Gewählte ohne Volk: Unsere Demokratie steckt in der Krise
Taktieren und Machtspiele bestimmen Profipolitik. Der Souverän zieht sich stetig weiter zurück. Doch eines der größten Probleme unserer Gesellschaft findet kaum Beachtung.
Drei fiktive Strategiegespräche in Berlin
Franziska Giffey sitzt nach den offiziellen Terminen abends mit ausgewählten Spindoktors in ihrem Büro. Die wenigen Stimmen Vorsprung gegenüber den Grünen lassen hoffen, dass ihre Amtszeit als Regierende Bürgermeisterin von Berlin nicht beendet wird, bevor es richtig begonnen hatte.
Wahlkampf, Verhandlungen, Einführung, Wahlkampf. Jetzt beratschlagt man wieder das Vorgehen bei den Sondierungen. Das unterschätzte Wahlchaos von 2021 war der Ausgangspunkt für die jetzige Niederlage, die selbst die geschulten Experten hier kaum schönzureden vermögen.
Aber Ablenkung funktioniert meistens und wenn Giffey weiterregieren kann, wird die verlorene Neuwahl schnell in Vergessenheit geraten. Doch was ist jetzt die richtige Strategie, der nächste taktische Zug?
Giffey selbst würde wohl auch mit der Union regieren, dann könnten sie zusammen den unbequemen Volksentscheid von 2021 "Deutsche Wohnen & Co enteignen" umgehen und die Linke insgesamt raushalten.
Allerdings wären die SPD nur noch Juniorpartner und die Bürgermeisterin würde ihren Posten verlieren. Als taktische Finte könnte man einbringen, dass die SPD auch über die Opposition nachdenke, um eine scheinbare Unabhängigkeit zu suggerieren. Und sonst?
Nicht weit davon entfernt sitzt zeitgleich Bettina Jarasch mit ihrer Beraterin und Analystin zusammen. Die versteht sich vor allem auf Zahlen und ist immer noch gewurmt davon, dass sie so knapp hinter der SPD liegen. Nur wenige Stimmen mehr und man könnte die eigentlich mäßige Wahl als riesigen Erfolg verkaufen.
Ist es so nicht fast egal, ob man mit SPD und Linke weitermacht, oder doch eine Koalition mit der Union eingeht? Mit SPD und Linken lässt es sich auch nicht einfach regieren und wenn Vorhaben nicht gelingen, wäre es, um vieles leichter auf die Union zu schieben.
So wie man das im Bund auch mit der FDP macht. Dies müsste aber der Basis beigebracht werden. Wären da nur nicht die "Kleinen", vor allem die Tierschutzpartei und Klimaliste. Locker hätte es für die Grünen reichen können. Wie kann man die nur wählen, warum haben die Menschen nicht taktisch gewählt?
Zwei Morgen später plant die Redaktion einer Berliner Zeitung ihre nächsten großen Themen. Auch hier kommt man noch mal auf die Wahl zurück. "Gibt es was Neues?", fragt der Chef vom Dienst: "Ach, das übliche, taktische, öffentliche Spielchen und dann laufen ja die Sondierungsgespräche. Zudem die Meldung, der SPD-Parteivorsitzende schließt eine Opposition nicht aus."
Müdes Lächeln in der Runde. Ok, müssen wir wohl bringen. Die ganze übliche Berichterstattung hat man bereits abgearbeitet Eine Redakteurin meldet sich: "Wir könnten doch mal was zu den Nichtwählenden bringen." Es kommt die erwartete Antwort, dass die sinkende Wahlbeteiligung doch mittlerweile auch ein alter Hut ist und die Nichtwähler ohnehin keinen interessieren. Abgeschmettert, dabei meinte sie ja eigentlich die Hintergründe und ein Blick auf die absoluten Zahlen ...
Gegen das Gewissen stimmen
Die drei Szenarien sind fiktiv, kommen der Realität aber wahrscheinlich sehr nah. Bei wie vielen solchen Gesprächen war ich dabei, auf unterschiedlichsten Ebenen.
Insgesamt geht es nicht nur nach und vor einer Wahl zunehmend vor allem um taktische und strategische Fragen. Wie können wir das verkaufen, wie gehen wir damit um, wie können wir diesen ausbremsen, wie kann man jenen ins Boot holen?
