list=LL2r6quRlj_KdT7QBPjB3GsA&t=16m50s
[9] https://www.youtube.com/watch?v=DdlgoWmqhpw&list=LL2r6quRlj_KdT7QBPjB3GsA&t=4220s
[10] https://www.heise.de/tp/features/Putin-der-Boese-6200233.html
[11] https://www.youtube.com/watch?v=DdlgoWmqhpw&list=LL2r6quRlj_KdT7QBPjB3GsA&t=45m20s
[12] https://www.anti-spiegel.ru/2022/usa-uebergeben-antwort-an-russland-auf-die-vorschlaege-fuer-gegenseitige-sicherheitsgarantien-gehen-sie-nicht-ein/
[13] https://www.nachdenkseiten.de/?p=80068
[14] https://gilbertdoctorow.com/2022/01/20/anthony-blinken-and-the-intellectual-bankruptcy-of-the-biden-administration/
[15] https://www.politico.com/news/magazine/2021/10/12/hunter-biden-corruption-515583
[16] https://tass.com/defense/1393411
[17] https://www.heise.de/tp/features/Next-Level-6344350.html
[18] https://www.westendverlag.de/buch/einsteins-albtraum/