Gelegenheit zur Einschränkung einer Unsitte?

Die EU will öffentlich-rechtliche Sender zur Untertitelung aller Programme bewegen

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Es war das klassische Beispiel einer Stille-Post-Ente, bei der eine Meldung nur ein klein wenig übertrieben, aber gleich viel aufmerksamkeitserzeugender wurde: Das EU-Parlament sollte, so gestern mehrere deutsche Medien, am Mittwoch beschlossen haben, dass im öffentlich-rechtlichen Fernsehen keine Synchronfassungen mehr gezeigt werden dürften. Laut Spiegel Online sollte selbst George Bush in der Tagesschau nur mehr in seiner Muttersprache zu Wort kommen dürfen.

Mit der von der polnischen Sozialdemokratin Lidia Geringer de Oedenberg ins Leben gerufenen "Schriftlichen Erklärung zur Untertitelung aller öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramme in der EU" sollen "die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender [...] verpflichtet werden, alle Programme zu untertiteln". Der deutsche Presseattaché des EU-Parlaments Jens Pottharst beteuerte nach Rückfragen, dass es ausschließlich um eine Untertitelung und nicht um ein Verbot von Synchronfassungen gehen würde.

In der Begründung verweist das Parlamentspapier vor allem auf angeblich 83 Millionen Hörgeschädigte in den EU-Ländern. Nur mit einer umfassenden Untertitelung der öffentlich-rechtlichen Programme könne die Europäische Union sicherstellen, "dass alle Bürger den gleichen Zugang zu Informationen, Bildung und Kulturgütern haben". Allerdings ist fraglich, wie viele von diesen tatsächlich auf Untertitel zurückgreifen und wie viele einfach den Fernseher lauter stellen und die Nachbarn ärgern – egal, ob Untertitel vorhanden sind oder nicht.

Die Verweise auf "derzeitige Technologien" und auf das Beispiel der BBC, die ab diesem Monat alle Fernsehprogramme mit optionalen Untertiteln versehen will, deutet darauf hin, dass offenbar an jene Varianten gedacht wird, die nicht fest ins Bild integriert sind. Technisch ist dies ohne weiteres möglich – unter anderem durch Videotext. In den USA gibt es bereits eine Verpflichtung zu solchen Hilfen, in Deutschland laufen sie bei vielen öffentlich-rechtlichen Sendungen auf den Videotext-Seiten 150 und 777.

Allerdings kommt es bezüglich der tatsächlichen Auswirkungen nicht auf die Erklärung des Parlaments an, sondern ob und wie die Kommission den Wunsch umsetzen wird. Weil die Parlamentserklärung in der Begründung behauptet, dass mit einer Untertitelung das Erlernen von Fremdsprachen "gefördert" werde, sind auch Umsetzungen denkbar, welche die Sender zu einer verstärkten Ausstrahlung in der Originalsprache drängen könnten.

Auch wenn solche Umsetzungen eher unwahrscheinlich sind, so wären sie möglicherweise doch nicht ganz ohne Vorteile: Die durchschnittlichen Englischkenntnisse sind in Untertitelländern wie Schweden und den Niederlanden wesentlich besser als in Synchronländern wie Deutschland oder Frankreich. In Bayern wurde vor einigen Tagen die Verringerung der Stundenzahl für die erste Fremdsprache an Gymnasien beschlossen. Mit einer Aufforderung, welche die Ausstrahlung bestimmter Filme und Serien in der Landessprache erzwingt, könnten die durch den Unterrichtsausfall entstehenden Einbußen möglicherweise mehr als wettgemacht werden – allerdings müsste solch eine Regelung eher die Privatsender als die öffentlich-rechtlichen betreffen.

Potentiell profitieren könnten von solch einer Änderung nicht nur jüngere, sondern auch anspruchsvolle ältere Zuschauer, denen durch die Synchronfassungen teilweise viel Inhalt verloren ging. Berüchtigt war in dieser Hinsicht vor allem der ehemalige Simpsons-Synchronchef Ivar Combrinck. Allerdings entschärften DVDs, eMule, BitTorrent und Videostreaming das Problem in den letzten Jahren erheblich: Wer South Park unbedingt auf Deutsch sehen will, der kann MTV einschalten - wer etwas sehen will, das deutlich mehr Witz enthält, der greift zum Original auf www.southparkstudios.com.

Allerdings ist es manchmal auch der Vergleich von Synchron- und Originalfassung, der bei einem Film zum Hauptvergnügen werden kann – denn im Laufe von fast 80 Jahren brachte die Filmgeschichte schon ganz bemerkenswerte Ergebnisse hervor, die man nicht anders denn als Kunstwerke werten kann: Klassisches Beispiel ist der Spielfilm Big Jim McLain, in dem John Wayne im Original für den HUAC Kommunisten jagt, in der Synchronfassung aber einen Marihuanaschmugglerring. In einer Szene dieses Films spricht er mit der Frau seines Herzens, die als Psychologin in der Klinik des Schurken arbeitet. Im Original sagt sie ihm, dass sie nachgedacht hat und er bestärkt sie, dass sie das auch sollte - als Psychologin. In der deutschen Fassung antwortet er dagegen wörtlich mit "das sollten Sie lieber lassen!" Dann erklärt die Psychologin in der englischsprachigen Fassung sehr freudianisch, warum ihr Chef wohl ein kommunistischer Agent geworden sein könnte. Der deutsche Synchronredakteur, dem dies möglicherweise unheimlich oder unverständlich vorkam, setzte stattdessen etwas ein, was er vielleicht von früher her kannte - und so vermutet die Psychologin in der 1953 entstandenen deutschen Fassung, dass ihr Chef vielleicht "erbkrank" sein könnte.