Strategie und Taktik sind ursprünglich militärische Begriffe und natürlich spielen sie eine Rolle, wenn es um Macht geht. Aber wir sollten in einer Demokratie nicht permanent als militärische Aktionen planen.
Doch Strategie und Taktik dürfen nicht alles dominieren. Inhalte, Positionen und das Gewissen müssen die Grundlage bleiben.
Mittlerweile geht es aber so weit, dass dann auch schon die Wählerinnen und Wähler beschimpft werden, die nach ihrem Gewissen abstimmen und nicht taktisch wählen. Das müssen nicht mal die Kandidierenden selbst tun, dies übernehmen ungefragt selbsternannte "Demokratiewächter" mit teilweise hoher Reichweite in den sozialen Medien und der Öffentlichkeit
Schon die harmlose Variante – "Wie kannst du deine Stimme verschenken?" – ist demokratisch betrachtet ein absurder Vorwurf. Wir haben ein Wahlrecht, nach dem jeder frei entscheiden kann, wen er wählt und wen er nicht wählt.
Wenn sich dabei jemand von den Inhalten oder seinen Gewissen und nicht von einer Taktik leiten lässt, dann ist es völlig respektabel. Es steht daher eher die Frage im Raum, wie viel Taktik und Strategie unsere Demokratie verträgt?
Wenn ich taktisch wähle, weil ich Angst habe, meine Stimme wäre "verschenkt", sollte ich dann nicht eher über das Wahlsystem nachdenken? Konkret in Berlin: Sollte ich mich da nicht fragen, warum der 2021 erfolgte Volksentscheid mit bald 60 Prozent der abgegebenen Stimmen nicht einmal ansatzweise umzusetzen versucht wurde, aber eine Partei mit 18,4 Prozent der abgegebenen Stimmen den Regierenden Bürgermeister stellen kann?
Fast zwei Drittel der Bevölkerung wird nicht repräsentiert
Bis auf wenigen Ausnahmen – wie Volksentscheide in einigen Bundesländern – beschränkt sich die eigentliche "Herrschaft des Volkes" auf Wahlen. Man nennt das Repräsentative Demokratie. Dann liegt die politische Macht allein bei den Parteien, deren Auserwählten uns alle repräsentieren sollen. Es ist schon eine besondere Form der Demokratie, die fast nie hinterfragt wird, obwohl es viele andere Modelle gibt und die Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerung größer sind.
Wenn man sich schon für diesen elitären Ansatz entscheidet, müsste man umso mehr darauf achten, dass die Parteien ihrem Auftrag der politischen Willensbildung, aber auch der kontrollierten Machtausübung gerecht werden.
Was sie meines Erachtens immer weniger tun und machen können, aber das ist noch ein anderes Thema. Darauf gehe ich ausgiebiger in meinem Buch und Podcast Lobbyland ein. Denn es muss sichergestellt werden, dass die Bevölkerung durch Wahlen auch wirklich repräsentiert wird.
Es ist deshalb eine unglaublich wichtige Frage, wie hoch die Wahlbeteiligung ist und warum immer mehr Menschen nicht mehr von diesem Recht Gebrauch machen. Funktioniert die Repräsentanz also noch?
Trotz aller Zahlen und Fakten, die in den Medien und in den Parteien hoch und runter besprochen werden, gibt es kaum eine nennenswerte öffentliche Auseinandersetzung dazu. Wer dies näher untersucht, kann erkennen, dass bis in die 1980er-Jahre und dann erneut nach der Vereinigung die Wahlbeteiligung aus allen Bevölkerungsgruppen recht hoch war.
Dann aber sackte sie insbesondere in den Wahlbezirken kontinuierlich ab, in denen vorrangig ärmere Menschen leben. Dazu herrscht in Medien und Politik ein dröhnendes Schweigen.
Auch die Zahlen und die Repräsentanz jetzt in Berlin könnte man sich mal anschauen. Niemand hat das gebracht und mal nachgerechnet. Übrigens ist es schon spannend, dass man in den Medien meist keine absoluten Zahlen, sondern nur Prozente und Mandate zu lesen bekommt, während die Wahlbeteiligung, wenn überhaupt, am Rande vermeldet wird. Die Ausgangslage dafür sind folgende Zahlen. Sie sind leicht gerundet, als Quelle diente vor allem die offizielle Seite www.wahlen-berlin.de.
