Gelten Grundrechte auch für Geimpfte nur auf Zeit?
Erste Aussagen aus der Impfkommission weisen auf begrenzte Wirksamkeit von Corona-Vakzinen hin. Auffrischung womöglich schon nach sechs Monaten
Nach einer Stellungnahme des Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, zur Wirkdauer der gängigen Corona-Impfungen könnte es bald auch Klarheit über die Gültigkeit der geplanten Immunitätsausweise geben. Nach Angaben des Virologen müssen sich die Bürgerinnen und Bürger wohl spätestens im kommenden Jahr erneut gegen das neuartige Coronavirus Sars-CoV-2 impfen lassen.
"Das Virus wird uns nicht wieder verlassen. Die aktuellen Corona-Impfungen werden deswegen nicht die letzten sein", zitieren die Zeitungen der Funke Mediengruppe den Stiko-Chef.
Die Einschätzung Mertens dürfte direkte Auswirkungen auch auf die Gültigkeit der geplanten Immunitätsausweise haben, mit denen vollständig Geimpfte ihre Grundrechte wieder zugestanden bekommen sollen. Bislang hält das Bundesgesundheitsministerium trotz anhaltender Kritik an der Einführung eines digitalen Impfausweises fest, dessen Inhabers bestimmte Grundrechte zurückerhalten sollen. Die letzte Impfverordnung schafft in dieser Hinsicht Fakten.
In dem Dokument können nach Angaben des Ministeriums zentrale Informationen wie Impfzeitpunkt und Impfstoff digital gespeichert werden; betreffen würde das auch die in der EU zugelassenen Corona-Impfungen. Während das Vorhaben eines solchen Immunitätsausweises vorangetrieben wird, versuchte das Gesundheitsressort unter Leitung von Jens Spahn (CDU) Aussagen zur Wirkdauer der Corona-Impfungen zu umschiffen.
Man gehe aktuell davon aus, dass ein digitaler Impfpass "zum Ende des zweiten Quartals 2021 bereitgestellt werden kann", heißt es in Fragen und Antworten des Ministeriums zum Thema. In dem Online-Interview vom 18. März haben sich die ministerialen Fachleute eine zentrale Frage aber nicht gestellt: Wie lange die zugelassenen Corona-Impfungen wirken und - in Konsequenz - wie lange ein Corona-Impfnachweis Gültigkeit haben wird.
Lässt der Impfschutz schon wieder nach?
Im Zeitungsinterview verwies Mertens nun darauf, dass Pharmaunternehmen bereits jetzt an modifizierten Vakzinen arbeiteten. So solle der Impfschutz auch gegen die unausweichlich auftretenden Varianten oder Mutationen des neuartigen Coronavirus schützen. Denkbar sei, so der Virologe weiter, dass der Impfschutz bei einzelnen Gruppen wieder nachlässt. Ursache dafür könnten bestimmte Vorerkrankungen sein oder auch die medikamentöse Einflussnahme auf die Immunabwehr. In manchen dieser Fälle, so Mertens, könnte eine kurzfristige dritte Impfdosis nötig sein.
Diese Einschätzung kommt zu einem Zeitpunkt, zu dem 36,5 Prozent der Deutschen teilweise und lediglich 10,9 Prozent vollständig geimpft worden sind. Für viele Bürgerinnen und Bürger wird der erste Impfzyklus damit voraussichtlich nahtlos in den zweiten übergehen, wollen sie weiterhin geschützt sein und ihre Freiheiten behalten.
Anfang Mai hatte das Bundeskabinett einer entsprechenden Impfverordnung zugestimmt. Demnach können vollständig Geimpfte oder von Covid-19 Genesene wieder mehr Freiheiten genießen. Bundestag und Bundesrat stimmten der Vorlage kurzfristig zu. Für Geimpfte und Genesene gelten demnach keine Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen mehr, sie werden rechtlich Bürgerinnen und Bürgern mit einem negativen Testergebnis gleichgestellt. Die Impfverordnung traf zunächst jedoch keine Aussage dazu, wie lange diese Vorteile gelten sollen.
Generell spielt die Datenrundlage in der öffentlichen Debatte über die Impfkampagne und den Impfschutz eine nur geringe Rolle. So ist bei den Aussagen des Stiko-Vorsitzenden Mertens unklar, auf welche Studienlage die Einschätzungen beruhen. Dies gilt auch für die Aussage des SPD-Gesundheitspolitikers Karl Lauterbach - ebenfalls gegenüber den Zeitungen der Funke Mediengruppe -, demzufolge der Impfschutz nur sechs Monate wirksam ist.
Erster Vorstoß von Spahn auf schwacher Datenbasis
Im März hatte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) seine Initiative für mehr Rechte für Geimpfte in der Corona-Pandemie offenbar ohne belastbare wissenschaftliche Daten ergriffen. Ein entsprechender Vorstoß, den Spahn damals in der Bild am Sonntag öffentlich gemacht hatte, basierte nach Recherchen von Telepolis offenbar lediglich auf einer Kurzinformation des Präsidenten des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, vom 31. März. Das Dokument führte keine belastbaren Daten oder gar neuen Erkenntnisse an. Wieler stützte sich in erster Linie auf ein sogenanntes Preprint aus Israel – eine nicht gegengeprüfte Studie – zur Immunität des mRNA-Impfstoffs von Biontech und Pfizer.
Der Deutsche Ethikrat hatte Anfang Februar auf ein zentrales Problem hingewiesen, das auch zum jetzigen Zeitpunkt – Mitte Mai – noch nicht geklärt ist:
Der Maßstab für die Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von Geimpften gegenüber Ungeimpften ist von der Auswirkung der jeweiligen infektionsschutzrechtlichen Maßnahme abhängig. An die Rechtfertigung einer Differenzierung bzgl. Maßnahmen, die die Freiheitsrechte der Ungeimpften erheblich beeinträchtigen, sind hohe Anforderungen zu stellen. Dies gilt insbesondere solange, wie der Zugang zum Impfstoff reglementiert wird und nicht allen Impfwilligen zur Verfügung steht.
Ende April hatte die Vorsitzende des Ethikrats, Alena Buyx, dann zwar für die Vorbereitung von Lockerungen der Corona-Maßnahmen für vollständig Geimpfte plädiert. Buyx warnte zugleich aber vor einer "Schieflage". Diese trete ein, wenn Bürgerinnen und Bürger, die sich noch nicht impfen lassen konnten, einen "doppelten Nachteil" erlitten. Die hoffe daher, dass sich dieses Ungleichgewicht auf eine Übergangsphase beschränke.
Nach den neuesten Einschätzungen nun scheint die Lage noch komplizierter zu werden. Denn während einige Menschen ihre Dosis erhalten werden, könnten bei den Erstgeimpften der Schutz wieder verfallen. Die geltende Impfverordnung oder andere einschlägige Regelungen gehen auf diese Herausforderungen derzeit nicht ein.