Geschlechterverhältnis und Stellenwert von Care-Tätigkeiten in der Gesellschaft

Seite 2: Feministische Missverständnisse

Der Titel eines feministischen Buches (von Claudia Pinl) lautet: "Das faule Geschlecht. Wie Männer es schaffen, Frauen für sich arbeiten zu lassen." (Frankfurt M. 2000). Bei manchen Feministinnen ist das Bild eines Eisbergs beliebt. Die über dem Wasserspiegel befindliche Spitze verhalte sich so zur großen, für die Beobachter unsichtbaren Masse unterhalb des Wasserspiegels wie die bezahlte zur unbezahlten Arbeit.

Zeitbudgetuntersuchungen bestätigen solche Vorstellungen nicht. Männer und Frauen leisten eine durchschnittlich gleiche Zahl von (bezahlten plus unbezahlten) Arbeitsstunden. Frauen leisten im Durchschnitt mehr Haushalts- und Sorgearbeit, Männer mehr Erwerbsarbeit. Feministen heben häufig hervor, dass Männer in Familien weniger Hausarbeit und Care-Tätigkeiten übernehmen, übergehen aber gern das von Männern geleistete höhere Ausmaß an Erwerbsarbeit.

Einer Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vom Juni 2012 zufolge arbeiteten 2010 weibliche Erwerbstätige im Durchschnitt 30,6 Stunden und damit 9,5 Stunden weniger als ihre männlichen Kollegen. 1991 betrug die Differenz knapp sieben Stunden. 2015 lag die durchschnittliche Arbeitszeit von erwerbstätigen Frauen in Deutschland bei 30,1 Stunden, die von erwerbstätigen Männern bei 38,3 Stunden. 2016 waren 69,8 Prozent der Frauen und 77,8 Prozent der Männer erwerbstätig. 9,3 Prozent der Männer und 46,7 Prozent der Frauen arbeiten in Teilzeit (Eurostat 2019).

Althaber (2018) zufolge "arbeitet fast jede zweite erwerbstätige Frau in sozialversicherungspflichtiger Teilzeit oder geringfügiger Beschäftigung (46 Prozent), ein Großteil davon sind Mütter. Bei Männern sind es lediglich neun Prozent. […] Diese ausgeprägten Unterschiede in der Teilzeitbeschäftigung von Frauen und Männern haben sich in den letzten 30 Jahren kaum verändert. […] Das ist insofern erstaunlich, als in derselben Zeit andere Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern abgebaut wurden: Frauen und Männer haben heute vergleichbare Qualifikationen und damit ähnliche Startbedingungen für den Arbeitsmarkt".

Männer in Partnerschaften teilen ihr Einkommen mit dem der Frauen. Wer in einer Partnerschaft oder Ehe ein höheres Arbeitseinkommen nach Hause bringt, ermöglicht der jeweils anderen Person insofern einen höheren Lebensstandard. Frauen in Partnerschaften trugen 2013 ein gutes Drittel zum gemeinsamen Haushaltseinkommen bei (Frankfurter Rundschau 23.6.2017).

Dass im Durchschnitt immer noch Frauen mehr Haus- und Erziehungsarbeit in einer Paarbeziehung oder einer Familie leisten als Männer, heißt dann nicht, dass sie unbezahlte Arbeit leisten, wenn der Mann mehr Erwerbsarbeit leistet und aus dem damit erzielten Einkommen die Frau mit unterhält.

Die durchschnittlich sieben Jahre kürzere Lebenszeit von Männern in Deutschland bildet ein weiteres Moment, das bei der Frage nach den unterschiedlichen Lasten, die Frauen und Männer zu tragen haben, eine Rolle spielt. Die meisten Feministinnen klammern das aus. Viele fordern von ihnen Quoten. Bereiche wie den Straßenbau oder die Bauwirtschaft meinen sie damit nicht.

Die höheren gesundheitlichen Risiken, denen Männer unterliegen, sind zum großen Teil nicht selbstgemacht, sondern hängen mit längeren Arbeitszeiten in der Erwerbsarbeit, gefährlicheren Arbeitsaufgaben und höherem Arbeitsstress zusammen (vgl. Brandes 2002, S. 227f.).

In den USA hat sich der weibliche Vorsprung (an Lebenserwartung - Verf.) seit dem Jahr 1900 vervierfacht: von damals zwei auf heute rund acht Jahre. In Deutschland ist er nicht ganz so stark gewachsen, aber immer noch von knapp drei Jahren zum Zeitpunkt der Reichsgründung 1871 auf gegenwärtig annähernd sieben. Die Kluft ist also großenteils das Werk des 20. Jahrhunderts und hat insofern eher gesellschaftliche als natürliche Ursachen.

Traub 1997, S. 23

Wer die Erziehungs- und Sorgetätigkeit ausschließlich als Domäne privater Dienste ansieht, klammert eine massive historische Veränderung aus. Die Proportion zwischen innerfamilialen bzw. privaten Diensten und öffentlichen Institutionen, die zur Erziehung und Gesundheit beitragen (öffentliche Kinderbetreuung, Schule, Gesundheitswesen), hat sich zugunsten letzterer verschoben. Zudem unterscheiden sich Ideologie ("ein guter Partner macht alles wieder heil und bewahrt vor allen Unbilden der Welt") und Realität ums Ganze.

