Genua - ein zweites Seattle?

Über 100.000 Globalisierungsgegner auf dem Weg zum G8-Gipfeltreffen, ein Sprengstoffattentat auf eine Polizeistation verschärft die angespannte Situation

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Es wird wieder aufgerüstet. Auf beiden Seiten. Hier die inhomogene Gruppe der Globalisierungsgegner. Dort die zum Schutz der Mächtigen verdonnerten Sicherheitskräfte. Die Demonstranten fühlen sich provoziert von Aus- beziehungsweise Einreiseverboten, von geschlossenen Bahnhöfen, verweigerten Unterkunftsmöglichkeiten und anderen Demobilisierungsversuchen. Die Nerven sind inzwischen bis zum Zerreisen gespannt. Die Kontrahenten decken sich gegenseitig mit Vorwürfen ein. War Göteborg nur ein harmloses Vorspiel zu Genua?

Foto vom 16. Juli

Am Montag wurde ein Polizist bei einem Sprengstoffattentat in einer Polizeistation in Genua schwer verletzt. Ein junger Mann hatte ein Kuvert mit dem explosiven Inhalt abgegeben. Die Fahndung läuft. Zehn Stunden später konnte die italienischen Polizei in Genua gerade noch rechtzeitig einen weiteren Sprengkörper entschärfen. Unter einem Fahrzeug fanden Mitarbeiter des Genua Sozial Forum (GSF) eine Brandbombe mit Zeitzünder, der fünf Minuten vor dem Losgehen ausgeschaltet werden konnte.

Während die Ermittler zunächst vermuteten, dass der Anschlag eine Aktion der radikalsten Front der Globalisierungsgegner sein könnte, die mit massiven Protesten den G-8-Gipfel (20. bis 22 Juli) zu boykottieren versuchen, scheint die Platzierung der zweiten Bombe eher der Vermutung zu entsprechen, die Luca Casarini, ein Führer der italienischen Anti-Globalisierungsbewegung, angesichts der Briefbombe geäußert hat. "Mit dieser Bombe versucht man mit antidemokratischen Terrormitteln eine Bewegung zum Schweigen zu bringen, die die Basis eines Imperiums unterminiert. Es ist egal, wer die Bombe ins Kuvert gelegt hat. Wir wissen, wer dies getan hat. Die italienischen und ausländischen Geheimdienste haben in diesem Land in den vergangenen Jahren schon oftmals reaktionäre Gruppen eingesetzt, um ihre Strategie gegen die Demokratie durchzusetzen", sagte Casarini offensichtlich in Anspielung auf eine Reihe von Attentaten in den 70er-Jahren, die zunächst der italienischen Linken in die Schuhe geschoben wurde, tatsächlich aber auf das Konto von radikalen rechten Splittergruppen gingen, wie sich später herausstellte.

Auch Vittorio Agnoletto, Chef des "Genoa Social Forums", einem Zusammenschluss von etwa 700 Gruppen gemäßigt geltender Globalisierungskritiker schlug ähnliche Töne an. Er bezeichnete die Explosion als "verwerfliche Provokationen gegen eine Massenbewegung". "Da man nicht in der Lage sei, mit einen konstruktiven Dialog über die Themen zu führen, die wir vorschlagen, versucht man ein Klima des Terrors zu nähren, um uns in eine Spirale der Gewalt zu drängen."

Massive Sicherheitsvorkehrungen

Tatsächlich scheint sich die Situation von einem Wirtschaftsgipfel zum anderen zuzuspitzen. Die Sicherheitsvorkehrungen in Salzburg (Salzburg rüstet für das Weltwirtschaftsforum auf) Anfang Juli. erschienen bereits maßlos übertrieben. So standen letztlich mehr als 4000 Sicherheitskräfte etwa 1000 zum WEF-Treffen angereisten Demonstranten gegenüber. Salzburg glich einer Geisterstadt. Lagen die scharfen Maßnahmen auch in der Angst vor Göteborger Zuständen begründet, so lässt sich doch eine Tendenz zu systematischen Demobilisierungsstrategien von Seiten der jeweiligen Regierungen und Sicherheitsverantwortlichen nicht von der Hand weisen. Genua liefert dafür das beste Beispiel.

