Getreideabkommen im Ukraine-Krieg: Der Dreh mit Drohungen aus Moskau
Mediensplitter (33): Ist selbst eine Verhandlungslösung über kommerzielle Interessen zu schwierig für die plakative Berichterstattung? Wie Medien aufdrehen. Framing ist alles.
Der Aufkündigung des Getreideabkommens durch Russland folgen Nachrichten, die das Bild Russlands als Aggressor bestärken:
Russland, das am vergangenen Montag trotz großer Kritik ein international vermitteltes Getreideabkommen mit der Ukraine auslaufen ließ, hatte in den vergangenen Nächten gezielt die Hafenregion Odessa bombardiert.
Durch den Beschuss wurden dort ukrainischen Angaben zufolge zuletzt rund 60.000 Tonnen Getreide vernichtet. Selenskyj sprach vom "womöglich größten Versuch Russlands seit Beginn des groß angelegten Krieges, Odessa Schaden zuzufügen".
FAZ
Ukrainische Hafenstädte sind erneut unter Beschuss geraten. Russland hatte nach dem Ende des Getreideabkommens angekündigt, alle Schiffe mit Ziel Ukraine als mögliche Gegner zu betrachten. Die USA warnten auch vor Angriffen auf zivile Schiffe.
Tageschau
Nicht nur deutsche Publikationen stellen einen direkten Zusammenhang zwischen einer militärischen Eskalation Russlands und der Aufkündigung des Abkommens her, sondern auch große US-amerikanische Medien:
Odessa wurde in der dritten Nacht angegriffen, und in Mykolaiv kam es zu einer Explosion, nachdem Moskau einen Tag zuvor gewarnt hatte, dass Versuche, die Seeblockade zu umgehen, als Kriegshandlung gewertet würden.
New York Times
Man ahnt schon, die Verhältnisse sind kompliziert. Wie kompliziert sie sind, zeigt sich schon, wenn man die Aufkündigung des Getreideabkommens als kommerziellen Interessenkonflikt in den Blick nimmt, wie es in diesem Telepolis-Artikel unternommen wird.
Dort wird erklärt, dass die Agrarexporte für die ukrainische Wirtschaft von zentraler Bedeutung sind, weil sie 60 Prozent aller Exporte ausmachen. Die Route über die Donau würde bei Weitem nicht ausreichen, um den Ausfall durch die russische Seeblockade zu kompensieren.
Rückkehr zum Abkommen: Verhandlungssache?
Russlands Verhandlungsposition ist die Erfüllung von fünf Hauptforderungen, die darauf hinauslaufen, EU-Sanktionen gegen Russland, insbesondere den Düngemittelexport, aber auch Versicherungs- und Hafenzugangsbeschränkungen für russische Schiffe und Fracht, zu lockern.
Der Kreml halte die Türen für eine Rückkehr zum Abkommen offen, heißt es in dem Artikel von Bernd Müller. Kompliziert wird der Export von ukrainischem Weizen aber auch durch das Importverbot von ukrainischem Weizen, das Bulgarien, Ungarn, Polen, Rumänien und die Slowakei verlängert sehen wollen.
Also alles nur eine, wenn auch komplizierte, Verhandlungssache, was im Framing der genannten Medien gar nicht diskutiert wird?
"Ukraine-Weizen nicht so wichtig"?
Dazu lässt sich zum einen einmal anmerken, dass Framing auch in der sogenannten Gegenöffentlichkeit stattfindet, die sich als kritische Beobachter der westlichen Berichtserstattung positionieren.
Ein Exempel: Als scharfer, wenn auch recht einseitiger Blog, der in vielem grenzgängerisch agiert, hat sich Moon of Alabama in der "Gegenöffentlichkeit" einen Namen als Station gemacht, die den westlichen Medien sehr genau auf die Finger schaut, wenn es um Agenden geht. Allerdings nicht auf die eigenen, wie das Blog wieder einmal demonstriert.
Als Gegenposition zur verbreiteten Darstellung, wonach die russische Blockade der ukrainischen Getreideexporte zu weltweiten Nöten führt – etwa von der deutschen Außenministerin Baerbock: "Hunderttausende, um nicht zu sagen, Millionen von Menschen brauchen dringend das Getreide aus der Ukraine" – wird dort angeführt, dass die Ukraine die Bedeutung ihrer Exporte übertreibe, um ein Druckmittel zu haben.
Als Referenz dient MoA ein Artikel des britischen The Economist, also ein renommiertes westliches Medium. Zitiert wird von Moon of Alabama folgender Ausschnitt des Artikels:
Die weltweiten Weizenvorräte sind aufgrund der außergewöhnlich hohen Ausfuhren aus Australien und Russland und der wieder ansteigenden Verschiffungen aus Kanada nach den Dürreperioden des letzten Jahres hoch. Nach jahrelangem Rückgang könnten die weltweiten Bestände 2023 endlich wieder ansteigen. Bei Mais könnte das Defizit der Ukraine durch die erwarteten Rekordverkäufe aus Brasilien ausgeglichen werden, meint Alexis Ellender vom Datenunternehmen Kpler.
