Gefangene IS-Kämpfer: Kurden kündigen baldige Gerichtsverfahren an
Schon im Frühjahr sollen sie in Nordostsyrien beginnen, egal ob deutsche oder andere Regierungen mitmachen. Ein international unterstütztes Tribunal wäre der kurdischen Selbstverwaltung aber am liebsten
Das Problem der IS-Gefangenen im Nordosten Syriens ist nicht verschwunden, auch wenn sie erstmal aus den Schlagzeilen sind. Bekanntlich finden sich darunter eine Menge IS-Kämpfer und -Anhänger mit europäischen Staatsbürgerschaften. Aber die europäischen Länder wie auch Deutschland sind nicht erpicht darauf, dass sie ihre Staatsbürger, die sich dem IS angeschlossen haben, und deren Kinder umstandslos zurückholen. Sie lassen sich Zeit, entscheiden von Fall zu Fall.
Die kurdische Selbstverwaltung in der Region hat sich nun dazu entschlossen, dass sie ausländische IS-Kämpfer ab Frühling dieses Jahres selbst vor Gericht stellen will - egal, ob die Regierungen der Staaten, denen die IS-Kämpfer angehören, an diesem Verfahren teilnehmen. Das kündigte der Ko-Vorsitzende der für auswärtige Angelegenheiten zuständigen Kommission der Selbstverwaltung, Abdulkarim Omar aktuell laut einer Meldung des Rojava Information Centers (RIC) an.
183 plus mögliche 40 deutsche Fälle
Lieber wäre der Selbstverwaltung freilich, wenn es internationale Unterstützung für ein Tribunal gebe. Wie die Hintergründe zu den Gerichtsverfahren aussehen, wird in einem 46-seitigen Dokument des RIC erklärt.
Dem ist für den Fall Deutschland zu entnehmen, dass sich 66 Männer und 117 Kinder mit deutscher Staatsangehörigkeit in Gewahrsam unter Kontrolle der kurdischen Selbstverwaltung gehalten werden. Präzisiert wird, dass unter den 66 Männern 40 unter Verdacht stehen, dass sie in "Verbrechen gegen die Menschheit" verwickelt waren. Bei den Kindern wird angefügt, dass man über die erwähnte 117 hinaus 21 zählt, die eine "Verbindung mit Deutschland" haben, aber keine deutsche Staatsangehörigkeit.
Verwunderlich ist, dass keine Frau mit deutscher Staatsbürgerschaft in dieser Aufzählung auftaucht. Die Liste sei nicht vollständig, heißt es in den Vorbemerkungen zur Übersicht. Die Zahlen sind schwer zu ermitteln; eine klare Übersicht etwa im Lager al-Hol, wo allein in der Abteilung namens "Annex", die für Nicht-Syrer und Nicht-Iraker vorgesehen ist, 11.200 Frauen und Kinder leben, ist wohl nicht zu haben.
Die Ermittlungen im Lager sind nicht einfach. Der Zutritt für Aufsichtspersonal und auch für Gäste ist deutlich riskanter geworden, fanatische IS-Frauengruppen zeigten mit brutaler Gewalt, dass das Lager in gewissen Bereichen nach ihren Gesetzen funktioniert. Die Wächter kontrollieren mit Abstand, um nicht zu viel zu riskieren. Checks, wie sie in al-Hol Anfang letzten Jahres noch der BND durchführte, dürften jetzt schwieriger geworden sein. Man nennt al-Hol einen "Mini-IS-Staat" mit Schläferzellen und vielen Rekruten für den IS.
Es sei aufwendig, die Eltern von Kindern zu ermitteln und die Staatsbürgerschaft zu klären, wir dies vonseiten deutscher Behörden schon vor Monaten erwähnt wurde. Auch die frühere Aufklärungsarbeit der BND-Mitarbeiter hat nicht dazu geführt, dass die Öffentlichkeit hierzulande ein klares Bild über die Anzahl deutscher Frauen und Kinder in den Lagern in Nordsyrien gewonnen hätte.
Rechtlich komfortable Zone für die Regierung
Undurchsichtig ist auch die rechtliche Lage wie auch die "IS-Rückkehrer"-Politik der Bundesregierung. De facto ist es so, dass die Bundesregierung auf Urteile deutscher Gerichte wartet, bis sie Maßnahmen zur Rückholung von Kindern oder Frauen einleitet. Sie entscheidet von Fall zu Fall und hat es sich in einer Grauzone eingerichtet.
Im genannten Bericht wird (auf Seite 25) eine Stellungnahme der deutschen Bundesanwaltschaft erwähnt, wonach Prozesse gegen IS-Rückkehrer "aus Personalmangel" nicht durchgeführt werden könnten. Dabei beruft sich der Bericht auf eine Nachrichtenagentur-Meldung vom 19. Februar 2019 im Liveticker des Münchner Merkurs, wo es heißt, "die Rückkehr einer zweistelligen Zahl in Syrien gefangener IS-Kämpfer würde die deutsche Justiz nach Einschätzung des Richterbunds an die Belastungsgrenze bringen" und: "Für den zuständigen Generalbundesanwalt sei das 'mit dem derzeitigen Personal kaum zu bewältigen'".
