Geburt einer Konkurrenzreligion

Charles Darwin und die vergöttlichte Selbstorganisation

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2009 gibt es gleich zwei Darwin-Gedenktage: Heute vor 200 Jahren wurde der "Vater der Evolutionstheorie" geboren und vor 150 Jahren, am 24. November 1859, erschien sein berühmtestes Werk, On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, das man in Deutschland unter dem Titel Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe ums Dasein vermarktete.

Das Buch wurde bereits beim Erscheinen nicht nur von Fachleuten, sondern von einer breiten Öffentlichkeit diskutiert. Seine erste Auflage verkaufte sich noch am Erscheinungstag vollständig. Die von Darwin geschilderte Entwicklung von Lebewesen war kein radikaler Bruch, sondern bereits seit der Entdeckung der Landwirtschaft sinnliche Gewissheit des Menschen. Was neu war, das waren seine Ausführungen dazu, wie solch eine Entwicklung auch ohne zielgerichtetes Einwirken von Züchtern funktioniert und wie dies mit der Entstehung von Arten zusammenhängt.

Doch auch dazu argumentierte Darwin in The Origin of Species ausgesprochen nüchtern und abwägend und bemühte sich in geradezu auffälliger Weise, nicht zu weitgehende Schlüsse aus der systematischen Aufbereitung seines Material zu ziehen. So kommt beispielsweise der Mensch, anders als der etwas reißerischere Titel suggeriert, nur in einer Art Ausblick vor, in dem Darwin schreibt, dass er "in einer fernen Zukunft […] Felder für noch weit wichtigere Untersuchungen" sieht. Zudem bezieht sich der studierte Theologe ausdrücklich auf einen Schöpfergott und – wenn man so will – auf eine Art Heilslehre:

So geht aus dem Kampfe der Natur, aus Hunger und Tod unmittelbar die Lösung des höchsten Problems hervor, das wir zu fassen vermögen, die Erzeugung immer höherer und vollkommenerer Tiere. Es ist wahrlich eine großartige Ansicht, dass der Schöpfer den Keim alles Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht hat, und dass, während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt.

Darwins ausschließliches Abstellen auf Nützlichkeit ist noch stark von teleologischen Vorstellungen geprägt. Spätere, weniger unilineare Evolutionsvorstellungen entfernten sich in dieser Hinsicht wesentlich weiter von religiösen Leitbildern einer Richtung beziehungsweise eines Zwecks der Geschichte. Illustriert werden kann dies mit einer berühmt gewordenen Metapher von Stephen Jay Gould, der meinte, wenn man das "Tonband" der Evolution zurückspulen und neu ablaufen lassen würde, dann entstünden mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit immer wieder neue Kompositionen.

Den Schöpfergott schaffte Darwin in The Origins of Scecies keineswegs ab (wie manch andere seiner Zeitgenossen), sondern verlagerte die vorher überwiegend mit dessen Handeln beantwortete Entstehungsfrage nur ein wenig nach hinten - in Richtung des Universums, der Naturgesetze und der Prinzipien wie dem der Evolution. Die Ergebnisse seiner Forschungen griffen damit weniger eine Gottesvorstellung an, als einen Wörtlichkeitsanspruch der Bibel. Und auch um den stand es 1959 nicht mehr zum besten, hatte doch der Geologe Charles Lyell bereits in den 1830er Jahren in Principles of Geology herausgefunden, dass die Erde (und mit ihr viele Fossilien) wesentlich älter sein mussten, als es die Genealogien und Zeitangaben der Bibel suggerieren.

Erst Darwins Verteidiger gegen Angriffe von kirchlicher Seite strichen teilweise den Schöpfergott aus seiner quasi-deistischen Gleichung. Die Leerstelle, die sich darauf hin ergab, wurde von manchen damit ausgefüllt, dass sie die Vorstellung einer Selbstorganisation ("spontaneous order"), die übrig blieb, vergöttlichten. Ein fast religiöses Staunen darüber führte zu Analogieschlüssen, mit denen aus der Biologie übernommene Begriffe zu zentralen Leitbildern in Wirtschafts- und Gesellschaftsideologien wurden.