Lange vor Göteborg wurde bereits das Sicherheitskonzept von der damaligen Mitte-Links-Regierung ausgearbeitet. Die neue Mannschaft unter der Führung Berlusconis übernahm es in den wesentlichsten Zügen. Jetzt gleicht Genua einer Festung. Ein Blick auf die Karte mit rot und gelb markierten Sperrzonen verdeutlicht die Strategie der Polizei. Ein mehrere Quadratkilometer großes Areal im historischen Zentrum, wo das G8-Treffen stattfindet, wurde zur roten Sperrzone erklärt. Den dort ansässigen 28.000 Italienern wurde nahegelegt, im Zeitraum zwischen dem 19. und dem 23. Juli auf Urlaub zu fahren. Wer dies nicht kann oder will, wird mit Sonderausweisen ausgestattet, die den Sicherheitsbehörden beim Betreten des Viertels vorgelegt werden müssen. Ähnliches hatten bereits die Anrainer Salzburgs zu erleiden und reagierten dementsprechend entnervt. "Für die Planer des Gipfels gibt es nur zwei Alternativen: Das Zentrum von Genua wird an einem heißen Wochenende im Juli entweder zur 'militarisierten Einöde' oder zum 'Schlachtfeld'", kommentierte der Freitag.

Alle den Globalisierungsgegnern für Demonstrationen und zur Nächtigung zur Verfügung gestellten Flächen befinden sich im Ostteil der Stadt. "Die Stadt scheint den Versuch zu starten, alle Gegenaktivitäten auf den Ostteil zu konzentrieren, also möglichst von der Roten Zone fernzuhalten, welche sich im Westteil und im Zentrum befindet", kritisiert die Anti-Globalisierungsbewegung). Teile der Demonstranten haben indes auch angekündigt, in die Rote Zone vordringen zu wollen.

Provokationen im Vorfeld?

Ob sie von den angeblich 10.500 Polizisten und 6.000 Militäreinheiten aufgehalten werden können, wird sich weisen. Die Demonstranten wären wahrscheinlich in der Roten Zone gegenüber schwerbewaffneten Sicherheitskräften im Vorteil, zumal die engen und verwinkelten Gässchen viele Rückzugsmöglichkeiten bieten, die Mobilität der Polizei jedoch einschränkt wird. Die Gipfel-Gegner werden sich aller Voraussicht nach einiges einfallen lassen, um in diesen kritischen Sektor vorzudringen.

Foto vom 16. Juli

Dieses zu erwartende Verhalten "gegen die Spielregeln" gründet allerdings nicht einzig in der "Streitlust" der Globalisierungsgegner, wie es gerne dargestellt wird. Vielmehr haben die Ereignisse im Vorfeld dieses Gipfels einiges zur aufgeladenen Stimmung beigetragen. Wie bereits in Salzburg wurden auch in Genua Demonstrationen erst in aller letzter Minute erlaubt. Das Schengen-Abkommen ist außer Kraft gesetzt, die Grenzen werden kontrolliert. Einreisende Globalisierungsgegner wurden beispielsweise an der Schweizer Grenze wieder zurückgeschickt In Deutschland verteilte das LKA Berlin Briefe zu Genua, wie auf dem Alternativkanal Indymedia berichtet wird. "Das Lka Berlin Berlin verteilt persönlich Briefe an Personen, die in den Vergangenheit als Teilnehmer gewalttätiger Veranstaltungen festgestellt wurden. In den Briefen steht, dass Mensch friedlich demonstrieren solle", heißt es in dem Posting der "Autonomen Kreuzberg". Ein weiterer Betroffener berichtet von einem verhängten Ausreiseverbot, gegen das er jetzt mit seinem Anwalt vorgehen würde. Diese Maßnahmen in Deutschland kann Schily angeblich aufgrund der Hooligan-Verordnung aus dem Jahre 1998 durchsetzen. Schily forcierte bei der jüngsten Sondersitzung der EU-Innenminister die Durchsetzung einer Art "Polit-Hooligan"-Regelung auf europäischer Ebene.

Schlecht bezahlte Polizisten gegen die Stimme der Armut

Durch solche Aktionen im Vorfeld fühlen sich die Globalisierungsgegner provoziert - der gerne beschworene "gewaltbereite Teil" der Demonstranten sieht sich dadurch vielleicht sogar bestätigt. Die Stimmung vor Genua ist jedenfalls extrem spannungsgeladen. Wie immer man dazu stehen mag, so ist eines sicher. In Genua werden Tausende, nicht eben üppig bezahlte Sicherheitskräfte zumindest hunderttausend Menschen gegenüberstehen, die sich als Stimme der Armut begreifen. Sollten sich die beiden Seiten Straßenschlachten liefern, so werden die Bilder der Gewalt wieder die eigentlichen Konfliktthemen aus den Medien verdrängen: Die Reform internationaler Finanzinstitute, Migration und schließlich die Ankündigung von George W. Bush am G8-Gipfel einen geplanten Beschluss zur Förderung von erneuerbaren Energien zu boykottieren.