Einwohner von Berlin: 3.680.000
Nicht wahlberechtigt: 1.250.000
Wahlberechtigte: 2.430.000
Wählende: 1.530.000
Nicht Wählende: 900.000
Wahlbeteiligung: 63 Prozent
CDU: 428.000
SPD: 279.000
Grüne: 279.000
Linke: 185.000
AfD: 138.000
Sonstige: 235.000 (inklusive ungültige Stimmen und FDP)
Von den Menschen, die in Berlin leben und mit den Entscheidungen der Politik leben müssen, sind schon mal etwa ein Drittel ohnehin von der Wahl ausgeschlossen. Allein diese Tatsache ist diskussionswürdig.
Von den gut 2,4 Millionen Wahlberechtigten haben dann nur 63 Prozent ihr Wahlrecht genutzt. Von den abgegebenen Stimmen schlagen sich weitere 230.000 nicht in Mandaten nieder. Das sind die Stimmen für die Parteien, die keine fünf Prozent erreicht haben, sowie wenige ungültige Wahlzettel.
Am Ende werden nur 1,3 Millionen der Menschen aus Berlin im Abgeordnetenhaus vertreten. Über 2,3 Millionen – also etwa 63 Prozent – werden also politisch nicht repräsentiert. Selbst der große Wahlsieger, die CDU, wurde nicht mal von jedem achten Menschen in Berlin gewählt. Und sollte Rot-Rot-Grün fortgesetzt werden, repräsentieren sie gerade mal gut 20 Prozent aller Einwohner.
Eine ausgewachsene, aber verschwiegene Krise
In einer Repräsentativen Demokratie die genannten Fakten zu ignorieren oder zu verschweigen, ist mehr als problematisch. Die vor allem taktischen Diskussionen, die jetzt nicht nur in den politischen Büros, sondern in der Öffentlichkeit geführt werden, sind dagegen geradezu absurd.
Und dies ist kein Berliner Spezifikum, auch wenn in der Bundeshauptstadt besonders viele Menschen nicht wahlberechtigt sind. Die Wahlbeteiligung geht bei vielen Wahlen überall in Deutschland mit Ausnahmen generell seit vielen Jahren zurück. Ich habe es auch für andere Wahlen, der Landtagswahlen in NRW und selbst der Bundestagswahl ähnlich feststellen können.
Alles konzentriert sich in unserer Demokratie auf Wahlen und das Ergebnis ist, dass so wenige Menschen der Bevölkerung letztlich repräsentiert werden. Und dann haben wir noch nicht davon gesprochen, dass die Parteien, die zur Wahl stehen, viel versprechen, aber immer weniger Substanz und Personal anzubieten haben.
Alle Parteien zusammengenommen, haben in den letzten 20 bis 25 Jahren die Hälfte ihrer Mitglieder verloren, die Übrigen sind zudem überwiegend nicht mehr aktiv. Nicht nur die Strukturen der Parteien sind überaltert.
Ausnahmen gibt es kaum und neue Parteien haben meist medial, aber auch, weil immer mehr taktisch wählen, ohne viel Geld keine Chance. In der Regierung unterwerfen sich die Gewählten einer Partei, dann dem Fraktionszwang und einem Koalitionsvertrag. Das Resultat: immer weniger Raum für Gestaltungsmöglichkeiten und Interaktion mit der Bevölkerung.
Real regieren dann nur wenige Personen im Spannungsverhältnis zwischen Parteitaktik und Profitlobby. Es eine Art zeitlich begrenzter, bürgerlicher Aristokratie.
Es ist also kein Wunder, dass es eine Repräsentationskrise gibt. Immer mehr Menschen werden sich von Politik und damit auch von der Demokratie an sich ab, die ja von der Beteiligung der Menschen lebt.
Hinzu kommt, dass ohnehin immer weniger Menschen die Zeit und die Nerven haben, sich einzumischen. Wer wenigstens wählen geht, stimmt oft für das kleinere Übel, um ein größeres Übel zu verhindern.
