Ganzheitlichkeit – Ein Wohlfühlbegriff und seine Probleme

Die Behandlung eines kranken Zahns bedarf nicht der Behandlung des "ganzen Menschen". Ein Essay.

Ganzheitliches Denken und ganzheitliche Medizin sind bei vielen beliebt. Geworben wird auch für ganzheitliche Mode, ganzheitliche Farb- und Stilberatung, für "ganzheitliches Fahrerlebnis" (z. B. von BMW), ganzheitliches Einkaufserlebnis und ganzheitliches Naturerlebnis, für ganzheitliche Hundehaltung sowie ganzheitliches Controlling, so der Titel eines Buches von Armin Müller von 2009).

Probleme, vor deren Hintergrund sich "Ganzheitlichkeit" profiliert

"Ganzheitlich" verheißt oft eine Perspektive angesichts eines als problematisch wahrgenommen Zustandes. Anstoß wird daran genommen, bestimmte Teile eines Phänomens auseinanderzureißen, zu isolieren und zu verabsolutieren. Befürworter von Ganzheitlichkeit erhoffen sich von ihr eine vollständige bzw. umfassende Wahrnehmung im Unterschied zu einem reduktiven Verfahren.

Kritisiert wird zweitens die Vorgehensweise, ein Individuum als zufällige Kombination von Faktoren aufzufassen und damit die Binnenperspektive der Subjektivität und den Einheitssinn der Person zu verfehlen. Legitime Vorbehalte gibt es drittens dagegen, das Zusammenspiel oder die "Vernetzung" der Elemente auszublenden.

Für "das Zusammenspiel der Einzelkomponenten" sei, so heißt es, "im Grunde niemand mehr kompetent, weil die von unserem Gehirn ohnehin nur unvollkommen aufgenommene Wirklichkeit sich noch in Schubladen, zerstückelt in scheinbar voneinander unabhängige Einzelteile, wieder findet" (Vester 2004, 47).

Anhänger der Ganzheitlichkeit stören sich an der "irreversiblen Fragmentierung der wissenschaftlichen Erkenntnisse" (Chargaff 1984, 53). Der Professor für Biochemie stellt fest:

Für den Experimentator ist eine wohlüberprüfte Methode gleichsam ein sehr scharfes Werkzeug, mit dessen Hilfe er winzige und regelmäßige Streifen aus dem Fleische der Natur schneiden kann. Was er erfährt, gilt für das betreffende Fragment, aber nicht für die angrenzenden Bereiche.

Diese können auf ähnliche Weise wieder mit Hilfe anderer Methoden untersucht werden. Man hofft, dass diese ganze zersprengte Welt des Wissens schließlich zu einem Gesamtbild zusammenfließen wird.

Chargaff 1980, 230f.

Die implizite Erwartung lautet notorisch: "Je mehr Einzelnes, desto gänzer das Ganze" (Erwin Chargaff).

Anhänger der "Ganzheitlichkeit" nehmen Anstoß an einer Vorgehensweise, "alles Nicht-Messbare als 'sekundär' (weil 'objektiv' nicht erfassbar)" anzusehen (Wagner 1964, 94f.). Ganzheitlichkeit wird geltend gemacht gegenüber der wirklichen oder vermeintlichen naturwissenschaftlichen "Entwirklichung aller Stoffe und Kräfte in funktionale Beziehungen einiger 'universeller Konstanten' (Max Planck), auf die sie die Physik reduziert" (Ebd., 96).

Viele (nicht: alle) Naturwissenschaften arbeiten mit Denkformen, die sich auf die geforderten "'Eigenschaften' idealer mathematischer bzw. logische Strukturen wie Identität, Kontinuität, Homogenität, Linearität und Isotropie zurückführen lassen" (Gleich 1989, 87).

Kritisiert wird, "die Anpassung der wissenschaftlichen Erkenntnisse an die für ideal gehaltene wissenschaftliche Form (Denkformgemäßheit)" gehe "zu Lasten der Anpassung der Erkenntnisse an ihren Gegenstand (Gegenstandsgemäßheit)" (Ebd.). Ob das Ökosytem-Denken daran substanziell etwas ändert, ist fraglich (vgl. Creydt 2019).

Neue Einseitigkeit

Die Vorstellung von dem, was man nicht will, ist bei der Rede von Ganzheitlichkeit häufig deutlicher als das Bewusstsein für die positive Alternative. Im Pflegealltag "bezeichnen viele Kolleg:innen ihre Pflege bereits als "ganzheitlich", wenn die Patienten mit Namen angesprochen und nicht mehr rein funktional versorgt werden" (Zegelin 1996, 489).

Viele belassen es dabei, sich an einzelnen Beispiele für "Ganzheitlichkeit" zu orientieren, ohne sich Rechenschaft über die Fallen, "Neben"-Wirkungen und problematischen Implikationen von Ganzheitlichkeit abzulegen.

Problematisch an "Ganzheitlichkeit" ist, dass sie eine Totalität beansprucht, de facto aber häufig inhaltlich nur eine andere ("neue") Einseitigkeit gegen eine andere ("alte") Einseitigkeit setzt. Etwa in der Krankenpflege kommt es "zumindest auf der Ebene des deklarierten Anspruchs" zu einer "Pendelbewegung":

Konzentriert sich der naturwissenschaftliche Blick, der ja lange Zeit auch von den Pflegenden eingenommen worden ist, auf den Körper, fokussiert die ganzheitliche Option nun Fragen der Beziehung und Interaktion und begründet damit eine neuerliche Schwerpunktsetzung. Die Wichtigkeit des zwischenmenschlichen Kontaktes wird herausgehoben, dem Körper wird demgegenüber deutlich weniger Aufmerksamkeit zuteil.

Stemmer 1999, 90

Das Plädoyer für "Ganzheitlichkeit" führt leicht dazu, infolge der Aufmerksamkeit für das Ganze die einzelnen "Teile" zu vernachlässigen. Wer zu schnell alles Besondere auf die "Ebene" des Ganzen bezieht, fasst die "Elemente" als "Momente" auf.

Letztere können nicht ohne die Berücksichtigung übergreifender Zusammenhänge begriffen oder behandelt werden – im Unterschied zu Elementen. Ignoriert wird, dass es auch in komplexen Ganzheiten wie dem menschlichen Körper durchaus einzelne Elemente gibt, die sich zwar gewiss nicht in vollständiger Abstraktion von anderen Elementen bzw. dem "Ganzen" begreifen oder behandeln lassen, wohl aber eines hoch spezialisierten Vorgehens bedürfen.

Die Behandlung eines kranken Zahns bedarf nicht der Behandlung des "ganzen Menschen", die Behandlung eines Beinbruches bedarf keiner Behandlung der Psyche usw.