Eingerahmt wird der Ausschnitt so: Vor dem Zitat: "Es kommt mehr Weizen von anderen Erzeugern als aus der Ukraine auf die Märkte. Im nächsten Jahr könnten die Preise für Weizen und Mais auch ohne Getreide aus der Ukraine sogar sinken."
Und, nach dem Zitat: "Es geht also um viel Lärm um nichts. Global gesehen ist die Ukraine einfach überhaupt nicht wichtig."
Im Artikel des Economist steht aber auch noch anderes – und zwar schon in der Zeile unter der Überschrift: "Die längerfristigen Auswirkungen könnten immer noch katastrophal sein." Das wurde im Beitrag von MoA ausgelassen. Weil es zur eigenen, einfachen Linie nicht passt?
Längerfristig könnte die Rolle der Ukraine als wichtiger Nahrungsmittellieferant schwinden, was schändliche Folgen für den Hunger in der Welt hätte. Auf das Land entfallen normalerweise 10 % bzw. 10-15 Prozent der weltweiten Ausfuhren von Weizen und Mais.
Letztes Jahr konnte eine größere Nahrungsmittelkatastrophe dank der Wiederaufnahme der ukrainischen Exporte und der Rekordernten auf der ganzen Welt gerade noch abgewendet werden. Aber es könnte bald ein Jahr kommen, in dem keiner von beiden die Rettung bringt.
Economist
Nun könnte man das Interesse der Ukraine an Getreideexporten, das wirtschaftlich vital ist, wie dies ja auch die europäischen Staaten tun, die die Ukraine im Krieg gegen Russland unterstützen, vor allem unter wirtschaftlichen Aspekten behandeln. Und dazu Zahlen in die Diskussion bringen, die Anlass geben, ein genaueres Bild der Exporte zu untersuchen.
Das Risiko einer Eskalation
Auffallend ist aber, dass sich nicht nur die Berichte der großen Medien, sondern auch die sich anschließenden Diskussionen in Debattenforen wie etwa Twitter erneut nicht auf Verhandlungen mit Russland über das Abkommen konzentrieren.
Vielmehr bringt man dort die Möglichkeit eines internationalen Schutzes ukrainischer Schiffe neu ins Spiel. Das dürfte das Risiko einer weiteren Eskalation der Sache ins Kriegerische nicht unbedingt vermindern – besonders wenn sie so garniert wird: "Wenn uns die letzten 16 Monate etwas gezeigt haben, dann, dass Russland bei Druck und Drohung bislang immer eingelenkt hat."
Russland: Auch auf martialischem Kurs
Die Ausweitung ins Kriegerische ist allerdings keine einseitige Angelegenheit.
Das russische Verteidigungsministerium gab, wie es in den oben genannten Medienberichten schon angeführt wurde, gestern bekannt, dass man "ab dem 20. Juli 2023, 00.00 Uhr Moskauer Zeit, alle Schiffe, die in den Gewässern des Schwarzen Meeres ukrainische Häfen anlaufen, als potenzielle Träger militärischer Fracht betrachtet". Und "dementsprechend die Flaggenstaaten dieser Schiffe als in den ukrainischen Konflikt auf der Seite des Kiewer Regimes verwickelt betrachtet (werden)".
Die Übersetzung dieser Telegramm-Mitteilung des russischen Verteidigungsministeriums aus dem Russischen stammt von DeepL. Sollte es da zu gravierenden Fehlern der Übersetzung gekommen sein, mögen sich kundige Leser melden. Der Druck aus Moskau, der mit dem Einsatz militärischer Mittel droht, wird in diesem Wortlaut auch von französischen und US-amerikanischen Medien wiedergegeben.
Dass man dieser Mitteilung einen weiteren Dreh versetzen kann, demonstriert der französische Militärhistoriker Cedric Mas, ein engagierter Unterstützer der Ukraine, der immerhin die offizielle Mitteilung des russischen Ministeriums veröffentlicht, aber zugleich eine Auslegung, die den Inhalt verschärft:
Nach der Aufkündigung des Weizenabkommens und den (momentan täglichen) Raketen- und Drohnenangriffen auf den Hafen von Odessa kündigt Moskau an, ab dem 20. Juli jedes Schiff, das Weizen transportiert, als Ziel zu betrachten. Dabei spielt es keine Rolle, unter welcher Flagge es fährt.
Cedric Mas.
Das ist ganz auf der Linie, wie es die USA darstellen:
In seiner bisher deutlichsten Drohung kündigte das russische Militär an, es werde ab Donnerstagmorgen alle Schiffe, die ukrainische Gewässer anlaufen, als potenzielle Waffenträger und ihre Flaggenländer als Kriegsparteien auf ukrainischer Seite einstufen. Es erklärte Teile des Schwarzen Meeres für unsicher.
Washington bezeichnete dies als ein Signal, dass Moskau zivile Schiffe angreifen könnte, und sagte, dass Russland auch neue Minen in das Meer abgelassen habe.
"Wir glauben, dass dies ein koordinierter Versuch ist, Angriffe auf zivile Schiffe im Schwarzen Meer zu rechtfertigen und die Ukraine für diese Angriffe verantwortlich zu machen", sagte der Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates des Weißen Hauses, Adam Hodge.
Reuters
Wie wäre es mit koordinierten Verhandlungen?