Das wird aus Sicht der kurdischen Verwaltung als Schaffung eines seltsamen Standards gesehen, da die Deutschen demnach ganz froh seien, dass ihre Staatsbürger ohne Gerichtsverfahren in Nordostsyrien festgehalten werden, und sie davor zurückscheuen, sie im eigenen Land vor Gericht zu stellen.
Dem kann man hinzufügen, dass die deutschen Vertreter wohl auch nicht ohne Weiteres einem internationalen Tribunal zustimmen werden, das der kurdische Selbstverwaltung am liebsten wäre. Denn Deutschland verhält sich sehr vorsichtig gegenüber jedem diplomatischen Schritt, der irgendwie dahingehend verstanden oder ausgelegt werden könnte, dass deutsche Vertreter die kurdische Selbstverwaltung als eine Art staatlicher Entität anerkennen.
Das gäbe Riesenärger mit Erdogan. Und eine Menge an weiteren Komplikationen, da man damit Baschar al-Assad völlig übergeht. Das macht die deutsche Regierung offiziell, außerhalb geheimdienstlicher Kontakte, zwar seit 2011. Aber ein internationales Tribunal auf syrischem Terrain, für das die syrische Regierung zuständig ist, die nicht gefragt wird, das ist ein Affront, der keine kleine Dimension hat.
Komplikationen
Die diplomatischen Komplikationen führten zu größtem Aufwand bei der Übergabe von deutschen IS-Angehörigen, die nach Deutschland zurückgeholt wurden, weil dies dann über Zwischenstationen erfolgen musste, um eben keine Handlung zu begehen, die auf eine Anerkennung eines kurdischen Staatsgebildes schließen lassen könnte - und das wurde laut Anwälten von deutschen Behördenvertretern auch als Hinderungsgrund für Repatriierungen angegeben.
In Wahrheit werden noch Gründe hinzukommen, die mit der Angst vor der öffentlichen Reaktion zu tun haben. Solche Rückholaktionen haben, vor allem wenn es um Männer geht, die zum Dschihad nach Syrien gefahren sind, wenig Rückhalt in der Bevölkerung. In Frankreich führen Nachrichten über Rückholaktionen regelmäßig zur Empörung. In Deutschland wird das nicht anders sein.
Die Ankündigung der kurdischen Selbstverwaltung, demnächst selbst Gericht über die gefangenen ausländischen IS-Kämpfer zu halten, kann inoffiziell möglicherweise auf Zustimmung stoßen, offiziell aber nicht, weil die Anerkennung der kurdischen Gerichte und derer Entscheidungen auf dasselbe Problem hinausläuft, mit dem die Rückholaktionen schon zu tun haben.
Zwar haben die EU-Regierungen kein prinzipielles Problem damit, dass Kurden von der SDF militärische Partner bei Kriegseinsätzen von Nato-Mitgliedsländern sind, was ja auch einer offiziellen Anerkennung gleichkommt, aber man hat sofort ein großes Problem mit dem Nato- und Geschäftspartner Türkei, wenn man der Selbstverwaltung der Kurden ("Terroristen", Erdogan) eine Anerkennung als gültige rechtsprechende Einheit zugesteht. Davor scheuen nicht nur die Deutschen zurück.
Zumal sich die Ablehnung des kurdischen Vorschlags leicht mit dem Verweis begründen lässt, dass die Vertreter der Niederlande ihrerseit seit einiger Zeit versuchen - mit gebremsten oder verhindertem Einsatz -, Bedingungen für die Einrichtung eines internationalen Tribunals im Irak herzustellen. Das dauert aber aus verschiedenen Gründen und in der augenblicklichen Situation im Irak ist daran gar nicht zu denken - so können die EU-Länder weiter in ihrer komfortablen "Abwarten"-Position bleiben.
Für die kurdische Selbstverwaltung im Nordosten Syriens ist die Situation dagegen ganz und gar nicht komfortabel. Sie hat allen Grund Tempo und Druck in der Sache zu machen. Die Versorgung der gefangenen IS-Kämpfer und -Anhänger in den Lagern ist teuer und wird schwieriger, da Grenzübergänge für Hilfsmittellieferungen geschlossen wurden. Dazu kommt, dass sich die Situation in den Lagern seit Monaten aufheizt, sie sind Zentren von Unruhen, gefährlich für die Aufsicht, und eine Basis für den IS, der dort rekrutiert.
Dass nun immer mehr Flüchtlingen aus Idlib, darunter aller Wahrscheinlichkeit nach auch Familienmitglieder von Dschihadisten, in die Region der kurdischen Selbstverwaltung flüchten, lädt die Situation zusätzlich auf.
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