Das konnte man bei der Neuwahl in Berlin gut bei der angeblichen Zustimmung für die CDU erkennen. Analysen von Infratest dimap haben gezeigt, dass die Hälfte der Stimmen nicht aus Überzeugung für die Union, sondern aus Enttäuschung über die anderen Parteien stammen.
Die Demokratie braucht mehr als ein Update
So viel hat sich in den letzten Jahrzehnten verändert, technologisch und digital hat sich viel entwickelt. Zugleich schreiten die Gefährdung der Lebensgrundlagen und der Klimawandel rasant voran, weltpolitisch überschlagen sich die Ereignisse und der Einfluss einiger Global Player sowie Lobbyisten auf Staaten und die Politik hat sich massiv ausgeweitet.
Die Parteien versuchen aber mit weniger Personal Politik zu betreiben als vor 30 Jahren. Die Interaktion zwischen Profipolitik und Bevölkerung funktioniert immer weniger. Doch die einzige Systemreform, die in der deutschen Politik ernsthaft angegangen wird, besteht darin, den Bundestag vielleicht wieder etwas zu verkleinern.
Demokratie muss sich immer weiterentwickeln, es muss eine stetige Resonanz zwischen Regierenden und Bevölkerung geben – gerade in einer Repräsentativen Demokratie. Aber wir erleben eine marktkonforme Demokratie, die nach den Bedürfnissen einiger Großkonzerne und der Finanzwirtschaft ausgerichtet wird und wesentliche demokratische Errungenschaften entwertet.
Es bedarf mehr als eines Updates oder einiger Wahlreform. Vor allem müssen wir das Zuschauen, Ignorieren und Abwenden beenden. Kein Gedanke, kein Vorschlag darf abgestempelt werden: Das Wahlalter herabsetzen, die Fünfprozenthürde senken, Leihstimmen zulassen – all das sind sicher die kleineren Stellschrauben.
Weitergehend wäre, wenn bei einer Wahlbeteiligung unter 80 Prozent eben auch nicht alle Mandate besetzt werden dürften. Wie schnell sich die Parteien dann um die Nichtwählenden kümmern würden!
Endlich müsste man das Sponsoring und die Konzernspenden an die Parteien, die hohen Nebenverdienste und die Verquickung von Abgeordneten mit der Profitlobby unterbinden. Dafür müsste eine Aufwertung gerade kleiner Vereine, Initiativen und des Ehrenamts stattfinden.
Vieles liegt längst auf der Hand, nennen will ich aber vor allem noch den Gesellschafts- oder Bürger:innenrat – eine Ergänzung zu den Parlamenten. Menschen, die aus allen Schichten und Altersgruppen ausgelost werden und an einem Thema zeitlich begrenzt Vorschläge ausarbeiten.
Wichtig dabei ist, dass dieses dann als Antrag in den Parlamenten eins zu eins so zur Abstimmung gestellt werden, wobei dann die Abstimmung ohne Fraktionszwang erfolgen muss. Solch ein Rat könnte gerade zu den Regeln des Bundestags und zum Wahlrecht beginnen.
Ich habe insgesamt viele Vorschläge gerade zum Thema Lobbyismus und Transparenz unterbreitet, auch weil ich ja hautnah erlebt habe, wie die Politik in den Parlamenten funktioniert und immer mehr erleben musste, wie sich die Menschen abwenden oder die Orientierung verloren haben.
Doch in einer Demokratie gibt es nie den Königsweg, sondern immer nur einen Wettbewerb der Ideen. Aber genau diesen Wettbewerb lassen wir nicht zu. Dies müssen wir durchbrechen, der Wettbewerb muss moderiert werden und zu einem Ergebnis führen. Klar ist, dass dies nicht den Parlamenten und Parteien überlassen werden darf.
Meine feste Überzeugung ist es, dass wir die wirklichen Probleme und Herausforderungen nur bewältigen können, wenn wir endlich aufhören, immer weniger Demokratie zu wagen.
Menschen müssen mehr denn je nicht Objekt, sondern Subjekt wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse sein. Sie sollen mitwirken, beteiligt werden und mitbestimmen. So ähnlich äußerte dies einst auch Willy Brandt.
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