Die nicht (oder in geringerem Umfang) erwerbstätige Person A, die die erwerbstätige Person B unterstützt und ihr manches "an der Heimatfront" bzw. im Privaten vom Halse hält, tut einiges dafür, dass B es leichter hat in der Arbeit. Dem Verschleiß der Arbeitskraft und den Schädigungen des Individuums B durch die Erwerbsarbeit kann A aber nur in engen Grenzen entgegenwirken.

Die Perspektive

Eine Aufgabe der Gesellschaft des guten Lebens besteht darin, den nachgeordneten Stellenwert von Care-Tätigkeiten zu überwinden. Hinzu kommen Maßnahmen, um die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Care-Arbeit so zu ermöglichen, dass es nicht zur überfordernden Mehrfachbelastung kommt. Zu dem, was für die Kapitalverwertung nicht zählt, gehört das Interesse von Frauen, Erwerbsarbeit und Mutterschaft auf eine Weise zu verbinden, die sie gegenüber den Männern nicht schlechter stellt. Geschädigt wird auch das Interesse von Männern an einer Erwerbsarbeit, die einen intensiven Umgang mit Kindern nicht behindert.

Väter sind in der Rolle des Haupternährers der Familie infolge langer Arbeits- und Wegezeiten den größten Teil der wachen Zeit ihrer Kinder abwesend. Man kann den Vater "mit Recht lieblos und desinteressiert finden; in seiner eigenen Geschichte erscheint er hingegen als ein Mann, der um seine Liebe betrogen worden ist." Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf stellt nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer ein Problem dar.

"Mütter sind in der Gefahr, die Verankerung im Berufsleben zu verlieren. Väter sind in der Gefahr, die Verankerung in ihrem eigenen Privatleben zu verlieren" (Gesterkamp, Schnack 1998, 107). "Die wenigsten Männer trauen sich zuzugeben, dass die alltägliche Erziehungskompetenz weitgehend in den Händen ihrer Frau liegt. […] Sie […] wissen nicht, welche Konflikte in der Schulklasse ihres Kindes bestehen. Sie kennen sich einfach zu wenig aus, um qualifiziert mitsprechen zu können" (Ebd., 108).

Praktisch erforderliche Schritte sind:

  • eine Arbeitszeitverkürzung, die es den Arbeitenden erlaubt, neben der Erwerbsarbeit sich um Kinder sowie kranke und alte Verwandte und Freunde zu kümmern,
  • mehr Mittel für Kindertagesstätten, Horte und Ganztagesschulen,
  • die Gestaltung von Erwerbsarbeit nach Maßgabe ihrer Vereinbarkeit mit den Wechselfällen des Zusammenlebens mit Kindern und Senioren. Das erfordert einen weniger knappen Stellenschlüssel bzw. eine großzügigere Vertretungsreserve,
  • eine Gestaltung der Erwerbsarbeit, in der die diskontinuierliche Teilnahme an ihr nicht auf Stellen mit weniger Arbeitseinkommen verweist.
  • eine Überwindung jener Erwerbsarbeit, in der aus jungen Arbeitskräften besonders viel herausgeholt wird. Sie unterliegen hohen Leistungsanforderungen gerade dann, wenn sie am dringendsten Zeit bräuchten für das Zusammensein mit Kindern,
  • eine gesellschaftliche Kompensation der mit Kindern verbundenen Ausgabensteigerung, sodass sie nicht mit Überstunden und Nebenjobs auf eine Weise aufgefangen werden muss, die die "Erwerbsperson" der Familie zusätzlich entfremdet.

Wer einen höheren Stellenwert von Care-Tätigkeiten in der gesellschaftlichen Prioritätenhierarchie will, muss die modernen Maßstäbe von Effizienz und instrumenteller Rationalität in ein sie übergreifendes Paradigma des guten Lebens einordnen (vgl. Creydt 2017, 2019) und die Imperative der kapitalistischen Ökonomie überwinden. Um die beschriebenen Maßnahmen durchzusetzen, dafür "braucht es keine Nachweise, dass da irgendwas an sich wertproduktiv ist, durch gesellschaftliche und individuelle Notwendigkeiten und Bedürfnisse ist es genügend legitimiert" (Klaus Braunwarth).

Manche Feministinnen wollen die Nachteile, die Frauen infolge der kapitalistischen Marktwirtschaft erleiden, dadurch aus der Welt schaffen, dass sie allen von ihnen geleisteten Diensten ein Preisschild anheften. Das ist ungefähr so sinnvoll wie der Vorschlag, die Schädigung ökologisch für die Menschen gedeihlicher Lebensbedingungen dadurch zurückzudrängen, dass nun auch in der Natur alles wie eine Ware behandelt wird. Von diesen Ideen unterscheidet sich die Frage, was dafür erforderlich ist, eine Wirtschaft zu überwinden, die nur funktioniert mit der Trennung zwischen der Mehrwertproduktion und ihren selbst unprofitablen Bedingungen sowie mit der gesellschaftlichen Rangfolge, in der die Kapitalverwertung an erster Stelle steht.

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