Bionomie

In den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts erreichte diese Entwicklung einen Höhepunkt: Damals begeisterte die so genannte Bionomie Wirtschaftsführer wie Gil Amelio, den Kopf von National Semiconductor und späteren CEO von Apple. Die Bionomie bediente sich zum Erklären ökonomischen Verhaltens in der Biologie statt in der Mechanik. Sie beschrieb die Welt in Begriffen wie Anpassung, Intelligenz, Selektion und ökologische Nischen. Und sie bevorzugte Dezentralisierung, trial-and-error sowie lokale oder gar keine Kontrolle. Steve Gibson, der Executive Director des Bionomics Institute, sah beispielsweise im "herumpfuschen" ("tinkering") mit Geldpolitik zum Beeinflussen der Wirtschaft ein Beispiel für unangemessen mechanistisches Denken.1 Zum Namensgeber der Mode wurde Michael Rothschilds Buch Bionomics: The Inevitability of Capitalism, das eine kalifornische Venturekapitalfirma allen ihren Geschäftspartner zu Weihnachten schenkte. Rotschild berief sich in seinen theoretischen Ausführungen ausdrücklich auf Darwin. Ökonomie war für ihn ein Ökosystem, Märkte ein natürlicher Ausfluss von Selbstorganisation und deshalb unvermeidlich.2

Auch in Kevin Kellys Net Economy, einem weiteren sehr einflussreichen Buch aus dieser Zeit, gibt es ständig Verweise auf Organismen und Biologie. Kelly postulierte, dass es in der Natur der New Economy liege, dass sie sich wie eine biologische Gemeinschaft verhalte.3 In Out of Control, dem Hauptwerk des ehemalige Wired-Chefredakteurs, argumentierte Kelly dass sich die Welt in Richtung einer neobiologischen Zivilisation mit organischen Technologien, maschinenartigen Biologien und der Ausbreitung von Netzwerken bewegen würde. In seiner imaginierten Welt wurden Evolution und Ingenieurswesen zu zwei Seiten derselben unkontrollierten Kraft von Anpassung und holistischer Rückkopplung. Die "unsichtbare Hand" des Marktes und die Darwinschen Kräfte der Evolution waren nach Kelly ein- und dasselbe: "control without authority".4

Der "freie Markt", wie der "Postdarwinist" ihn sah und im Duktus eines Umweltschützers der frühen 1980er Jahre pries, war keine vom Menschen geschaffene Institution, sondern ein übergeschichtliches natürliches Ökosystem. Und Ordnung konnte darin nur "spontan" entstehen - durch die individuellen Entscheidungen einzelner Konsumenten und Produzenten, die ungehemmt ihren eigenen Interessen nachgehen.5 Diese Selbstorganisation sollte Kellys Ansicht nach frei von Regulierung wirken können. Der Untergang der SU war dem Wahlkalifornier Beweis genug, dass jeder Versuch einer Gemeinschaft, die ökonomische Entwicklung zentral zu planen oder zu regulieren, von Natur aus zum Scheitern verdammt wäre.6

Im Gegensatz zu den paläoliberalen Klassikern führte der Markt in Kellys Theorie aber nicht mehr zu einem Gleichgewicht – und sollte das auch gar nicht: Mit Lao-tse empfahl er eine demütige, religiöse Ergebenheit in die Nicht-Kontrolle als die beste Kontrolle.7 Einzelne Menschen konnten ihm zufolge nämlich – da sie einer niedrigeren Ordnung angehören – höhere Ordnungen ebenso wenig kontrollieren wie einzelne Bienen den Schwarm kontrollieren können.8