Gemeinsame Sicherheit statt Nato-Erweiterung
- Gemeinsame Sicherheit statt Nato-Erweiterung
- Russland muss Osterweiterung Nato als latente Bedrohung ansehen
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Ende der 90er Jahre sah Ludger Volmer (Grüne) voraus, dass eine Nato-Ausdehung Russland in die Enge treibt und zu Konflikten führt. Seine Forderung nach gemeinsamer Sicherheit ist heute aktueller denn je.
Der vorliegende Text war ein internes Policy Paper für die Grünen, das Dr. Ludger Volmer als Bundestagsabgeordneter der Partei Bündnis 90/Die Grünen und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages im Februar 1997 verfasst hat. Das Papier ist bisher unveröffentlicht. Nach 25 Jahren macht der Text deutlich, dass die derzeitige "Zeitenwende" eine andere hätte sein könne – eine, die Sicherheit mit allen und für alle bedeutet hätte.
1. Das Ende des Ost-West-Konfliktes hat die Ost-West-Beziehungen auf eine neue Grundlage der Kooperation und Partnerschaft gestellt. Neben der westeuropäischen Integration ist es eine Schlüsselfrage für die gesamteuropäische Entwicklung, ob einstige Gegnerschaft in eine vertrauensvolle politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit gewendet werden kann.
Dies ist nicht nur entscheidend für die demokratischen und wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten der östlichen Nachbarn, die sich in schwierigen Transformationsprozessen befinden, sondern auch für die gesamteuropäische Stabilität. Der von den Regierungen aller beteiligten Staaten geäußerte Wille zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit bietet eine vielleicht einmalige Chance, den Bruch, der seit dem Kalten Krieg quer durch Europa ging, zu heilen. Dieser historische Moment erfordert von allen Seiten den Verzicht auf Maßnahmen, die einen neuen Riss nach sich ziehen.
2. Im Raum des ehemaligen West- und Ostblocks existiert eine Reihe von internationalen Organisationen zivilen und militärischen Charakters, die den Anspruch erheben, an einer europäischen Neuordnung mitzuwirken. Da sich das Primat der Politik gegenüber dem Militärischen auf internationaler Ebene noch nicht vollständig durchgesetzt hat, haben sie sich darauf verständigt, als verschränkte Organisationen zu kooperieren und dabei ihre jeweiligen Vorteile ergänzend zur Geltung zu bringen.
Demgegenüber aber ist festzustellen: Die OSZE, die aus dem KSZE-Prozess entstanden ist und sich als regionale Abmachung der Uno versteht, ist die einzige Organisation, die alle beteiligten Staaten umfasst und sowohl das euroatlantische Verhältnis, die westeuropäische Integration, die gesamteuropäische Perspektive und die asiatischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion einbezieht. Ihr muss daher eine besondere Bedeutung zukommen.
3. Um die beschriebene historische Chance nicht zu zerstören, darf die sicherheitspolitische Neuordnung und die Reform der einzelnen internationalen Organisationen nicht in einer Art erfolgen, die neue Brüche provoziert. Es liegt im vitalen Interesse der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Lage im Herzen Europas, dass die wichtigsten Neuordnungsprozesse im Konsens der betroffenen Staaten entwickelt werden. Dass das Prinzip der freien Bündniswahl weiter gilt und einzelnen Staaten keine Vetorechte eingeräumt werden können, darf nicht zum Vorwand mangelnder Verständigungsbereitschaft genommen werden.
4. Besonders die mittel- und osteuropäischen Staaten, die sich kulturell dem Westen zugehörig fühlen, wünschen eine in jeder Hinsicht gleichberechtigte Verzahnung mit der bisherigen westlichen Welt. Dieser Wunsch ist verständlich und muss bei einer europäischen Neuordnung so weit wie möglich berücksichtigt werden.
Eine besondere Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland den östlichen Nachbarn gegenüber entsteht daraus, dass Hitlerfaschismus und militärische Großmachtpolitik ihnen unermessliches Leid zugefügt haben. Erst in diesen Tagen findet der Prozess der Aussöhnung der Völker seinen formellen Abschluss. Der Wunsch nach einem nachbarschaftlichen Freundschaftsverhältnis vergleichbar dem zu Frankreich erfordert besonderes Engagement für die Interessen Polens und Tschechiens. Deshalb bedauert der Deutsche Bundestag, dass die westlichen Staaten dem 1990 von Polen vorgebrachten Vorschlag, die KSZE als System kollektiver Sicherheit für den euroatlantischen Raum einzusetzen, nicht gefolgt sind.
Aber auch Russland kann – ohne dass Abstriche bei der Verurteilung seiner diktatorischen Zeit gemacht werden –, wegen der deutschen Angriffe auf sein Territorium und des großen Leids seiner Bevölkerung eine besondere Sensibilität der Deutschen gegenüber seinen Kooperationsinteressen erwarten.
5. Jede Neuordnung im sicherheitspolitischen Bereich muss vermeiden, dass durch eine Verbesserung der Sicherheit für einzelne Länder die Sicherheit anderer verschlechtert wird. Dabei müssen bezogen auf alle Beteiligten dieselben Maßstäbe gelten. Wenn die westlichen Staaten von Mitgliedern des ehemaligen Warschauer Paktes verlangen, den offiziellen Verlautbarungen des Westens und seines Militärbündnisses Nato über die friedlichen Absichten Glauben zu schenken, muss umgekehrt der Westen den offiziellen Erklärungen der anderen Seite dasselbe Vertrauen schenken.
Wenn aber der Sicherheitsbedarf an den objektiven militärischen Potentialen oder an Mutmaßungen über heimliche Absichten gemessen werden soll, die einem Staat oder Bündnis gegenüberstehen, muss dem theoretischen Gegner dasselbe Kalkül zugebilligt werden. Dann aber besteht die große Gefahr, dass es im Sinne des klassischen Sicherheitsdilemmas zu sich erneut aufschaukelnden Rüstungsanstrengungen kommt.
Beim Fehlen der ökonomischen Grundlagen für Aufrüstungen wird zumindest ein neuer Vertrauens- und damit politischer Bruch in Europa entstehen. Das widerspräche dem vitalen Interesse unseres Landes. Insbesondere dann, wenn eine internationale Organisation neue Mitglieder aufnehmen möchte, darf dies nur umgesetzt werden, wenn ein sicherheitspolitischer Nachteil für andere ausgeschlossen werden kann.
6. Alle offiziellen Äußerungen der anderen beteiligten Staaten lassen erkennen, dass die Neuaufnahme von Mitgliedern in die EU keine sicherheitspolitischen Bedenken auslöst. Dasselbe gilt für den Europarat. Der OSZE gehören definitionsgemäß ohnehin alle Beteiligten an. Von daher ist es erste Aufgabe der Bundesregierung, Initiativen zu ergreifen bzw. bestehende Prozesse massiv zu unterstützen, die anderen Ländern die Mitgliedschaft in der EU ermöglichen und die Handlungsfähigkeit und Kompetenz der OSZE stärken.
Wirtschaftspolitische, politische und kulturelle Integration in die EU und eine gesteigerte Kompetenz für die OSZE bieten eine erhebliche Verbesserung der Sicherheitslage der betreffenden Staaten, ohne die Situation der anderen zu verschlechtern. Diese könnten sogar über Assoziationsabkommen stärker als bisher an die EU gekoppelt werden.