Gelbwesten: Unterstützung von 69 Prozent der Franzosen
Die Proteste begehen am Wochenende ihren "Jahrestag". Macron konnte mit rigiden Methoden die Luft aus den Demonstrationen nehmen, aber die politische Sache der Bewegung bleibt lebendig
Vor einem Jahr begannen die Gelbwesten-Proteste (Straßenblockaden in Frankreich: "Ich denke mit meiner EC-Karte"). Kaum jemand hat vorausgesehen, dass sich daraus ein Phänomen entwickelte, das mittlerweile global bekannt ist und für eine Form einer neueren Opposition steht, mit der sich die alte Welt schwertut.
Die Bühne für das Aufkommen einer neuen Opposition war frei, als Macron im Frühjahr 2017 mit deutlichen Mehrheiten der abgegebenen Stimmen die Präsidentschaftswahl und seine Bewegung die Parlamentswahlen gewann. Der "Jupiterpräsident" schaffte es, die parlamentarische Opposition zu Nebendarstellern zu machen. Sehr schnell waren sich Beobachter wie auch die Polizei in Voraussagen einig, dass sich die Opposition auf die Straße verlegen würde (Frankreich: Polizei fürchtet gewalttätige Demonstrationen).
Doch geschah zunächst nichts, die Gewerkschaften und die oppositionellen Kundgebungen waren gezähmt, so schien es. "Um Macron zum Zuhören zu bringen, muss man lauter klopfen", hieß es Ende Mai 2018 (Frankreich: Opposition auf der Straße nicht laut genug).
Macron regierte unangefochten im Elysée-Palast und würde, anders als erwartet, wohl kaum auf großen Widerstand für seine Reformpläne stoßen, hieß das ernüchterte zwischenzeitliche Fazit - bis die Gelbwesten-Proteste kamen.
Der Schock darüber sitzt tief. Auch wenn die Samstags-Demonstrationen der gilets jaunes längst nicht mehr die Zugkraft haben wie im vergangenen Winter (mit einigen Höhepunkten auch im Frühjahr 2019), so warnte der Präsident in Gesprächen wiederholt davor, dass die Sache noch nicht beendet ist.
Acte 53
Mittlerweile sind die Gelbwesten-Proteste bei "Acte 53" angekommen. Für das Wochenende erwarten sie aufgrund des Datums wieder eine größere Mobilisierung, über 200 Veranstaltungen sind angemeldet. Die Medien sind voll mit Bilanzen und Kommentaren zu "einem Jahr Gelbwesten-Proteste".
Was Macron ahnt und in vielen Berichten beschrieben wird, ist, dass die Unterstützung für die Demonstrationen auf der Straße zwar merklich nachgelassen hat, aber nicht für die politische Sache der Gelbwesten. Mehr als zwei Drittel, 69 Prozent, der befragten Franzosen gaben in einer aktuellen Umfrage an, dass sie die Bewegung der gilets jaunes für berechtigt ("justifié") halten.
Im November 2018 lag die Unterstützung bei der Umfrage von Odoxa-Dentsu zwar mit 74 Prozent um 5 Prozentpunkte höher, aber es ist nicht zu übersehen, dass das deutliche Schwinden der Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen nicht gleichzusetzen ist mit einem deutlichen Rückgang der Unterstützung in der Meinung der Bevölkerung.
Zu denken geben muss der politischen Führung in Paris auch, dass fast zwei Drittel der Befragten (64%) der Auffassung sind, dass Macron der Bewegung nicht genügend Rechnung getragen hat und 58 Prozent die Bewegung als eine "eher gute Sache" einschätzen, unter den Schichten, die man in Frankreich als "populaires" bezeichnet, sind es sogar 68 Prozent.
Rigides Vorgehen
Vor einer Woche veröffentlichte Le Monde Zahlen des Innenministeriums, die einen Hinweis darauf geben, mit welcher Rigidität die Regierung gegen die Proteste auf der Straße vorging (dabei geht es nicht einmal um die auffallend exzessive Polizeigewalt, die 2.448 Demonstranten und Passanten verletzt und dabei zu Verletzungen geführt hat, die beispiellos sind, wie Ärzte äußern).
Die Bilanz des Innenministeriums umfasst den Zeitraum von November 2018 bis Ende Juni 2019 und sie zählt, um ein paar eklatante Größen herauszunehmen: 10.000 Fälle von Personen, die in ganz Frankreich in Zusammenhang mit den Gelbwesten-Demonstrationen in Polizeigewahrsam genommen wurden und 3.100 Personen, die gerichtlich verurteilt wurden. 400 Freiheitsstrafen ohne Bewährung wurden mit unmittelbarer Wirkung ausgesprochen und 600 (ebenfalls ohne Bewährung) mit der Möglichkeit, die Zeit mitzubestimmen. 1.240 Freiheitsstrafen wurden zur Bewährung ausgesetzt und 920 Strafen boten Alternativen zur Inhaftierung in Gefängnissen an.
Mit "Pas de laxisme" (Keine Laxheit) überschreibt der Artikel ein paar Ausführungen zu den Zahlen, die anzeigen, welche Haltung der Regierung dahintersteckt. Zum Beispiel, dass sich aus 3.166 Fällen von Personen, die in Paris in Polizeigewahrsam kamen (von November 2018 bis Ende September 2019, nach Auskunft der Staatsanwaltschaft), zeigte, dass sich bei etwa der Hälfte der Fälle (1.459) keine weiteren Ermittlungen oder strafrechtliche Folgen ergaben.
Für die Zeitung liegt der Schluss nahe, dass diese Personen aller Wahrscheinlichkeit nach präventiv in Gewahrsam genommen wurden. Das ist eine Praxis, die schon die Vorgängerregierung unter Hollande in großem Stil mit Bezug auf die Regelungen des Ausnahmezustands anwendete, um Demonstrationen gegen die Reform des Arbeitsrechts (der damals zuständige Minister hieß Macron) zu schwächen (Der Ausnahmezustand als Mittel gegen unerwünschte Demonstrationen).
Wie kürzlich auch der Fall der verhafteten Nürnberger anlässlich des G7-Gipfels vor Augen führte, gehen weder die Sicherheitskräfte noch die Gerichte zimperlich vor, wenn sie "präventiv" denken (Französische Justiz-Farce gegen junge Nürnberger im dritten Akt).